Seitdem ich denken kann, werde ich in Schubladen gesteckt. Und seitdem ich denken kann, scheine ich zugleich in keine von ihnen so wirklich reinzupassen. Aufgrund meines für die IT »untypischen« Erscheinungsbildes begegnet mir etwa immer wieder große Verwunderung, wenn ich erzähle, dass ich in der Tech-Branche arbeite, bis hin zur schieren Fassungslosigkeit, wenn ich hinzufüge, dass ich sogar ganz solide programmieren kann. »Von Techies habe ich irgendwie ein anderes Bild!« ist einer der Standardsätze, den ich dann zu hören bekomme. Oder: »Ich hätte schwören können, dass du irgendwas mit Medien oder Marketing machst!«
Menschen sind in Anbetracht meines jungen Alters ebenso oft schockiert, wenn ich ihnen erzähle, dass ich Führungskraft in einem IT-Konzern bin: »Wow, du siehst gar nicht aus wie ein Chef«, höre ich immer wieder. Oder ebenso schmeichelhaft: »Das hätte ich dir auf den ersten Blick ehrlich gesagt gar nicht zugetraut!« Im gleichen Zuge werde ich regelmäßig für mein »perfektes Deutsch« gelobt und mein süddeutscher Einschlag wird fasziniert zur Kenntnis genommen. »Richtig klasse, dass du so tolles Deutsch sprichst!«, stellen Menschen nicht selten beim ersten Kennenlernen anerkennend fest. Woraufhin ich regelmäßig trocken entgegensetze, dass mein »perfektes Deutsch« eigentlich kaum eine erwähnenswerte Glanzleistung sein sollte, wenn man bedenkt, dass ich in München geboren und aufgewachsen bin.
Auch Geschlechterklischees scheine ich nur unzureichend zu bedienen. »Du bist aber schon ziemlich taff für eine Frau.« Oder »Wahnsinn, dass du so durchgreifen kannst! Schon ziemlich ungewöhnlich!« wird regelmäßig mit einer Mischung aus Faszination und Irritation festgestellt.
Eine Sache finde ich hierbei besonders spannend: Obwohl ich selbst viele Schubladen bediene, die Konsequenzen von Vorurteilen am eigenen Leib dadurch immer wieder zu spüren bekomme und mich aktiv mit der Thematik auseinandersetze, ertappe ich mich dennoch immer wieder selbst dabei, wie ich meinem eigenen Schubladendenken auf den Leim gehe. Besonders deutlich wird es mir immer dann, wenn Menschen sich auf einmal ganz anders verhalten, als ich es von ihnen erwartet hätte. Nämlich genau dann, wenn sie plötzlich der Zielzuschreibung der Schublade nicht mehr entsprechen, in die ich sie zuvor unbewusst offensichtlich hineingesteckt hatte.
Obwohl ich selbst ein technisches Studium absolviert habe, bin ich beispielsweise immer wieder besonders beeindruckt davon, wenn mir Frauen im Vorstellungsgespräch erzählen, dass sie in ihrer Freizeit Apps entwickeln, oder auch wenn ich Männer kennen lerne, die aufgrund der Erziehung ihrer Kinder zu Hause bleiben, während ihre Frauen in Vollzeit ihrem Beruf nachgehen. Fakt ist: Vor unbewussten Vorurteilen sind wir alle nicht gefeit. Um gegen sie erfolgreich vorgehen zu können, müssen wir allerdings erstmal anerkennen, dass wir sie haben. Dies macht es uns überhaupt erst möglich, sie zu hinterfragen und auch erfolgreich abzulegen.
Auch in der Arbeitswelt werden Menschen mit einer Vielzahl von Stereotypen und Vorurteilen konfrontiert, die ihnen nicht nur in ihrer Karriere Steine in den Weg legen, sondern auch Diskriminierung und Ausgrenzung für sie zur Folge haben können. Das Klischeebild des ewigen gestrigen alten Mannes ist hierbei etwa genauso reduzierend und diskriminierend wie das Bild der vermeintlich unterqualifizierten Quotenfrau. Vorurteile machen vor »zu jungen« genauso wenig halt wie vor »zu alten« Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Menschen werden ebenso regelmäßig in Schubladen gesteckt, weil sie gesellschaftlichen Schönheitsidealen entsprechen oder auch, wenn sie das nicht tun.
Auch rund um Familienplanung und Erziehung ranken sich viele Geschlechterklischees und Rollenerwartungen – mit mannigfaltigen Konsequenzen: So wird Frauen im gebärfähigen Alter vielerorts durchgehend ein Kinderwunsch unterstellt, auch wenn sie gar keine Kinder bekommen wollen oder können. Entsprechen Frauen dieser Erwartung und bekommen Kinder, können sie es der Gesellschaft wiederum auch nicht recht machen: Halten sie trotz Kind weiterhin an ihrer Karriere fest, werden sie als Rabenmütter abgestempelt, wohingegen ihnen fehlende berufliche Ambitionen unterstellt werden, wenn sie für die Familie im Job kürzertreten oder ihre Arbeitszeit reduzieren. Im Gegenzug entsprechen Männer nicht der gesellschaftlichen Rollenerwartung und werden mit Skepsis und Widerständen konfrontiert, falls sie eine längere Elternzeit nehmen oder gar längerfristig aufgrund der Erziehung ihrer Kinder beruflich zurücktreten möchten.
Auch ganze Branchen haben mit den Folgen von Stereotypen zu kämpfen. So wird das Bild von der Tech-Branche bis heute dominiert von der Vorstellung menschenscheuer Nerds, die im Keller still vor sich hin programmieren und das Tageslicht meiden. Mit der Konsequenz, dass sich vor allem junge Frauen häufig nicht trauen, sich beruflich für diese Richtung zu entscheiden. Ebenso begegnen Menschen auf dem Arbeitsmarkt im Falle von fehlenden akademischen Abschlüssen Hürden. Auch rund um die soziale und ethnische Herkunft von Menschen ist gesellschaftliches Schubladendenken weitverbreitet, das sich auch in der Arbeitswelt in Rassismus und Klassismus niederschlagen kann.
Ich werde in diesem Kapitel der Frage nachgehen, wie viel Wahrheit, aber auch Widersinnigkeit in diesen Stereotypen und Vorurteilen steckt und welche verheerenden Konsequenzen mit ihnen verbunden sein können. Ich bemühe mich um eine umfassende Betrachtung verschiedener Bereiche und werde die Positionen verschiedener Persönlichkeiten einfließen lassen, um das Thema mehrdimensional aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Das Feld ist jedoch so weit, dass ich dennoch bei weitem nicht alle Vorurteile der Arbeitswelt abdecken werde.
Hoffentlich gelingt es trotzdem, den Blick für die Thematik zu schärfen und damit den ersten notwendigen Schritt zu gehen, der für die Bekämpfung aller Arten von Vorurteilen notwendig ist: nämlich sich ihrer bewusst zu werden.