Worst-Case-Szenario
K en saß an dem aufgebockten Tisch, betastete ein Präsent durch das Geschenkpapier und schüttelte es dann neben dem rechten Ohr. Arthur stand bei ihm und hielt ihm eine Tüte auf, in die Ken ausgewählte Geschenke steckte. Anton saß zusammengesunken in einer Ecke und sah sich sein Videomaterial an. Una blickte sich um. Ihre ehemaligen Verdächtigen waren auf dem Weg zur Party – sie hatten das Vertrauen in Una verloren. Sie hatte keine Unterstützung mehr.
Cassie war noch da, sie stand ein paar Schritte hinter ihr. Immer noch auf der Hut, zog Una den Kartoffelschäler hervor und umklammerte ihn mit der rechten Hand, während sie die Zusammenhänge zu begreifen versuchte. Sie musste Tims Nachricht über die Zahlen verarbeiten und war nicht dazu bereit, Ken aus den Augen zu lassen.
»Ken«, sagte sie, »lass uns zu den anderen reingehen. Es tut mir leid, was ich dadrinnen alles gesagt habe, ich werde mich bei allen entschuldigen.«
Ken schaute nicht auf. »Ich bin gleich da«, sagte er. »Ich schaue mir nur noch Cassies Pullover an.«
»Ich würde mich freuen, wenn mir jemand einen Pullover stricken würde«, meinte Arthur und beugte sich über den Tisch.
Una durchsuchte den Raum nach Dingen, die einen Unfall verursachen könnten. Was war das Worst-Case-Szenario in einer Garderobe mit drei Metern Durchmesser? Ein Feuerlöscher – der könnte explodieren. Die dicken gelben Bänder an den Vorhängen könnten sich irgendwie um jemandes Hals legen. Jemand könnte etwas durchs Fenster werfen. Die Metall-Garderobenständer standen auf Filzmatten, die eine Stolperfalle darstellten. Man konnte sich am Geschenkpapier schneiden, einer der Regenschirme könnte an der Spitze mit einem Stilett versehen sein. War die Klimaanlage an der Decke gut befestigt?
Anton blickte auf. »Geht es dir gut?«
Una nickte, fühlte sich aber alles andere als gut.
»Du hast etwas gesehen«, sagte Cassie, die neben ihr aufgetaucht war.
Una wich vor ihr zurück und stellte sich schützend zwischen sie und Ken.
Ken hielt den Pullover hoch. »Hier, das ist er! Sehr schön, Cassie! Ich muss ihn mal an mein Farbrad halten, dann kann ich ihn mit einer passenden Farbe neutralisieren, falls nötig.«
Cassie zeigte aufs Strickmuster. »Und schau nur, da ist die 22 drauf, du hast Glück.«
»Lass mal sehen.« Una ging zu Ken und stellte sich neben ihn, während er das rote Muster auf dem Pullover beäugte. Cassie schlenderte ihr nach.
»Pass auf, Ken!«, rief Arthur. Er packte Ken und wirbelte ihn herum. »Sie hat eine Stricknadel. Ich beschütze dich.«
Das war’s. Es war nicht länger nötig, das Worst-Case-Szenario zu ermitteln – Una stand schon mittendrin. Sie schloss die Augen, stürzte sich auf Ken und zog ihn an seiner bestickten Weste zu Boden. Ihre Schulter stieß gegen das Tischbein. Sie öffnete die Augen wieder. Es war Arthur, nicht Cassie, der mit der Nadel in der Hand zu Ken sah, zum Stich bereit.
Der Stoß gegen den Tisch hatte eines der Hochzeitsgeschenke erschüttert und setzte eine höchst unwahrscheinliche Abfolge in Gang. Dieses besondere Geschenk löste sich von seiner sorgfältig mit Klebeband umwickelten Verpackung und dem geringelten Goldband und kullerte über den Tisch. Es rollte auf die Kante zu, gewann an Schwung und stürzte dann in die Tiefe, direkt auf etwas Hartes. Ein Knacken ertönte.
Una drehte den Kopf. Er war noch dran, das war die gute Nachricht. Vor ihr entspann sich ein unerwartetes Szenario. Ein paar Sekunden lang war es still in dem kleinen Raum – doch wenn man ganz genau lauschte, war der leise rieselnde Schnee zu vernehmen, der sich Flocke um Flocke auf die Gebäude von Eastbourne legte: auf den Pier, den Musikpavillon, die weißen Stuckhotels.
Und neben der Schneekugel lag Arthur, bewusstlos, mit halb geöffnetem Mund.
»Was zum …« Ken rührte sich, er lag bäuchlings auf dem Boden, seine Tolle war ganz zerzaust.
»Die Schneekugel«, sagte Una. »Sie hat mich gerettet. Es war genau so, wie Cassie es vorausgesagt hat. Vielleicht hat sie wirklich eine Gabe.«
Cassie stützte sich am Tisch ab. »Die Stadt stürzt ein.«
»Una«, sagte Anton, der auf sie herabsah, »beweg dich nicht. Ich rufe einen Krankenwagen.«
»Mir geht’s gut, glaube ich.«
Seine blasse Gesichtsfarbe stand in leichtem Kontrast zu seiner lavendelfarbenen Weste.
»Du hast eine Kopfverletzung«, sagte er. »Fass deinen Kopf nicht an, lehn dich zurück. Tief durchatmen.«
Er wählte die Nummer und sprach panisch in sein Handy.
Ken setzte sich mit gläsernem Blick auf. »Was zum Teufel? Warum bist du so auf mich losgegangen, Una? Sieh dir meinen Anzug an, der ist voller Staub … und meine Weste – du hast einen bestickten Knopf abgerissen.«
Una antwortete ihm nicht. Sie war noch dabei, die Nachricht ihrer Kopfverletzung zu verdauen. Sie empfand keinen Schmerz, doch das konnte auch am Schock liegen.
Anton setzte sich neben Ken. »Entspann dich. Tief durchatmen.«
»Was ist mit Arthur?«, fragte Ken. »Lebt er noch?«
Una fühlte nach Arthurs Puls. »Er lebt.«
Ken beäugte Unas Haar. »Ist dir klar, dass du eine Stricknadel im Kopf stecken hast?«