2  – Ist Israel ein Apartheidstaat?

Der Weg nach Jerusalem ist mühsam. Lange Zeit gab es von Tel Aviv aus nur eine Straße hinauf in die Stadt König Davids, die auf 800 Meter Höhe liegt. In der Geschichte des Zionismus ist diese Straße zur Legende geworden. Selbst wenn die heutige »Kvish Echad«, die »Straße Nummer 1«, eine breit angelegte Autobahn, nicht mehr identisch ist mit der legendären, engen Straße, die sich einst von Tel Aviv aus hinaufschlängelte in das religiöse und kulturelle Zentrum des Judentums, so ranken sich um sie viele Erzählungen und Geschichten aus der unmittelbaren Zeit vor und während der Staatsgründung. Viele politisch Interessierte glauben, der Unabhängigkeitskrieg habe mit der Ausrufung des Staates Israel, also am 14. Mai 1948 begonnen. Doch das stimmt nicht ganz. Spätestens nach dem UN -Teilungsplan von 1947 waren überall Kämpfe zwischen Juden und Arabern ausgebrochen oder hatten an Heftigkeit zugenommen. Dabei wurde Jerusalem schließlich von arabischen Truppen eingeschlossen und belagert, die rund 100 000 Juden in der Stadt saßen in der Falle und waren von anderen jüdischen Ortschaften komplett abgetrennt, wohingegen die Araber mit den umliegenden palästinensischen Dörfern bestens vernetzt waren. Der einzige Weg, auf dem die jüdische Gemeinschaft in Jerusalem Nachschub wie Nahrung, Wasser, Benzin, Medizin und vieles andere bekommen konnte, war diese schmale Straße. Immer wieder versuchte der »Palmach«, die Eliteeinheit der prästaatlichen Untergrundarmee »Haganah«, Konvois mit Warengütern nach Jerusalem hinaufzuschicken. Doch die arabischen Truppen waren clever, sie postierten sich auf den Hügeln und Bergen des Umlands und schossen von oben auf die nur behelfsmäßig gepanzerten Fahrzeuge der Zionisten. Vor allem das Castel, das hoch über der »Straße 1« liegt und einst von den Römern und den Kreuzfahrern zur Festung ausgebaut wurde, war ein strategisch wichtiger Punkt für die arabischen Kämpfer, von dem aus sie den Juden schwere Verluste zufügen konnten. Als im April 1948 in Jerusalem schließlich das Wasser knapp geworden war, als die Not also immer größer wurde, entschieden die jüdischen Kämpfer in die Offensive zu gehen. Sie begannen feindliche arabische Siedlungen und vor allem das Castel zu erobern. Der Rest ist Geschichte: Die Israelis siegten, (West-)Jerusalem wurde befreit. Im Gedenken an den Befreiungskampf Jerusalems stehen bis heute einige historische Vehikel mit ihrer improvisierten Panzerung am Straßenrand der »1«. Sie sollen daran erinnern, dass die Schlacht um Jerusalem blutig, aber erfolgreich war. Der Mythos der unbesiegbaren israelischen Armee wird hier beschworen, und niemand vergisst, welche Opfer man bringen musste, um den Staat gründen zu können.

Lange Jahre war die neue »Straße 1« eine zweispurige Autobahn, immer überfüllt, immer voller Staus. Für die knapp siebzig Kilometer zwischen den beiden wichtigsten Städten des Landes, Tel Aviv und Jerusalem, benötigte man in der Hauptverkehrszeit schon mal locker zwei Stunden. Eine Mühsal. Inzwischen wurde die Straße noch einmal massiv verbreitert. Doch zuvor, in den Achtzigerjahren, baute Israel eine zusätzliche Straße, die »443«, die wenige Kilometer nach Tel Aviv beginnt und den Verkehr entlasten sollte, was ihr aber bis heute nicht gelungen ist. Der Verkehr in Israel besteht inzwischen fast nur noch aus Dauerstaus.

Man fährt auf die »1«, zweigt dann irgendwann ab und ist schließlich auf der »443«, die nicht nur Jerusalem, sondern auch Siedlungen im Westjordanland mit der Stadt Modi’in und Tel Aviv verbindet. Sie führt in weiten Teilen durch besetztes Gebiet. Die Landschaft, durch die man fährt, ist atemberaubend, archaisch, ja: biblisch. Irgendwann fährt man an einem Tal vorbei, in dem König Shaul eine Schlacht geschlagen hatte, doch das ist nicht wirklich etwas Besonderes. Überall im Land kommt man an Schauplätzen biblischer Geschichte vorbei, im Westjordanland, wo sich das eigentliche biblische Israel befand, allerdings sehr viel mehr als in vielen Teil des modernen Staates Israel. Entlang der »443« sieht man in der herrlichen Berglandschaft palästinensische Hirten mit Schafherden und in Stufen gebaute Felder sowie Dörfer mit Moscheen und Minaretten. Zu den Gebetszeiten schallt der Ruf des Muezzins hinüber auf die Autobahn.

Lange Jahre weigerten sich vor allem israelische Linke, diese Straße zu benutzen. Man wollte nicht Teil des Besatzungssystems werden. Der Widerwille, sich sogar nur auf der »Durchfahrt« auf Besatzungsterritorium zu befinden, war in den Hochjahren der Friedensbewegung eine Grundsatzentscheidung und eine Form des Protestes. Doch nicht nur für die »443«, auch für andere Straßen wie die »Kvish 6«, die ebenfalls durch besetztes Gebiet führt und für die man sogar Maut zahlen muss, galt irgendwann die »normative Kraft des Faktischen«. Die Straßen sind bestens ausgebaut, sie durchschneiden das Land und lassen die Fahrer trotz des Verkehrs schneller ankommen, als wenn man die »politisch korrekten« Straßen benutzen würde. Irgendwann düsten auch Besatzungsgegner auf ihnen dahin, jüngere Generationen haben sowieso kaum noch das Bewusstsein, dass sie durch besetztes Gebiet fahren.

Obwohl die »443« also zunächst ein Politikum war, wurde sie lange Zeit von allen benutzt, Israelis und Palästinensern – gemeint sind die Palästinenser in den besetzten Gebieten natürlich. Jahrelang funktionierte das ohne Probleme, die Frage, ob diese Straße legitim war oder nicht, spielte im täglichen Leben der Menschen immer seltener eine Rolle. Man nutzte sie, sie war praktisch. Doch irgendwann begannen Palästinenser, Attentate auf der Straße zu verüben, die Nutzung wurde für Israelis lebensgefährlich. In der Folge begann man entlang der »443« Sicherheitszäune zu bauen, der Zugang für Palästinenser wurde an bestimmten Knotenpunkten über Checkpoints geregelt. Irgendwann hörten sie auf, die Straße zu benutzen, zeitweise durften sie das auch nicht. Der Weg wurde für sie zu beschwerlich, man suchte andere Strecken, um von A nach B zu kommen. Die »443« war eine »jüdische Straße« geworden. Ist das ein Zeichen von Apartheid? Ist Israel ein Apartheidstaat?

Die Situation im Westjordanland ist komplex. Nach dem Oslo-Abkommen von 1993 wurde die Einteilung des Gebietes in Gaza und im Westjordanland zwischen Israel und der PLO im sogenannten Oslo-II -Abkommen 1995 festgelegt. Das Westjordanland ist das Gebiet, das ideologische Siedler mit den biblischen Namen Judäa und Samaria bezeichnen. Es wurde in drei Areale geteilt. Da ist Area A, das eigentliche Palästinensische Autonomiegebiet, das vor allem die großen palästinensischen Städte und ihr jeweiliges Umland umfasst. Hier leben mehr als neunzig Prozent der Palästinenser im Westjordanland. Es untersteht allein der Verwaltung und Kontrolle der Autonomiebehörde von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und soll den Kern eines zukünftigen palästinensischen Staates ausmachen. Doch immer wieder dringt die israelische Armee in dieses Rumpfgebiet ein, wenn sie Terroristen sucht, wenn sie Widerstandszellen ausheben oder einen konkreten Attentäter nach einem Anschlag ausfindig machen will, nachdem der israelische Inlandsgeheimdienst Shin Bet herausgefunden oder auch Informationen von der Palästinensischen Autonomiebehörde erhalten hat, dass er sich im Autonomiegebiet versteckt hat. Häufig können oder wollen die palästinensischen Sicherheitskräfte nicht eingreifen, und so haben sie den Israelis, vor allem früher, freiwillig das Feld überlassen, so wurde das zwischen beiden Seiten verhandelt.

Und so geschah es auch etwa bei der Suche nach den drei entführten israelischen Jugendlichen, wegen deren Entführung 2014 schließlich der dritte Gaza-Krieg, genannt »Mivzah Zuk Eytan«, »Operation starker Fels«, ausbrach. Wieder einmal drangen israelische Patrouillen in der Nähe von Hebron in ein kleines Dorf ein, die palästinensische Sicherheitsbehörde war informiert. Ihre Männer verschwanden von der Straße, saßen in ihren Büros und ließen die israelischen Soldaten Häuser und Wohnungen durchsuchen. Was hätten sie auch schon tun können? Im Zweifelsfall sind die Israelis besser ausgebildet und ausgerüstet. Dazu aber kommt noch, dass die Sicherheitskräfte, die bis heute mit den Israelis kooperieren – allerdings seit Anfang 2022 die Kontrolle über Teile des Autonomiegebiets an die Islamisten und andere militante Gruppen wie »Die Höhle des Löwen« verlieren –, nicht als Kollaborateure von den eigenen Leuten verurteilt werden wollen. Wie sähe das aus, wenn ein Palästinenser mit einem Israeli gemeinsam eine Hausdurchsuchung machen würde? Es würde das sowieso sehr zweifelhafte Image dieser Sicherheitskräfte vollends ruinieren. Jeder weiß, dass sie gegen Islamisten vorgehen, dass sie in den letzten Jahrzehnten der israelischen Armee halfen Terroranschläge zu verhindern, dass man aber auch gewisse geheimdienstliche Informationen austauscht. Im Gegenzug haben die Israelis Präsident Abbas immer wieder vor islamistischen Komplotten gerettet, die vom Shin Bet aufgedeckt wurden.

Die Palästinensische Autonomiebehörde hat viele Feinde in der eigenen Bevölkerung. Da sind nicht nur Hamas und der Islamische Jihad, sondern auch viele andere Gruppierungen, Clans – oder Chamulot, wie sie im hebräischen Slang heißen –, die alle ihr eigenes Süppchen kochen und wahrlich keine Freunde von Mahmud Abbas sind. Die Israelis helfen ihm also an der Macht zu bleiben, die Palästinenser helfen den Israelis Terror zu verhindern. Eine Hand wäscht die andere. Aber so richtig physisch bei einer Hausdurchsuchung des zionistischen Erzfeindes dabei sein? Im Autonomiegebiet? Das wollen die palästinensischen Sicherheitskräfte natürlich nie und nimmer.

Area B hingegen ist ein Gebiet, in dem die Palästinenser zwar ebenfalls die administrative Verantwortung haben wie in Area A, in der aber Israelis und Palästinenser gemeinsam für die Sicherheit zuständig sind und auf Patrouille gehen. Das ging lange ziemlich gut, dann kam und kommt es immer wieder zu Krisen, ausgelöst durch politische Entscheidungen beider Seiten, bis man sich wieder auf einen Modus Operandi verständigt hat. Und schließlich gibt es Area C, das rund sechzig Prozent des gesamten Westjordanlands ausmacht und von den Israelis allein verwaltet wird. Hier befinden sich die größten jüdischen Siedlungen und vergleichsweise wenig Palästinenser, man schätzt die Zahl auf knapp 300 000. Rechte israelische Politiker sprechen immer wieder davon, dieses Gebiet komplett annektieren zu wollen, in früheren Jahren hatte der spätere Premier Naftali Bennett sein Parteiprogramm mit dieser Idee »geschmückt«. Interessant war, dass er den Palästinensern, die auch nach einer Annexion in Area C leben oder leben wollen, die israelische Staatsbürgerschaft geben wollte, ein Schritt, den allerdings viele rechtsnationale und rechtsextreme Politiker niemals mittragen würden.

Es besteht gar kein Zweifel daran, dass die Lage im Westjordanland höchst problematisch ist. Während die jüdischen Siedler dem israelischen Zivilgesetz unterstehen, sind die Palästinenser dem Militärrecht unterstellt. Ihre Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt, es gibt Schikanen, Vertreibungen, Verhaftungen, Landenteignungen, keine ordnungsgemäßen Gerichtsverfahren und, ja, auch das: Straßen für Palästinenser und Straßen für Juden. Aus Sicherheitsgründen, heißt es. Und in vielen Fällen ist das tatsächlich ein Argument, das man nachvollziehen kann, unabhängig von der Frage, ob die Besatzung völkerrechtswidrig ist oder nicht. Aber ist das nicht dennoch ein klarer Fall von Apartheid?

Wenn man online in der Encyclopaedia Britannica nachliest, dann wird Apartheid dort wie folgt beschrieben:

»Apartheid (Afrikaans: »Apartness«). Politik, die die Beziehungen zwischen der weißen Minderheit und der nichtweißen Mehrheit in Südafrika für einen Großteil der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts regelte und die Rassentrennung sowie die politische und wirtschaftliche Diskriminierung von Nichtweißen sanktionierte.«

Am 1. Februar 2022 präsentierte Amnesty International einen Bericht, in dem sie Israel vorwarf, an den Palästinensern Apartheid zu verüben und somit ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen. Es ist nicht der erste Bericht einer Menschenrechtsorganisation, der die aktuelle Lage so beurteilt und erklärt, dass in Israel und in den palästinensischen Gebieten inzwischen der Zustand der Apartheid erreicht worden sei. Amnesty bezieht in seinem Apartheidsvorwurf auch die Tatsache mit ein, dass Israel den palästinensischen Flüchtlingen das völkerrechtlich verbriefte Rückkehrrecht verweigert. Ein solches Rückkehrrecht würde allerdings bei heute rund fünf Millionen palästinensischen Flüchtlingen de facto bedeuten, dass Israel aufhören würde zu existieren, die Juden wären auf einen Schlag in ihrem eigenen Staat eine Minderheit. 1948 waren ja bekanntlich »nur« etwa 750 000 Palästinenser aus dem umkämpften Gebiet geflohen oder vertrieben worden. Nach Vorstellungen von Amnesty, der BDS -Bewegung und anderen pro-palästinensischen Organisationen soll das Rückkehrrecht also auch auf alle Nachkommen der einstmals Vertriebenen angewandt werden. Es gibt Diskussionen darüber, ob das nach dem Völkerrecht zulässig wäre oder nicht. Auf alle Fälle wäre eine Durchsetzung dieser Maximalforderung das Ende des jüdischen Staates. Jeder also, der das Rückkehrrecht von fünf Millionen Palästinensern fordert, besteht damit auch darauf, dass den Juden ihr Selbstbestimmungsrecht genommen wird, dass Israel nicht existieren kann, nicht existieren darf.

Amnesty vergleicht Israel wohlweislich nicht mit Südafrika, sondern bezieht sich auf Definitionen von Apartheid, wie sie in der Rassendiskriminierungskonvention von 1965 und später in der Apartheidkonvention von 1974 sowie vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag formuliert wurden. Dabei geht es insbesondere um drei Aspekte: Die Autoren des Berichts behaupten, Israel habe die Absicht, die Palästinenser dauerhaft zu dominieren, der jüdische Staat unterdrücke sie systematisch und es gebe darüber hinaus immer wieder unmenschliche Behandlungs- und Bestrafungsmethoden wie Administrativhaft, Folter sowie die Verweigerung bestimmter politischer und wirtschaftlicher Rechte, etwa den Zugang zu den eigenen Feldern. Eine Reihe der Vorwürfe sind durchaus ernst zu nehmen und lassen sich belegen. Doch der Ausgangspunkt des Berichtes von Amnesty ist angreifbar und mit den Realitäten on the ground in vielen Teilen nicht vereinbar.

Agnès Callamard, die Generalsekretärin von Amnesty, beeilte sich bei der Veröffentlichung des Berichts zu betonen, dass Israel in allen kontrollierten Gebieten eine Politik der »Segregation, der Enteignung und Ausgrenzung« verfolge. Amnesty nahm sich also das gesamte Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan vor und machte kaum einen Unterschied zwischen dem souveränen Staat Israel und dem in großen Teilen von Israel besetzten Westjordanland, gar nicht zu reden von Gaza, in dem die islamistische Hamas herrscht.

Nur ein Jahr zuvor hatten bereits zwei andere Menschenrechtsorganisationen, die israelische B’Tselem und Human Rights Watch Israels Politik gegenüber den Palästinensern als »Apartheid« angeprangert. Selbst wenn Amnesty keinen Vergleich zwischen Israel und Südafrika machen wollte, der Begriff weckt selbstverständlich Assoziationen mit dem Land am Kap. Und er wird seit einigen Jahren rund um die BDS -Bewegung, die Israel mittels eines wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Boykotts in die Knie zwingen will, zum weltweiten Kampfbegriff gegen den jüdischen Staat. Kein Wunder also, dass nach der Veröffentlichung eine internationale, heftige Diskussion um das Papier entbrannte. Hatte Amnesty eine seriöse Analyse abgeliefert oder nur ein weiteres ideologisch aufgeladenes Pamphlet, dem obendrein viele israelische Politiker vorwarfen, es habe antisemitische Untertöne?

Wie gesagt, methodisch ist der Bericht fragwürdig. Er unterscheidet zwar zwischen Israel und den besetzten Gebieten, aber tut dennoch so, als ob überall mehr oder weniger dieselbe juristische und faktische Sachlage herrsche. Schließlich behauptet Amnesty, Israel versuche seit der Staatsgründung, aggressiv die Interessen der jüdischen Bevölkerung auf Kosten der Palästinenser durchzusetzen. Yuval Shany, Professor für internationales Recht an der Hebräischen Universität in Jerusalem, sieht einen fundamentalen Fehler in dem von Amnesty benutzten Begriff »Apartheid«. Er verweist erst einmal darauf, dass die palästinensischen Bürger Israels de jure den jüdischen Bürgern gleichgestellt seien. Es gebe zudem seriöse Bemühungen, die Integration in vielen Bereichen voranzubringen. »Von einer konsequenten Unterdrückung seit 1948 kann nicht die Rede sein«. Zu dem Zeitpunkt, zu dem ich Shany kontaktierte, hatten wir keine andere Wahl, als unser Gespräch telefonisch zu führen, das Virus zwang uns dazu. Im Gespräch streitet der Rechtsprofessor Rassismus und Diskriminierung arabischer Israelis überhaupt nicht ab. Aber Apartheid sei einfach Unsinn. Und tatsächlich gibt es in Israel einen arabischen Richter im Obersten Gericht, Araber haben Zugang zu höherer Bildung, sie können wählen gehen, schicken ihre eigenen Vertreter in die Knesset, und ja, zuletzt saß sogar eine arabische Partei in der Regierung. Tatsächlich stellt Israel Millionenbeträge bereit, um die Infrastruktur für die Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft zu verbessern. Wie schon beschrieben, es gab und gibt eine strukturelle Benachteiligung der arabischen Bürger. Aber ebenso das, zumindest bis zum neuesten Regierungswechsel Ende 2022, wachsende Bestreben, diese Ungerechtigkeiten auszugleichen, zumindest die Regierung Bennett nahm da noch einiges in Angriff. Ebenfalls eine relativ neue Entwicklung: Dass es unter den gebildeten arabischen Israelis eine wachsende Zahl gibt, die gerne Teil der israelischen Gesellschaft sein möchte. Im normalen Alltag gibt es sowieso schon längst den täglichen Kontakt zwischen Juden und Arabern. Ob das im Gesundheitswesen ist oder anderswo – kaum jemand denkt viel darüber nach. Wie etwa Fatma, die mich nun schon seit Jahren in der Filiale einer israelischen Krankenversicherung gegen Corona und Grippe impft. »Na, wie geht’s dir, alles ok? Du bist doch der Journalist?« – »Ja, bin ich. Wie geht’s deiner Familie?« – »Baruch HaShem« – sie verwendet den hebräischen, nicht den arabischen Ausdruck für ›gelobt sei Gott‹ – »alles in Ordnung«. Und dann wünscht sie mir einen friedlichen Shabbat, jagt mir den Grippe-Impfstoff in den rechten Arm und sagt zum Abschied: »Bleib gesund, und wenn du irgendwas brauchst, ruf einfach an, ich bin immer für dich da.«

Shany wird angesichts einer völlig anderen Realität über die ewigen Vorwürfe gegenüber Israel ungehalten: »Es gibt doch keine offiziell erklärte Apartheid-Politik des Staates, das lassen die Basic Laws gar nicht zu. Aber natürlich, wie es in einer demokratischen Gesellschaft üblich ist, streiten sich alle mit allen, was und wie viel man für den sogenannten ›arabischen Sektor‹ machen und investieren soll!« Das galt auf alle Fälle noch zum Zeitpunkt, als der Amnesty-Bericht erschien. Auch Shany ist im Grunde überzeugt davon, dass die Verfasser des Berichts mehr von ihren ideologischen Vorurteilen getrieben waren als von seriöser Recherche.

Kurz nach Erscheinen des Amnesty-Papers publizierte Shanys Kollege, der Rechtswissenschaftler und Vizepräsident des Israel Democracy Institute, Professor Mordechai Kremnitzer, einen Artikel in der linksliberalen Tageszeitung Haaretz . Wie Shany weist auch er in seinem Text darauf hin, dass Amnesty in seinen Anschuldigungen übersehe, dass die Lage in Israel heute nicht mehr die von 1948 sei. Und vor allem, dass es in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten mehrfach den Versuch arabischer Staaten und der Palästinenser gab, Israel zu vernichten. Ein Aspekt, den der Bericht komplett außer Acht lässt.

Ungenau ist Amnesty auch in Sachen Gaza. In unserem Gespräch gibt Yuval Shany selbstverständlich zu, dass der Gazastreifen sich im Belagerungszustand befindet, Israel hat ihn in vielen Bereichen abgesperrt. »Doch Apartheid kann nur dort stattfinden, wo es Besatzung gibt. Die gibt es in Gaza nicht mehr«, definiert das Shany. Tatsächlich hat Israel Gaza im Jahr 2005 geräumt, alle seine Siedlungen aufgegeben und das Militär zurückgezogen. Die Antwort der Palästinenser auf diesen Rückzug – die »Hitnatkut«, wie man das auf Hebräisch nannte, was auf Deutsch am adäquatesten mit »Entflechtung«, »Abtrennung« übersetzt werden kann – kam prompt. Seitdem fliegen jährlich Hunderte und sogar Tausende Kassam- und andere Raketen auf die Zivilbevölkerung Israels, abgefeuert von der radikal-islamischen Hamas und dem Islamischen Jihad.

Nun gibt es bei vielen internationalen Organisationen und Völkerrechtlern die Ansicht, Israel sei nach wie vor Besatzungsmacht von Gaza, weil es von außen alles kontrolliere, insbesondere die Grenze. Dass auch Ägypten seine Grenze zu Gaza nach eigenem Gutdünken willkürlich auf- und zumacht, interessiert in diesem Zusammenhang niemanden. Doch de facto hat sich Israel aus dem Gebiet, wo rund 2,5 Millionen Palästinenser leben, zurückgezogen. Was aber wäre gewesen, wenn die Palästinenser keine Raketen auf Israel abgefeuert, sondern ihr Gemeinwesen aufgebaut hätten? Die internationale Staatengemeinschaft hatte nach dem Rückzug der Israelis den Palästinensern Millionenbeträge zugesichert. Doch statt Aufbau wählten die Palästinenser lieber den Weg der Zerstörung und der Gewalt, die Hamas verwendet die europäischen Gelder wahrlich nicht für die Unterstützung ihrer eigenen Bevölkerung. Doch das ficht viele NGO s und Menschenrechtsaktivisten in Europa nicht an. Sie verklären die Lage in Gaza, so wie sie gerne übersehen, wer und was die Hamas wirklich ist. Eine Terrororganisation auch gegenüber den eigenen Menschen, nicht nur gegen Israel.

Die Bedrohung der israelischen Bevölkerung, die von Gaza ausgeht, interessiert Amnesty also nicht, Israel ist als Besatzer für alles verantwortlich, selbst wenn in Gaza die Hamas die Macht innehat und die Regierung stellt. In Israel gehen die Lehrmeinungen auseinander, ob Jerusalem noch als Besatzungsmacht juristisch verantwortlich gemacht werden kann. Shany vertritt eine Mehrheitsmeinung in Israel: »Zwar schließen sich die UN und andere Organisationen in ihrer Beurteilung der Lage dem Narrativ an, dass Israel nach wie vor für alles verantwortlich ist, was in Gaza geschieht. Doch viele internationale Experten beurteilen das anders. Wir sind raus aus Gaza«. Den letzten Satz betont Shany in unserem Telefonat besonders eindringlich.

Also herrscht nur im Westjordanland Apartheid? Dort ist die Besatzungsmacht ja nun wahrlich präsent. Leider sind viele Vorwürfe, die Amnesty macht, tatsächlich nicht von der Hand zu weisen. Israel verstößt gegen Menschenrechte, es verstößt auch nach gängigem Recht gegen die Auflagen, die der Staat als Besatzungsmacht zu befolgen hätte, etwa die verbotene Besiedlung besetzter Gebiete. Wie schon erwähnt, wird palästinensisches Land enteignet, die Palästinenser können in bestimmten Gegenden nicht bauen, in manchen Gegenden dürfen sie nicht einmal ihre Häuser aufstocken, wenn die Familie wächst. Sie müssen Gebiete verlassen, die willkürlich zu »militärischen Sperrzonen« deklariert werden.

Diese und viele andere Rechtsbrüche sind seit Jahrzehnten dokumentiert, es gäbe also genug anzuprangern. Doch selbst für das Westjordanland bezweifelt Yuval Shany, dass man den Begriff »Apartheid« anwenden kann: »Geht es hier ausschließlich um Diskriminierung und Unterdrückung? Sind alle Entscheidungen Israels tatsächlich rassistisch motiviert? Oder gibt es hier nicht auch Sicherheitsinteressen, sind hier nicht zwei Nationen im Kampf miteinander verstrickt, was völkerrechtlich etwas ganz anderes ist als Apartheid?« Shany ist weit davon entfernt, die Menschenrechtsverletzungen, die im Westjordanland begangen werden, zu bestreiten. Doch das Urteil von Amnesty, so Shany, sei klar »einseitig und verfälschend«.

Der entscheidende Vorwurf, den Amnesty erhebt, ist die von Anfang an geplante und angebliche aggressive »Fragmentierung« von Land und Bevölkerung, also eigentlich seit 1948, seit der Staatsgründung. Zu Ende gedacht, bedeutet das, dass es ganz egal wäre, auf welche Grenzen Israel sich zurückziehen würde. Allein die Tatsache, dass Israel überhaupt existiert, wäre eine »Fragmentierung« Palästinas. Und die könnte nur aufgehoben werden, indem sich der jüdische Staat komplett auflöst. So überrascht es eben nicht, dass der Bericht das Rückkehrrecht der Palästinenser nach ganz Palästina befürwortet, die bekannte verklausulierte Formel für das Ende des jüdischen Staates.

Der Bericht von Amnesty ist symptomatisch für viele Versuche unterschiedlicher internationaler Organisationen, Israel komplett zu diskreditieren und den jüdischen Staat als »Apartheidstaat« darzustellen, um ihn zum Paria unter den Staaten zu machen. Es ist ein interessantes Phänomen, dass viele nur oder vorwiegend Israel sehen, wenn es darum geht, einen Staat als böse, nein, als »das Böse« darzustellen. Ein zutiefst antisemitisches Phänomen. In der gesamten Geschichte der Judenfeindschaft war der Jude nicht nur gehasst und abgelehnt, wie in einem rassistischen Kontext auch andere Gruppen. Der Jude wurde stets als »das Böse« schlechthin angesehen, das vernichtet werden muss, um die Menschheit zu befreien und zu erlösen. Die Kirchen dachten so (es sei denn die Juden unterzogen sich der Konversion), die Nazis sowieso, und seit Jahrzehnten auch viele Muslime. Es war vor allem die Muslimbruderschaft mit ihrem Vordenker Sayyid Qutb, die das europäische Weltbild vom Juden als »das Böse« in die islamische Welt brachten, beeinflusst durch den nationalsozialistischen Propagandasender Zeesen und die enge Verbindung des einstigen Großmuftis von Jerusalem, Haj Amin al-Hussaini, mit Adolf Hitler. Al-Hussaini, der vom Panarabismus träumte und die Juden aus Palästina vertreiben wollte, sah in Hitler den idealen Partner, um genau das zu erreichen.

Immer wieder weisen israelische Politiker darauf hin, dass all jene, die Israel ununterbrochen für alles Übel dieser Welt verantwortlich machen, die Menschenrechtsverbrechen in Syrien, Saudi-Arabien, Iran und vielen, vielen anderen Ländern mehr oder wenig mit einem Schulterzucken abtun. Die unsäglichste Rolle spielt in diesem Zusammenhang mit Sicherheit und nachweisbar der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen. Eine Statistik über den Zeitraum von 2006 bis Juni 2022 zeigt die Anzahl der Verurteilungen für bestimmte Länder in einer wahrlich einzigartigen »Hitliste«: Da ist Israel mit 95 Verurteilungen Spitzenreiter, gefolgt von Syrien mit gerade mal 38. Dann Nordkorea mit 14, Iran mit gerade mal 11 Verurteilungen, Eritrea ebenfalls 11, Venezuela 2 und Sudan 1.

Der UN -Menschenrechtsrat und viele andere Organisationen würden den sogenannten 3-D-Test für Antisemitismus nicht bestehen. Er wurde 2003 von Natan Sharansky entwickelt, damals Sozialminister Israels, der aber noch bekannter ist unter seinem ursprünglichen Namen Anatoli Schtscharanski. Er war einst als sowjetischer Dissident und Refusenik neun Jahre im Gulag. 1986 wurde er im Rahmen eines Agentenaustauschs auf der Glienicker Brücke in Berlin gegen einen sowjetischen Spion freigelassen und in den Westen abgeschoben. Danach wanderte er nach Israel aus. Sein 3-D-Test wird inzwischen von vielen als wichtiges Kriterium zur Erkennung von Antisemitismus gebraucht. Die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC ) hat ihre Definition für Antisemitismus unter dem Einfluss von Sharanskys Thesen entwickelt, und selbst wenn heute die Antisemitismus-Definition der IHRA , der International Holocaust Remembrance Alliance, weltweit als gängige Arbeitsgrundlage verwendet wird, so ist der 3-D-Test, vor allem, wenn es um Israel geht, nach wie vor ein praktisches Werkzeug, um berechtigte Kritik an Israel von anti-zionistischer, anti-israelischer Propaganda zu unterscheiden. Die drei Ds sind: Dämonisierung, Doppelstandards und Delegitimierung.

In Berichten wie dem von Amnesty finden sich fast immer Elemente dieser Form des anti-israelischen Antisemitismus. Das ist nicht nur skandalös, sondern vor allem kontraproduktiv. Insbesondere die israelische Rechte nutzt dies für die eigene Propaganda, »beweist« mit Originalbeispielen ihrer Klientel, dass die Welt da draußen zutiefst antisemitisch sei. Die seriösen Argumente und berechtigten Kritikpunkte gehen dabei unter, kommen nicht an, haben keine Folgen.

Dahinter steht natürlich auch die grundsätzliche Frage, wem das Westjordanland eigentlich gehört. Das internationale Recht hat das längst entschieden. Und spätestens 1988, als der damalige jordanische König Hussein den Anspruch seines Landes auf das Westjordanland aufgab und es damit den Palästinensern überließ, ist klar, wem das Land zugesprochen gehört. Doch die Siedlerbewegung sieht das gänzlich anders. Dabei geht es nicht nur um die Thora und die »Tatsache«, dass Gott dem Volk Israel das Land verheißen hat und die Nachkommen heute, also die Juden, also Israel, ein Anrecht auf das Gebiet haben. Es gibt sogar eine durchaus irdische juristische Auslegung der Besitzverhältnisse, deren bekanntester Verfechter Elyakim Haetzni war, der 1926 als Georg Bombach in Kiel geboren wurde, 1938 mit seinen Eltern nach Palästina auswanderte, dort Jurist und schließlich Siedler in Kiryat Arba wurde, einer radikalen Siedlung direkt neben Hebron. Im September 2022 starb er in Jerusalem. Das letzte Mal traf ich Haetzni vor mehr als zehn Jahren. Wir saßen auf der Terrasse seines Hauses in Kiryat Arba und er hielt mir in fließendem Deutsch einen langen Vortrag über seine juristische Sicht, was die Rechtmäßigkeit des jüdischen Siedlungsprojekts im Westjordanland angeht.

Der Ausgangspunkt für seinen Standpunkt ist die berühmte Deklaration des britischen Außenministers Lord Arthur Balfour 1917, in der er erklärte, dass Großbritannien die Errichtung einer »nationalen Heimstätte für das jüdische Volk« in Palästina unterstütze. Den Begriff »nationale Heimstätte«, im Original: »national home«, gab es in dieser Form juristisch damals nicht. Er war also vage. Und auch die Formulierung »in Palästina« ließ offen, wo überall in Palästina. Gleichzeitig wurde allerdings auch gefordert, dass die zivilen und religiösen Rechte der palästinensischen Araber gewahrt bleiben müssten. Was in Balfours Deklaration tatsächlich fehlte, war der Hinweis auf die politischen Rechte der Araber. Nach Ende des Ersten Weltkrieges beschloss der Völkerbund, die Vorläuferorganisation der UN , den Briten das Mandat über Palästina und Transjordanien zu übergeben. Das geschah in der San Remo Konferenz 1920. In dem Mandatsauftrag war die Schaffung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk enthalten, was ihm einen Status verlieh, den Haetzni in seinem Gespräch mit mir als eindeutig »internationales Völkerrecht« interpretierte. Das Mandat war auf alle Fälle für die Briten rechtlich bindend. Dabei wurde damals deutlich gemacht, dass die Heimstätte der Juden nicht auf dem Territorium Transjordaniens, dem heutigen Jordanien, entstehen dürfe. Transjordanien wurde damals zu »Palästina« gerechnet. Für diesen Teil des Landes hatte man andere Pläne. Doch das heute so umstrittene Westjordanland gehörte durchaus zu jenem Teil Palästinas, in dem eine jüdische Heimstätte errichtet werden könnte und dürfte, es war also nicht explizit als Staatsterritorium ausgeschlossen.

Noch ehe die Briten 1948 das Mandatsgebiet verließen, wurde am 25. Mai 1946 Transjordanien zum »Haschemitischen Königreich Transjordanien« und 1949 zum »Haschemitischen Königreich Jordanien« ausgerufen. Im Unabhängigkeitskrieg Israels 1948 gelang es den jordanischen Truppen, das Westjordanland zu erobern und zu kontrollieren. Am 12. Juni 1950 annektierte Jordanien das Westjordanland und machte es zu seinem Staatsgebiet. Dieser Schritt wurde lediglich von zwei Staaten weltweit anerkannt: von Großbritannien und Pakistan. Während Haetzni seinen Monolog hielt, begann er an dieser Stelle zu kichern: »Und nun schauen Sie mal, was 1967 geschah. Israel eroberte im Sechstagekrieg das Westjordanland. Und wem gehörte das damals? Niemandem. Denn vor dem Ersten Weltkrieg gehörte es zum Osmanischen Reich. Das aber hatte aufgehört zu existieren und hatte auch keinen Rechtsnachfolger. Die Briten hatten das Gebiet nur verwaltet, die Jordanier haben sich das Land unter den Nagel gerissen, was aber von niemandem anerkannt wurde. Also wem gehört das Land? Wem?«

Haetzni erwartete nicht wirklich meine Antwort, sondern machte nach einer Kunstpause gleich weiter: »Den Juden. Denn sie waren ja in ihre alte Heimat zurückgekehrt. Und das sah die Präambel des britischen Mandats auch so vor. Also, von welchen besetzten Gebieten reden wir eigentlich? Ist das sogenannte Westjordanland wirklich besetztes Gebiet? Ich habe da meine sehr berechtigten Zweifel.« Zufrieden lehnte sich Haetzni zurück. Quod erat demonstrandum, dachte er wohl still für sich.

Die israelische Regierung hat sich die von Haetzni referierte Interpretation zu eigen gemacht. Auf der Website des israelischen Generalkonsulats in München findet man beispielsweise folgende Erklärung:

»Jüdisches Siedeln im Westjordanland […] wird oft lediglich als modernes Phänomen dargestellt. Vielmehr gibt es jüdisches Leben in diesem Gebiet seit Jahrtausenden und wurde im Mandat für Palästina als legitim anerkannt […] Nachdem ›die historische Verknüpftheit des jüdischen Volkes mit Palästina‹ und ›die Grundlagen für die Wiedererrichtung seiner nationalen Heimstätte‹ anerkannt wurden, legt das Mandat in Artikel 6 folgendes fest: ›Die Verwaltung Palästinas soll unter der Sicherung, dass die Rechte und die Lage anderer Teile der Bevölkerung nicht beeinträchtigt werden, die jüdische Einwanderung unter geeigneten Bedingungen erleichtern und in Zusammenarbeit mit der ›Jewish Agency‹ eine geschlossene Ansiedlung von Juden auf dem Lande, mit Einschluss der nicht für öffentliche Zwecke erforderlichen Staatsländereien und Brachländereien fördern.‹ […] Einige jüdische Siedlungen, wie in Hebron, existierten in den Jahrhunderten ottomanischer Herrschaft durchgehend, während [andere] Siedlungen […] während der britischen Mandatsverwaltung vor der Gründung des Staates Israel in Übereinstimmung mit dem Völkerbundsmandat entstanden. […] Das Recht von Juden, sich in diesen Gebieten anzusiedeln, und die erworbenen privaten Eigentumstitel für das Land konnten durch die jordanische Besatzung rechtlich nicht annulliert werden, da diese eine Folge der unrechtmäßigen bewaffneten Invasion Israels im Jahr 1948 war und international nie als rechtmäßig anerkannt wurde. Daher behalten solche Rechte und Urkunden bis zum heutigen Tage ihre Gültigkeit. Kurz gesagt, ist der Versuch, jüdische Gemeinschaften im Westjordanland als neue Form ›kolonialer‹ Siedlungen auf dem Land einer fremden Staatsmacht darzustellen, so unaufrichtig wie politisch motiviert.«

Selbst wenn die internationale Staatengemeinschaft sich dieser juristischen Lesart nicht anschließt und Israels rechtlichen Anspruch auf das Westjordanland negiert, so können all diejenigen, die Israel der Apartheid bezichtigen, zumindest nicht einfach so tun, als gäbe es dort keinen Konflikt zweier Völker, keine Kriege, als ob es keine Versuche gäbe und gegeben hätte, Israel zu vernichten oder die Zivilbevölkerung anzugreifen, wie dies aus Gaza die Hamas und der Islamische Jihad regelmäßig tun (und aus dem Libanon die schiitische Hizbollah, die im Dienste des Iran steht). Wer dies negiert, ebenso wie Israels Recht auf Selbstverteidigung, verweigert dem jüdischen Staat grundsätzliche Rechte, die jeder Staat besitzt. Ist das also völlige Realitätsverweigerung? Oder gar Antisemitismus? Der- oder diejenige muss sich auch darüber im Klaren sein, dass solche Argumentation und Agitation letztendlich den Palästinensern kein Jota helfen wird. Die Nichtkenntnis oder die bewusste Verweigerung, politische und historische Gegebenheiten anzuerkennen, machen Kritik an Israel mit Sicherheit nicht gewichtiger. Und schon gar nicht glaubwürdiger.

Es ist allerdings bemerkenswert, dass sich der Begriff »Apartheid« längst auch in der innerisraelischen Diskussion etabliert hat. Dass eine israelische, links stehende Menschenrechtsorganisation wie B’tselem sich nicht scheut, von »Apartheid« zu reden, ist fast zu erwarten. Das Argument wird aber auch nicht wahrer oder falscher, nur weil es von Juden ausgesprochen wird. In der pluralistischen Diskussion innerhalb Israels sind solche Stimmen dennoch wichtig. Israelis müssen sie hören, sie dienen der Auseinandersetzung um ein Problem, das real ist und Millionen Menschen das Leben schwer macht. Ein Problem, von dem niemand weiß, wie man es wirklich lösen kann. Oder das niemand lösen will, egal ob Israelis oder Palästinenser. Denn – und auch das wird gerne von den Gegnern und Feinden Israels vergessen – auf der palästinensischen Seite ist echte Friedensbereitschaft, die Fähigkeit zum Kompromiss, ebenso wenig vorhanden wie auf der israelischen.

Wohin die Situation ohne eine politische Lösung führen kann, war jedoch vielen israelischen Politikern schon in der Vergangenheit durchaus bewusst. Dass die israelische Politik zumindest in den besetzten Gebieten in Richtung Apartheid läuft, davor warnten bereits Premiers wie Yitzhak Rabin, Ehud Barak oder Ehud Olmert. Sie alle nahmen den Begriff »Apartheid« in den Mund. Dies dürfe nicht die Zukunft Israels werden, man müsse den Schritt in die Apartheid unbedingt vermeiden. Ironischerweise sind es gerade die Rechten, die mit ihrem Traum von einem Staat Israel vom Mittelmeer bis zum Jordan eine Ein-Staaten-Lösung suchen, in der die Palästinenser entweder vertrieben oder als Menschen ohne Rechte in ihren Dörfern und Städten bleiben können, in irgendeiner Form von »Autonomie«. Oder aber sie werden als Bürger mit gleichen Rechten eingegliedert. Was wirklich geschehen soll und vor allem kann, das weiß so recht niemand. Und Vorsicht: »Die Rechten«, wie gerade eben formuliert, sind natürlich kein monolithischer Block. Während die Parteien Otzma Yehudit und Religiöser Zionismus von Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich eindeutig extremistische Parteien sind, sind Politiker wie Naftali Bennett, wie Benny Gantz und Gideon Sa’ar, Avigdor Lieberman oder auch viele Politiker des Likud ganz anders zu bewerten. Dass sie alle für die Beibehaltung der Siedlungen sind, haben sie gemeinsam, selbst die Linke kämpft nur noch pro forma um einen Abzug aus den besetzten Gebieten.

Entscheidender ist, wie sie zur arabischen Bevölkerung Israels und den Palästinensern in den besetzten Gebieten stehen. Ayelet Shaked hätte als Innenministerin 2021 Israel sicher lieber ohne Araber gesehen als mit. Aber sie wusste, dass sie dazu die Gesetzeslage hätte ändern müssen, was so ohne weiteres nicht möglich war. Dass sie 2021 und 2022 die Familienzusammenführung von israelischen Arabern mit ihren palästinensischen Verwandten unterband, dass sie es also oft Ehepartnern aus den besetzten Gebieten unmöglich machte, zu ihren israelisch-arabischen Partnern in das Kernland Israel zu ziehen, ist ihre politische Agenda gewesen. Sie unterlief mit ihrem Vorgehen die Gesetzeslage, indem sie erklärte, das Innenministerium müsse jeden Fall einzeln prüfen. Aber anders als die Rechtsextremisten hätte sie das politische System nicht komplett umstürzen, wenngleich durchaus verändern wollen. Bezalel Smotrich hingegen träumt ganz öffentlich von einem Staat, der nur noch nach der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, geführt wird. Und während Benny Gantz, Gideon Sa’ar und andere die arabischen Staatsbürger nolens volens akzeptieren, hat Naftali Bennett als Premier den weitesten Weg zurückgelegt. Ja, auch Sa’ar, Shaked, Lieberman und Gantz saßen mit einer arabischen Partei in der Koalition. Doch Bennett als Premier pries immer und immer wieder seinen Partner Mansour Abbas und bemühte sich, obwohl ideologisch zunächst weit rechts stehend, ein Mann der Mitte zu werden, ein Premier für alle Bürger. Auch wenn die meisten arabischen Israelis das natürlich nicht glaubten und ganz anders sahen. Bennetts »Weg in die Mitte« hat ihn schließlich seine (jüdische) Wählerschaft gekostet. Sie verzieh ihm den »Verrat« nicht. Woraufhin Bennett, der gerade mal ein Jahr Premier war, seinen Hut nahm und sich erst einmal aus der Politik verabschiedete.

Was bei allen Unterschieden aber alle Rechten eint – und auch viele Politiker der »Mitte« –, ist die tiefe Überzeugung, dass ein Palästinenserstaat für Israel eine Katastrophe wäre. Natürlich sah und sieht auch Benjamin Netanyahu das so.

Als Donald Trump im Januar 2020 seinen Friedensplan, den sogenannten Jahrhundertdeal, für den palästinensisch-israelischen Konflikt vorstellte, lobte ihn der damalige israelische Premier Benjamin Netanyahu über den grünen Klee. Der Plan war absurd. Einerseits bot er den Palästinensern massive wirtschaftliche Unterstützung an. Trump versuchte sie über finanzielle Anreize und die Aussicht auf Wohlstand zu ködern. Andererseits sah sein Plan vor, dass die zerrissenen Gebiete, die im Augenblick in den Händen der Palästinenser sind, innerhalb eines israelischen Staates liegen würden, der dann rund herum existieren würde, er sprach den Israelis also einige Gebiete zur Annexion zu. Allein diese Idee wäre für die Palästinenser vollkommen inakzeptabel gewesen. Und es hätte bedeutet, da das palästinensische Gebiet ein großer Flickenteppich ist, dass die Palästinenser ständig durch israelisches Gebiet müssten. Die Folge: ein aufwendiges, teures, hochkompliziertes Checkpoint-System auf engstem Raum. Die Militärs und Sicherheitsexperten Israels schlugen die Hände über dem Kopf zusammen und wussten von vornherein, dass dieser Plan nicht umsetzbar war.

Die Welt zitterte dann allerdings, als Netanyahu ankündigte, er werde im Sommer »Gebiete« annektieren. Eine Möglichkeit wäre die Annexion des Jordantals gewesen, das kein israelischer Premier oder General je zurückgeben will, weil es aus militär-strategischen Gründen für Israels Sicherheit unverzichtbar ist. Netanyahu hatte dies schon einmal 2019 angekündigt. Weltweit also fürchtete man, Netanyahu könnte diesen Schritt im Sommer 2020 gehen. Doch »Bibi« ist nicht Putin. Jedem seriösen Beobachter war klar, dass er nur bluffte. Und wenn es nur aus finanziellen Gründen war.

Das Jordantal ist nicht nur wichtig zur Verteidigung Israels, es ist nicht nur das erste »Hinterland« nach der natürlichen Grenze, dem Jordanfluss. Es ist auch ein äußerst fruchtbares Gebiet, wo die meisten israelischen Siedlungen große Palmenplantagen bewirtschaften und Datteln ernten, die für Israel, aber mehr noch für den Export bestimmt sind. Mit wem auch immer man in diesen Kommunen spricht, keiner der Israelis dort ist ein ideologischer Fundamentalist. Die Menschen kamen hierher, weil sie die Landschaft wunderschön fanden, weil der Staat ihnen finanzielle Anreize bot, vor allem aber, weil sie überzeugt waren und immer noch sind, dass Israel es sich gar nicht leisten kann, das Jordantal je wieder aufzugeben. Man ist gekommen, um »für immer« zu bleiben. Gegen die Palästinenser hat man nichts, mit den Nachbardörfern kommt man überwiegend gut aus, viele Palästinenser helfen bei der Dattelernte oder sind sogar Verwalter und Vorarbeiter und tragen die Verantwortung für die Ernte.

In einem Café am Eingang einer Siedlung treffe ich Omar. Wir sitzen an einem langen Tisch, neben uns zwei jüdische Ultraorthodoxe, die auf der Durchreise nach Jerusalem sind. Man unterhält sich ganz ungezwungen, einer der Frommen kann Arabisch und palavert mit Omar in einem Mix aus dessen Muttersprache und Hebräisch, das der Palästinenser selbstverständlich auch spricht. Irgendwann sind wir allein. Und ich frage ihn, wie er das fände, wenn Israel diesen Teil des Landes annektieren würde. »Ich fände das gut!«, meint Omar ganz leger. Auch wenn ich so eine Antwort erwartet hatte, so kommt sie so locker, so leicht daher, dass ich nun doch ein wenig verblüfft bin. »Wieso?« frage ich ihn, »wieso?« Omar trinkt einen Schluck des heißen Kaffees mit Hel, mit Kardamom, zieht an seiner filterlosen Zigarette und argumentiert ganz sachlich: »Ich habe fünf Kinder und will, dass es ihnen gut geht, dass sie eine Zukunft haben. Einen palästinensischen Staat wird es zu meinen Lebzeiten nicht mehr geben, da bin ich mir sicher. Wenn Bibi«, auch Omar nennt den israelischen Premier bei dessen Spitznamen, »wenn Bibi uns annektiert, dann wäre das prima. Dann bekommen wir die blaue ID , wir wären gerettet.«

Die blaue ID . Das ist der Ausweis, den auch die Palästinenser in Ostjerusalem haben. Man ist nicht israelischer Staatsbürger, aber man hat den Zugang zum israelischen Sozialsystem und Arbeitsmarkt. Das sind auf alle Fälle bessere Lebensumstände als die, in denen Menschen wie Omar heute leben müssen. Doch spätestens jetzt war mir klar, dass Netanyahu das Jordantal nicht annektieren würde. Man schätzt, dass dort rund 30 000, vielleicht sogar 50 000 Palästinenser leben. Die würden alle mit einem Schlag ins israelische Sozialsystem einsteigen dürfen? Die Kosten wären ungeheuerlich für Israel. Und da viele dieser Menschen gesundheitlich angeschlagen sind, in den palästinensischen Krankenhäusern kaum oder nur schlecht versorgt werden, würden sie für das israelische Krankensystem im Nu ein enormer Kostenfaktor werden, den sich Israel nicht leisten will und kann.

Wozu also sollte Netanyahu oder irgendein anderer Premier, wenn er nicht ein fundamentalistischer Ideologe ist, auch nur irgendeinen Teil des Westjordanlands annektieren? De facto ist es ja bereits so. Und kostet den Staat so weniger, als wenn es offiziell gemacht würde, ganz abgesehen von den politischen Implikationen, die ein solcher Schritt erst einmal nach sich ziehen würde.

Doch genau solche »pragmatische« Überlegungen sind der Grund, warum in den besetzten Gebieten irgendwann, vielleicht sogar schon in naher Zukunft der »Apartheidszustand« tatsächlich eintreten könnte. Egal, ob Israel sich das Westjordanland offiziell einverleiben würde oder nicht. Schon jetzt ist die Gefahr groß, dass die Situation irreversibel ist. Mit der Fortsetzung des Siedlungsprojektes, der Ausweitung der Landnahme und dem fortgesetzten Verdrängen der palästinensischen Bevölkerung könnte eine Situation eintreten, die juristisch eindeutig wäre. Darüber hinaus wäre der »jüdische und demokratische« Staat Israel eines Tages entweder nicht mehr demokratisch – oder aber nicht mehr jüdisch. Wie dieses Dilemma gelöst werden soll? Die israelische Rechte, die Ultranationalisten und Rechtsextremen zumal, bleiben den Bürgern des Landes eine vernünftige Antwort schuldig. Oder nein – die Ultras haben sich längst entschieden und sagen es auch. Ihnen ist es wichtiger, dass Israel jüdisch ist. Auf Demokratie können sie verzichten. Und ihre Anhängerschaft wächst. Sie werden immer stärker. Die Revolution beginnt ihre Kinder zu fressen.