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Zurück zum Friedhof

N ach Einbruch der Dämmerung war Una normalerweise nicht allein unterwegs, doch sie musste sich noch einer letzten Herausforderung stellen. Und so folgte sie der Wohnstraße, die vom Hotel zum Friedhof führte, und steuerte schließlich auf den Schuppen zu. Die Grabsteine schienen über sie hinauszuragen, während sie in gemächlichem Tempo zwischen ihnen hindurchschritt. Gelegentlich ertönte ein leises Knacken oder ein Vogelzwitschern, was sie nervös machte. Das war lächerlich; es wurde gerade erst dunkel, und hier war kein Mensch weit und breit. Außerdem war sie in Rufweite zur Hochzeitsgesellschaft und konnte das Getöse der Party hören.

Als sie den Schuppen erreichte, öffnete sie langsam die Tür und trat ein. Es war dunkel hier drin, und sie roch die Feuchtigkeit – wahrscheinlich gab es überall Krabbeltiere. Nach kurzem Stöbern fand sie ihr Handy und schaltete die Taschenlampenfunktion ein.

Eine Motte flog Una entgegen, als sie sich wieder ins Freie wagte, und sie schlug sie beiseite. Als sie vom Weg auf die Wiese trat, versanken ihre spitzen Absätze leicht in der feuchten Erde. Kens Blumen leuchteten orange im Dämmerlicht und lockten sie an. Keines der heutigen Ereignisse war so beängstigend gewesen, wie die zwanzig Meter zwischen dem Schuppen und dem Grab ihres Vaters zurückzulegen.

Der Grabstein war aus schwarzem Marmorimitat. Ken hatte ihn vor Kurzem gründlich gereinigt, und trotz des trüben Himmels glitzerte die Marmorierung im Stein. Sie betrachtete das Nachbargrab von Percy Cheever 1911 – 1982 . Sein Grabstein war von Flecken von Flechten übersät, und die runde Metallvase enthielt keine Blumen.

Sie schaute wieder auf den Grabstein ihres Dads. Robert McMurray, 1953 – 2022. Geliebter Ehemann und Vater . Name, Geburtsdatum und Verwandtschaftsverhältnisse. Es war schwierig, solche persönlichen Angaben mit den Daten abzugleichen, die sie für die Arbeit nutzte. Ein Grabstein bot zu wenig Platz, um jemanden zu beschreiben – man meißelte nur das Wichtigste ein.

Una hockte sich vors Grab und stierte auf den Kies, der es bedeckte. Sie wollte etwas Tiefsinniges sagen, doch ihr fielen nur abgenutzte Phrasen ein: »Ich hoffe, es geht dir gut«, »Pass auf dich auf«. Die Art von Sätzen, mit denen Leute flüchtig eine E-Mail unterschrieben. Was sie eigentlich sagen wollte, war: »Es tut mir leid, dass ich nicht mehr Zeit mit dir verbracht habe, als du krank warst, und dass ich dich erst jetzt besuche.« Sie konzentrierte sich auf diesen Gedanken und schaute auf, um sich inspirieren zu lassen. Sie sah in den Himmel, nicht direkt in die untergehende Sonne, und erschauerte, als wäre ein Schatten über sie hinweggezogen.

Moment, da war tatsächlich ein Schatten gewesen. Sie bekam Gänsehaut auf den Armen und hatte das Gefühl, jemand wandle über ihr Grab, einen Ort, an den sie nicht denken mochte. Vielleicht war das ein Vorzeichen auf ihr nahendes Ende.

Ganz in der Nähe knackte ein Zweig.

Una atmete tief ein. Jemand war hinter ihr. Und sie hatte nur ein paar Aloe-Vera-Tücher, getönten Lippenbalsam und ihr Handy dabei.

»Una.« Es war kein Ghul. Es war ihre Mum.

Una drehte sich um. Ihre Mum trug inzwischen das schwarze Kleid, das sie bei ihrem Junggesellinnenabschied angezogen hatte. Ihre Frisur war nicht mehr ganz so aufgetürmt wie vorhin, und ja, sie wurde gebrechlicher und älter, ihre Augen jedoch waren voller Leben.

»Ich hab dich gesucht«, sagte sie. »Ich habe dich schon eine ganze Weile nicht mehr im Festsaal gesehen, und Anton meinte, dass du irgendwo hier draußen sein könntest.«

»Ja. Ich habe mein Handy im Schuppen verloren, als ich … Ähm, ich hatte mein Handy im Schuppen verloren.«

»Ich wollte mich nur vergewissern, dass es dir gut geht, nach der Sache mit Arthur. Ist dein Kopf okay, keine Verletzung?«

»Dank Rosas Haarspraykünsten ist die Nadel nicht durchgekommen.«

»Aber du hast vielleicht einen Schock und solltest es ruhig angehen lassen. Wir können nach Hause fahren, wenn du willst.«

»Mir geht’s gut.«

»Wie du meinst. Das Video mit den Fotos hat mir übrigens sehr gefallen. Ich wusste, dass du und Anton etwas vorhabt, aber es war eine schöne Überraschung. Ken will den Film auf Facebook hochladen.«

»Es war eine ziemliche Herausforderung, ihn zusammenzustellen, aber wir haben es geschafft«, erwiderte Una. »Ich bin froh, dass die Hochzeit gut gelaufen ist. Ich gewöhne mich langsam an Ken.«

Ihre Mum legte ihr sanft die Hand auf den Rücken. »Danke, Liebes.«

In den letzten zwanzig Minuten hatte sich der Himmel verdunkelt. Gemeinsam schauten sie auf den Grabstein.

»Ich bin froh, dass du hier bist«, sagte Unas Mum. »Besonders heute.«

»Aber was soll ich jetzt tun, wo ich hier bin?«

»Du brauchst überhaupt nichts zu tun. Es reicht völlig, sich an die Leute zu erinnern, stimmt’s?«

Sie standen einige Minuten lang da.

»Es wird ein bisschen kühl, Una. Ich gehe wieder rein.«

»Ich komme mit.«

»Nach dem ganzen Trubel sind schon einige Leute gegangen, aber lass uns reingehen. Ich glaube, ein Brandy würde dir jetzt guttun.«

Ihre Mum hüllte sie beide in ihren zerknitterten Pashmina, während sie zum Hotel zurückgingen.