Ende der Lebensversicherung
E in neuer Tag, eine neue Kalkulationstabelle. Aber seit Una vor sechs Wochen die Mail von der internen Revision geöffnet hatte, war sie unterwegs gewesen. In Eastbourne. Sie hatte Angriffe mit einem Bleistift, einem gebrauchten Fußbad und einer Stricknadel überlebt. Sie hatte einen gefährlichen, aber langweiligen Mörder überführt. Und sie hatte den Zusammenhang zwischen den Zahlen aufgedeckt. Doch was hatte sie dabei gelernt? Sie wusste nun die relative Sicherheit an ihrem Arbeitsplatz zu schätzen. Sie wusste zu schätzen, wie still ihre Wasserflasche auf ihrem Schreibtisch stand und wie stabil die Bürodecke war.
Ihr Arbeitsumfeld erschien ihr gefahrloser, weil sie sich in brenzlige Situationen begeben und überlebt hatte, und das hatte sie verändert. Um ungefähr 5 Prozent, aufgerundet. Sie musste nicht länger nur auf bewährte Methoden zurückgreifen wie bisher; sie konnte sich an neue Situationen anpassen und lernen, anderen Menschen zu vertrauen. Sie konnte immer noch das Worst-Case-Szenario vorhersehen, versteifte sich aber nicht länger darauf, dass es auch eintreten würde.
Sie war bereit für Veränderungen. Sie hatte mehr verdient, als unter Tims Führung zu verwelken. Es war für sie an der Zeit, die Katapult Insurance zu verlassen und neue Wege zu beschreiten. Mutig zu sein. Fürs Erste könnte sie es in einer anderen Versicherungsgesellschaft versuchen, nur ein paar Türen weiter.
Sie schaute auf und sah, dass Ajay Zeit hatte. Auf dem Weg zu seinem Büro dachte sie kurz darüber nach, dass sie sich auf dem Nylonteppich statisch aufladen würde, schob jedoch ihre Bedenken beiseite.
»Auf ein Wort?«, fragte sie.
»Aber natürlich. Ich wollte dir ohnehin etwas mitteilen, also perfektes Timing.«
»Okay«, sagte sie. »Ich komme gleich zur Sache. Ich hab diese Woche über meine Rolle hier nachgedacht – und über die jüngsten Veränderungen im Team. Mir ist klar, es gab ein Problem mit meinen Zahlen für Eastbourne, aber ich habe jetzt einige zusätzliche Daten dazu. Vielleicht hast du schon in den Lokalnachrichten gelesen, dass ich einen älteren Mann vor einer Stricknadelattacke gerettet habe. Dabei gehört er nicht mal zu unseren Kunden.«
»Ich habe von deinem heldenhaften Einsatz gehört«, sagte Ajay. »Ich habe mich beim Management erkundigt, und das fällt definitiv unter den Unternehmensgrundsatz der sozialen Verantwortung, also gut gemacht.«
»Danke. Nach alledem glaube ich nicht, dass meine derzeitige Rolle für mich eine ausreichende Herausforderung darstellt.« Sie holte tief Luft. »Und da ich mir jetzt selbst bewiesen habe, dass ich zu mehr fähig bin, muss ich gehen und etwas anderes ausprobieren.«
Ajay nickte und studierte ihr Gesicht wie eine gut erstellte Pivot-Tabelle. »Zufälligerweise bin ich auf eine andere Aufgabe innerhalb unserer Firma aufmerksam geworden, die dir mehr Herausforderung bieten würde. Aber dazu müsstest du in ein anderes Team wechseln.«
»Was für ein Team? Und welche Funktion hätte ich da?«
»Du würdest eine Mitarbeiterin vertreten, die in Mutterschaftsurlaub geht. Es wäre nur befristet, ist aber eine höhere Position, und du würdest einen der Absolventen anleiten.«
Menschenführung. In der Vergangenheit hatte sie sich immer davor gesträubt, aber vielleicht hatte sie nach den Verhandlungsgesprächen in Eastbourne jetzt das Zeug dazu.
»Okay, das klingt interessant. Von welcher Abteilung sprichst du genau?« Sie drückte im Geiste die Daumen, auch wenn sie nicht abergläubisch war.
»Ich rede von einem expandierenden, aufregenden Bereich unserer Organisation …«, setzte Ajay an.
Versicherung für Weltraumtouristen? Versicherungen zum Schutz vor der Vernichtung durch Roboter? Meteoriteneinschlags-Versicherung?
»Haustiere.«
»Haustiere?«
Haustierversicherung.
»Die Leute geben immer mehr für ihre Haustiere aus«, erklärte Ajay.
Die Welt der Haustiere hatte Una nie sonderlich interessiert, doch ihre jüngsten Erfahrungen mit Pedro hatten ihr die Augen dafür geöffnet, welch potenzielle Gefahren und Intrigen dort lauerten.
»Ich kenne mich mit Haustierversicherungen nicht aus«, gestand sie.
»Da hast du’s«, sagte Ajay. »Das wäre für dich eine großartige Lernerfahrung. Du gewinnst Expertise auf einem ganz neuen Gebiet. Außerdem sammelst du wichtige Managementerfahrung. Ich glaube wirklich, dass das ein guter Karriereschritt für dich wäre.«
»Könnte ich etwas mehr über die Stelle erfahren?«
Ajay nickte. »Ich kann dir Marta vorstellen, die ab Ende nächsten Monats in den Mutterschutz geht. Und du könntest mit Gareth sprechen, dem Abteilungsleiter.«
Jedes Team pflegte seine eigene Kultur, und Una glaubte nicht, dass das Haustier-Team sie nach ihrem jüngsten Ausflug in den fünften Stock für eine gute Wahl hielte.
»Danke, ja, ich wüsste gerne genauer, was auf mich zukäme«, sagte sie. »Und natürlich müssen sie mich auch erst beurteilen.«
»Volle Transparenz.« Ajay nickte. »Gareth hat mich gefragt, ob ich geeignete Leute kenne, die eine Versetzung anstreben, und als ich deinen Namen fallen ließ, wollte er, dass ich dich umgehend über die Stelle informiere. Er meinte, du hättest im Auftrag eines Kollegen persönlich Spenden gesammelt, und das sei genau die Art von Teamgeist, die er sucht.«
»Und was ist mit dem Problem, das die interne Revision in meiner Prognose für die Küstenorte gefunden hat?«, fragte sie. »Ich möchte, dass meine neuen Erkenntnisse dokumentiert werden, damit mein Ruf wiederhergestellt ist.«
»Gutes Argument«, sagte Ajay. »Am Montag wird dein Modell noch einmal mit einem neuen Datensatz des laufenden Monats durchgerechnet. Ich meine, das war schon eine ziemlich ungewöhnliche Konstellation.«
»Ich weiß! Ihr habt all diese Entscheidungen zur Teamstruktur getroffen, und es ist nicht fair, wenn ich wegen eines Amoklaufs bestraft werde, den ein ehemals millionenschwerer Rentner verübt hat.«
»Sieh’s mal positiv. Deine Arbeit wird aktiv neu bewertet, und du hast ein Jobangebot. Ich hab jetzt einen Telefontermin. Hoffentlich klappt das mit dem Haustier-Team.«
Una kehrte an ihren Schreibtisch zurück und schrieb Gareth und Marta eine E-Mail, in der sie um ein Treffen bat. Nach allem, was sie in Eastbourne durchgemacht hatte, musste sie die Recherchen, mit denen alles begonnen hatte, vergessen und weitermachen.
Sie erhielt eine E-Mail von Gareth, in der er sie direkt nach der Arbeit zum Team-Minigolf einlud, das in einer Halle stattfinden würde. Das klang nicht nach Unas Ding, also antwortete sie nicht umgehend, sondern nahm sich die Zeit, eine höfliche Absage zu verfassen.
Tim kam an ihren Schreibtisch. Er trug einen schicken grauen Anzug.
»Ich hab gehört, du willst uns verlassen«, sagte er. »Das wäre ein großer Fehler. Wir sind ein so tolles Team. Sieh nur, wie ich den Eastbourne-Fall geknackt habe.«
Una biss die Zähne zusammen. »Ich schaue mir an, ob die Stelle bei der Tierversicherung was für mich ist. Ich spreche heute Nachmittag mit Marta darüber.«
»Es wäre viel besser für dich, wenn du hierbleibst. Die Kollegen bei der Haustierversicherung sind furchtbar. Die haben ständig Team-Veranstaltungen – Team-Korfball, Team-Bowling, Team-Donuts. Ich glaube nicht, dass es dir dort gefallen würde.«
»Ach ja? Ich gehe heute Abend mit Gareth und seinem Team zum Minigolf.«
Tims Laune fiel wie ein Fußbad von einem Bahnsteiggitter. Offensichtlich war Gareth für ihn noch immer ein sensibles Thema.
»Na gut«, sagte er. »Also, viel Glück dabei. Ich lasse dich mal weiterarbeiten.«
»Danke. Moment noch. Du hast mich noch gar nicht nach einer Wohltätigkeitsveranstaltung gefragt. Sicherlich hast du dieses Wochenende irgendein Event, das ich noch nicht gesponsert habe?«
»Ich mache eine Pause und gönne mir ein bisschen Tim-Zeit. Mein neuer Posten ist großartig, bringt aber längere Arbeitszeiten mit sich, daher musste ich meine Work-Life-Balance überdenken. Was ist mit dir, hast du schon Pläne fürs Wochenende?«
Una hatte am Dienstag mit Anton gesprochen. Er blieb in Eastbourne, bis Kens Hausverkauf abgeschlossen war, wollte aber am Wochenende nach London kommen, auf dem Sofa eines Freundes übernachten und nach einer WG suchen. Sie hatte ihm vorgeschlagen, gemeinsam ins Naturhistorische Museum zu gehen und einen Abstecher in den Coffee Shop zu machen. Eine sichere Wahl. Sofern keiner der Dinosaurier zum Leben erwachte. Und sie könnte im Souvenirladen ein Geschenk für Ela kaufen, das sie am folgenden Wochenende mit nach Leeds nehmen würde, wo sie mit Amara verabredet war.
»Sonntag geh ich ins Museum«, erwiderte sie, »mit einem Freund.«
Tim entglitten die Gesichtszüge. »Klingt gut. Ich sollte auch öfter mal ausgehen.«
»Komm doch mit.«
Seine Miene wurde noch länger. »Danke, aber ich hab dieses Wochenende schon strikt durchgeplant. Ich gehe jetzt besser zurück. Ich muss noch ein paar Einzelgespräche mit meinem Team führen.«
Una schaute auf ihr Handy und sah, dass sie eine neue Nachricht erhalten hatte. Ihr Bildschirmschoner zeigte das alte Foto von ihr mit ihren Eltern auf dem Campingplatz, das sie dem Hochzeitsvideo hinzugefügt hatte. Sie öffnete die Nachricht. Es war ein Bild von Ken und ihrer Mum, die ihre Flitterwochen in Südfrankreich verbrachten. Ken hatte eine sportliche Sonnenbrille auf und einen bunten Cocktail in der Hand, ihre Mum trug einen glitzernden Sarong und hielt ebenfalls einen Cocktail ins Bild.
Una versuchte, sich weder wegen des maroden Sonnenschirms über ihnen zu sorgen noch wegen der Gefahr, dass Ken einen Holzsplitter des Cocktailspießes verschlucken könnte, der in der Glacékirsche seines blauen Drinks steckte. Die beiden hatten eine kurze Nachricht hinzugefügt:
Wir haben eine super Zeit. Wir sehen uns bald wieder. Danke für das schöne Hochzeitsgeschenk – zum Glück haben wir es noch nicht benutzt und haben es auch nicht vor! In Liebe, Mum und Ken.
Ja, die Flitterwochenversicherung war das perfekte Geschenk gewesen. Seelenfrieden – viel besser als eine Auflaufform oder ein Pfannenwender. Sie hob kurz den Blick zur Bürodecke und widmete sich dann wieder ihrer Tabelle, zufrieden damit, dass alles in Ordnung war. Für den Moment.