F ina kochte Tee. Obwohl es draußen warm war und in ihrer Wohnung noch wärmer, innerlich fror sie. Tee anstelle einer Umarmung. Das hatte schon öfter funktioniert.
Erst vor einer halben Stunde war sie nach Hause gekommen, nachdem sie die Arbeit im Sender abgeschlossen hatten. Da Oliver ihr die Befragung von Tibor Glaser aus der Hand genommen hatte, war Fina gemeinsam mit Ahmed zu Iris Radnitzky gegangen.
Die Frau hatte ununterbrochen ihre Hände geknetet und war zweimal in Tränen ausgebrochen. Immer dann, wenn es um ihren Job gegangen war. Zu Nadine Just hatte sie sich sehr distanziert geäußert. Hatte sich bemüht, nicht abfällig zu klingen, was ihr nur bedingt gelungen war.
»Nein, sehr beliebt war sie nicht«, hatte Radnitzky gesagt und zu Boden geblickt. »Ich glaube, darauf hat sie auch keinen Wert gelegt.«
Fina goss kochendes Wasser über das Teesieb, und in der Küche begann es nach gebrannten Mandeln zu riechen. Herbsttee. Schmeckte am besten mit Honig, den sie sich besser verkneifen sollte.
Oder doch nicht. Drauf gepfiffen. Alles, was ihren Gemütszustand verbessern würde, war heute erlaubt, so wie Oliver sich ihr gegenüber benommen hatte.
Probleme mit den Kollegen, da hatten sie und Nadine Just tatsächlich etwas gemeinsam. Glaser hatte es noch deutlicher formuliert. Sie hatte fast ausschließlich Feinde. Ich habe mir oft gedacht: Sie braucht das. Sie will diese extreme Reaktion .
Mit ihrem Tee setzte Fina sich auf die Couch und pustete sanft in den aufsteigenden Dampf. Sie sollte schlafen gehen, aber sie fühlte sich nicht müde. Nur erschöpft. Ihr Kopf würde weiterarbeiten, sie würde sich im Bett herumwälzen und morgen erst recht ein Wrack sein.
Er hatte dann noch etwas angefügt, erinnerte sie sich: Ich bin sicher, Sie werden ihren Social-Media-Content durchgehen, und dann werden Sie es selbst sehen .
Fina rutschte auf der Couch ein Stück nach links, angelte sich ihr Notebook vom Beistelltisch und öffnete Twitter. @nadinejust hatte 81 .433 Follower, und unter ihrem letzten Post häuften sich die entsetzten Stimmen, die ihren Tod kommentierten.
Der Thread war dafür gleichzeitig perfekt und denkbar unpassend. Fina las, was Just geschrieben hatte, und fand es widerlich und makaber zugleich. Als hätte die Moderatorin das Schicksal herausgefordert.
Am Tag vor ihrem Tod hatte sie ein Foto gepostet, das eine Frau von hinten zeigte. Rundliche Figur, kurzes, pinkfarbenes Top und sehr enge Jeans. Zwischen oberem und unterem Kleidungsstück quollen deutlich sichtbare Röllchen hervor. Rollen, um exakt zu sein.
Sollte ich jemals so aussehen, gebt mir bitte den Gnadenschuss! #gehtgarnicht #optischezumutung, hatte sie dazugeschrieben.
Ein paar User hatten in den letzten paar Stunden »Karma« darunter kommentiert, was Fina nicht völlig falsch fand. Allgemein war der Ton aber ein anderer.
Wie furchtbar. Da macht jemand einen Scherz und wird einen Tag später wirklich ermordet. # RIP
Sie hatte eine böse Zunge, aber das hat sie nicht verdient .
Das passiert mit Menschen, die unangenehme Wahrheiten aussprechen. Wir alle sollten uns das bewusst machen. #Heldin
Sie würde sich die Kommentare genauer ansehen müssen, aber für den Moment reichte ein schnelles Überfliegen. Vermutlich hatten die »unangenehmen Wahrheiten« sich nicht auf Bodyshaming und Heruntermachen von Kolleginnen der Konkurrenzsender beschränkt.
Nein, tatsächlich nicht. In einem acht Tage alten Thread, der es auf stolze zweihundertneununddreißig Antworten gebracht hatte, war sie mit zwei Usern auf eine Weise aneinandergeraten, die Fina noch nicht oft untergekommen war – allerdings trieb sie sich nur selten auf Social Media herum.
Friss deine eigene Sch****e, du F***e, war das Schlussstatement eines ihrer Kontrahenten gewesen. Ein anderer – oder eine? – das war anhand von Namen und Profilbild nicht erkennbar – hatte zuletzt gar keine Worte mehr verwendet, sondern stattdessen ein GIF gepostet. Blut, das auf eine weiße Fläche tropfte.
Konnte man das als Drohung werten? Ignorieren sollte man es jedenfalls nicht. Fina öffnete ein Word-Dokument und kopierte die beiden Usernamen hinein. Kroton2382 und _Astloch_. In der Auseinandersetzung war es um ein Interview gegangen, das Nadine Just mit einer Jungschauspielerin geführt hatte, die ebenso präsent in den Klatschspalten war wie Just selbst. Die Schauspielerin war erst einundzwanzig und am Ende des Gesprächs den Tränen nah gewesen. Einige Fragen schien Just deutlich unterhalb der Gürtellinie angesiedelt zu haben, und die Fans des Jungstars waren auf die Barrikaden gegangen.
Fina nippte an ihrem Tee. Ihr erster Eindruck bestätigte, was Tibor Glaser gesagt hatte: Nadine Just schien süchtig nach Gegenwind gewesen zu sein. Sie antwortete auch auf die beleidigendsten Kommentare, machte keinen Rückzieher und schaffte es fast immer, das letzte Wort zu behalten.
Fina suchte noch ein paar der härteren Repliken heraus und notierte die Namen der Verfasser. Tatsache war allerdings, dass es schwierig werden würde, jeden zu überprüfen, der Just schriftlich seinen Hass entgegengeschleudert hatte. Oder ihren. Dafür waren es schlicht zu viele.
Um halb zwei Uhr nachts fühlte sie sich endlich müde genug, um sich schlafen zu legen. Schon jetzt voller Reue, dass sie nicht früher ins Bett gegangen war, stellte sie den Wecker auf halb sieben und schaltete die Nachttischlampe aus.
Was sie dazu trieb, noch einmal nach dem Smartphone zu greifen und Facebook zu öffnen, war ihr selbst nicht klar. Wahrscheinlich nur der Gedanke, dass sie gar nicht überprüft hatte, ob Just dort einen Account besaß. Das zu checken würde nur Sekunden dauern.
Doch so weit kam sie nicht, denn schon beim Überfliegen der ersten Postings auf ihrem Feed richtete sie sich wieder auf und knipste das Licht an.
Fina hatte mehrere Nachrichtenseiten abonniert, auf denen Nadine Just nun Thema Nummer eins war. Auch dort reihte sich ein Kondolenzspruch an den nächsten, doch ganz zuoberst hatte jemand namens Rainer Hartig eine Website verlinkt. Wird das jetzt Trend? Ist das ein Nachahmer?, hatte er darübergeschrieben.
Fina tippte den Link an und landete auf der Seite eines gewissen Gunther Marzik, laut eigener Bezeichnung »Journalist und kritische Stimme«. Die Seite war wie ein Blog aufgebaut, und der letzte Eintrag war gerade einmal drei Stunden alt.
Kritische Stimme verstummt
Traurige Nachricht für Freunde des unabhängigen Journalismus und der freien Meinung: Mit Bedauern gebe ich bekannt, dass dies mein letzter Eintrag sein wird. Nicht, weil ich keine Lust mehr hätte, meine Wahrheiten zu verbreiten und für aufgeheizte Stimmung zu sorgen. Nein, ich werde in Kürze tot aufgefunden werden. Ein Verbrechen wird man nicht ausschließen können.
Dazu hatte er ein Foto gestellt, das ihn an seinem Schreibtisch zeigte. Haarloser Kopf, Hängebacken, wulstige Lippen. Die Augenbrauen waren hochgezogen, die Hände hatte er zu einer komisch-ratlosen Geste erhoben, einer pantomimischen Darstellung von »keine Ahnung, wie das passieren konnte«.
Seine Follower schienen es für einen Scherz zu halten, der ihm ähnlichsah. Anders als der Facebook-User, der den Beitrag auf Justs Seite geteilt hatte, machte sich hier kaum jemand Sorgen.
Ha, typisch, schrieb einer.
Schon bisschen geschmacklos , Gunther, ein anderer.
Tot aufgefunden? Du übertreibst. Normalerweise finden wir dich doch nur blau unter dem Tisch, schrieb ein Dritter und packte fünf Bierglas-Emojis dazu.
Fina schoss einen Screenshot des Beitrags, für alle Fälle. Sie war nun tatsächlich zu müde, um sicher sein zu können, dass der Wortlaut der Ankündigung der gleiche war wie bei Nadine Justs Nachrichtenansage.
Aber das dumpfe Gefühl, dass es sich so verhielt, begleitete sie bis in ihre Träume.
Oliver verzog den Mund, als sie ihm am nächsten Tag den Link zeigte. »Was soll ich damit? Da macht ein alter Sack dämliche Scherze auf Kosten einer Toten.«
Fina zog mit zwei Fingern das Bild auf ihrem Handy größer. »Da kannst du nicht sicher sein. Bei Just war es das gleiche Muster: Ankündigung der eigenen Ermordung. Mit ziemlich genau den gleichen Worten.«
Er sah sie mit diesem Blick an, den sie nicht leiden konnte. Einer Mischung aus Mitleid mit ihr, weil sie nichts begriff, und mit sich selbst, weil er sich mit ihr rumschlagen musste. »Natürlich. Er zitiert, verstehst du? Vielleicht sind die beiden einmal aneinandergeraten, sie haben ja in derselben Branche gearbeitet. Vielleicht wollte er sie vögeln, sie hat ihn abblitzen lassen, und jetzt pinkelt er auf ihr Grab, sozusagen.«
»Das ist …«
»Geschmacklos, ja«, unterbrach er sie. »Aber solche Leute gibt es, und er scheint bekannt dafür zu sein.«
Fina setzte sich an ihren Schreibtisch und legte das Handy vor sich ab. Der Bildschirm verdunkelte und sperrte sich. »Du findest nicht, wir sollten wenigstens nachhaken? Uns mit ihm in Verbindung setzen?«
»Oh, tu dir keinen Zwang an«, sagte Oliver, während er suchend seine Ablage durchwühlte. »Wir haben heute ja sonst nichts zu tun. Sieghart will, dass jemand von uns bei der Leichenöffnung dabei ist, außerdem müssen wir mit dem Sendechef reden und mit geschätzt zwanzig anderen Mitarbeitern von Quick-TV .« Er zog einen Zettel aus dem Stapel, überflog ihn und warf ihn in den Papierkorb. »Aber super, mach du nur leere Kilometer.«
Sie wartete, bis er das gemeinsame Büro verließ, dann suchte sie über die Datenbank nach Gunther Marziks Handynummer, doch ihr Anruf landete sofort in der Sprachbox. Festnetz hatte er keines mehr, wie die meisten, aber seine Wohnadresse lag nicht allzu weit vom Institut für Gerichtsmedizin entfernt. Es würden zehn Minuten Umweg sein, mehr nicht.
Das erwähnte sie auch bei der Teambesprechung und fand in Sieghart, dem Leiter der Gruppe, unverhofft einen Unterstützer. Er stand am Fenster, eine hagere, groß gewachsene Gestalt. »Mich haben auch schon drei Leute auf die Parallele zum Fall Just aufmerksam gemacht«, sagte er. »Kann nicht schaden, den Mann schnell zu überprüfen.«
»Och bitte, Heinz«, stöhnte Oliver. »Wir haben keine Zeit für Witzbolde. Gibt es eine Leiche? Oder überhaupt irgendein Bedrohungsszenario? Dieser Marzik will bloß Klicks für seinen Blog, das ist alles.«
»Hat schon jemand versucht, ihn anzurufen?«, fragte Manfred und biss in seine Frühstückssemmel.
»Ja, aber er geht nicht ans Telefon«, erklärte Fina. »Vorhin war es nicht im Netz, aber ich versuche es gerne gleich noch einmal.« Sie hörte selbst, wie müde sie klang; der Schlafmangel von letzter Nacht rächte sich bereits. Und dabei hatte der Tag eben erst begonnen.
»Kann ich auch erledigen«, sagte Manfred kauend.
»Danke.« Fina lächelte ihm zu und wünschte sich, sie würde ihr Büro mit ihm teilen, dem bedächtigen, rundlichen Manfred. Leider verstanden er und Ahmed sich blendend, und keiner von ihnen dachte daran, den anderen gegen Oliver einzutauschen.
»Mir ist egal, wer diesen Marzik anruft«, sagte Sieghart. »Aber wenn ihr ihn erwischt, sagt ihm, er soll den Beitrag schleunigst löschen, wenn er keine Schwierigkeiten bekommen will.«
Auf dem kurzen Weg zum gerichtsmedizinischen Institut in der Sensengasse pfiff Oliver demonstrativ vor sich hin, als säße er allein im Wagen. Abgesehen davon, dass er ein Stück auf der Straßenbahntrasse fuhr, um im Morgenverkehr schneller voranzukommen, verlief die Fahrt beinahe stressfrei.
»Bei wie vielen Autopsien warst du schon dabei?«, erkundigte er sich und klang ehrlich interessiert.
»Das waren bisher zwei.« Beide waren ihr noch überdeutlich in Erinnerung. Eigentlich gehörte dieser Part der Ermittlungen in die Verantwortung der Kollegen aus der Tatortgruppe, aber manchmal wollte Sieghart – so wie es früher üblich gewesen war – jemanden vom eigenen Team dabeihaben. Ab und zu würde das eben Fina sein, sie wollte keine Sonderbehandlung.
»Zwei Mal? Na, dann hast du ja schon Routine.« Ruckartig bog Oliver auf den Parkplatz des Departements für Gerichtsmedizin ein. »Dann kann ich ja im Hintergrund bleiben.«
Fünf Minuten später wünschte Fina, er hätte sich an diese Ankündigung gehalten, aber er schob sie durch die Gänge des Instituts, als wäre er dort zu Hause. Schob sie schließlich auf einen groß gewachsenen, halb kahlen Mann im weißen Arztkittel zu, der vor einer stählernen Schiebetür stand. »Guten Morgen, Professor Weigel. Ich hoffe, wir sind pünktlich?« Die Männer schüttelten einander die Hände. »Ich glaube, Sie kennen meine junge Kollegin noch nicht. Darf ich vorstellen? Bezirksinspektorin Serafina Plank.«
Fina sah das kurze Zucken im Gesicht des Professors, der sich aber sofort wieder im Griff hatte und ihr ebenfalls die Hand reichte.
Wollte man ernst genommen werden, war der Name Serafina eine Strafe der Götter. Doppelt galt das, wenn man mit einem Körperbau wie dem ihren ausgestattet war; dreifach, wenn man mit Nachnamen Plank hieß. Serafina Plank. Es hörte sich an, als würde ein Engel im Flug gegen eine Betonmauer prallen.
»Wir haben schon alles vorbereitet«, sagte Weigel. »Dahinten sind die Garderoben, Sie wollen sich sicher umziehen.« Er wies mit dem ausgestreckten Arm auf eine kleine Tür.
Eine Assistentin suchte Kleidung für Fina heraus, Tunika und Hose, beides in OP -Grün. »Was zu lang ist, stecken Sie am besten in die Gummistiefel«, empfahl sie, als Fina begann, die Hosenbeine nach oben zu krempeln.
Gummistiefel, richtig. Allein die Erwähnung weckte wieder deutliche Bilder der letzten Leichenöffnung, bei der sie anwesend gewesen war.
Fertig ausstaffiert öffnete sie die Schiebetür zum Sektionssaal, und der Geruch von Tod und Chemikalien schlug ihr entgegen. Nadine Justs Körper lag auf dem Seziertisch, unbedeckt; Professor Weigel stand mit dem Diktiergerät daneben. »Können wir anfangen?«
Fina blickte über die Schulter zurück. »Mein Kollege ist noch nicht …«
»Er hat ein paar Telefongespräche, meinte er. Und dass es ja genüge, wenn einer von Ihnen anwesend sei.«
Stumm nickend stellte Fina sich neben den blank polierten Tisch. Blickte in das tote Gesicht, das bereits gewaschen worden war, nur im blonden Haar klebte noch Blut.
»Äußerliche Besichtigung.« Weigel begann, in sein Diktafon zu sprechen. »Weibliche Leiche, siebenundzwanzig Jahre alt, ein Meter achtundsiebzig groß, dreiundsechzig Kilogramm. Rigor Mortis voll ausgeprägt.«
Fina hatte den Blick gesenkt, auf Nadine Justs linke Hand. Da war ein tiefer Kratzer, den man in all dem Blut am Tatort nicht gesehen hatte.
Weigels Assistent reichte seinem Chef ein metallenes Maßband, das dieser am Hals der Toten anlegte. »Wundmorphologie: Zwei Einstiche am Hals linksseitig, glattrandig rund, Durchmesser null Komma sieben Zentimeter, gleichmäßige Gewebedurchtrennung. Tiefe …«, er ließ sich ein weiteres Instrument reichen, »sieben Komma zwei Zentimeter beim oberen und sechs Komma acht Zentimeter beim unten liegenden Stich. Verdacht auf Penetration der Arteria carotis communis.«
Während der Professor weitersprach, glitt Finas Blick über die Instrumente auf dem Beistelltisch. Skalpelle, Pinzetten, Knorpelmesser, Wundhaken, Knochensägen. All das würde gleich diesen Körper zerstören, auf dessen Aussehen Nadine Just unzweifelhaft sehr viel Wert gelegt hatte.
Weigel war nun an die Seite getreten, an der auch Fina stand. »Läsion an der rechten Handinnenfläche, sechs Komma fünf Zentimeter lang. Möglicherweise Abwehrverletzung.«
Dass der Rechtsmediziner nun ihren Platz beanspruchte, nahm Fina als willkommenen Anlass, ein paar Schritte zurückzutreten. »Die Todesursache waren die Stiche am Hals, oder nicht?«
Weigel unterbrach sein Diktat. »Davon ist auszugehen, ja. Aber wir sehen uns trotzdem auch alles andere genau an. Sie kennen das ja.«
Fina zwang sich zu einem halbherzigen Lächeln und einem Nicken. Hielt weiterhin Abstand vom Tisch, als Weigel nach einem Skalpell griff und mit der inneren Besichtigung begann.
Sie merkte, dass sie nun flacher atmete, obwohl keinerlei Verwesungsgeruch in der Luft hing – aber einer nach Schlachthof. Nach erkaltetem Fleisch.
Die Rechtsmediziner begannen mit der Entnahme der Organe, die Leber wurde gewogen, dann das Herz. Fina musste an das altägyptische Totengericht denken, bei dem das Herz des Verstorbenen gegen eine Feder aufgewogen wurde. Gegen eine Feder, wie unfair.
Die Sache mit dem Geruch wurde dramatisch schlimmer, als Weigel den Magen öffnete und sein Assistent den Inhalt in einer Schüssel auffing. Fina war vage dankbar dafür, dass sie nicht gefrühstückt hatte, wusste aber, dass in Kürze auch der Darm präpariert werden würde.
Und Oliver drückte sich einfach. Würde später sicher ein paar originelle Bemerkungen über ihre fahle Gesichtsfarbe loslassen und darüber, dass es nicht schaden könne, wenn es ihr mal kurz den Appetit verschlug. Vielleicht wartete er auch vor der Tür darauf, dass sie nach draußen stürzte, beide Hände vor den Mund gepresst, auf der Suche nach der Toilette.
Das würde nicht passieren. Teils aus Trotz, teils um sich zu beweisen, dass sie es konnte, trat sie wieder näher an den Sektionstisch heran. Weigel warf ihr einen freundlichen Blick zu. »Frau Just scheint zuletzt Salat gegessen zu haben«, sagte er.
Eine halbe Stunde später wies der Professor seinen Assistenten an, die Organe zurück in den Körper zu legen und den Torso wieder zuzunähen. Er zog die Latexhandschuhe aus und trat neben Fina. »Todesursache war Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff durch schnellen Blutaustritt. Mit den Stichen wurden die Arteria carotis communis und die Vena jugularis interna durchtrennt.«
»Die Halsschlagader?«, fragte Fina nach.
»Genau. Und die innere Drosselvene. In der Lunge findet sich aspiriertes Blut. Als Tatwerkzeug vermute ich etwas sehr Spitzes, aber ohne Kanten. Kein Messer, eher einen Rundmeißel. Oder einen Grillspieß.«
»Verstehe.« Auch Fina entledigte sich der Handschuhe, die sie – anders als die Gummistiefel – nicht gebraucht hätte. »Gibt es sonst noch etwas Erwähnenswertes?«
»Wir müssen die Toxikologie abwarten, ich schicke ein paar Proben ins Labor. Aber nachdem das Opfer sehr rasch gefunden wurde und der Todeszeitpunkt gut eingrenzbar ist …« Er zuckte die Schultern. »Ich glaube nicht, dass uns noch große Überraschungen erwarten.«
»Lässt sich etwas zum Täter sagen?«
»Rechtshänder, hat dem Wundkanal zufolge von der Seite angegriffen. Muss zweimal sehr schnell zugestochen haben, bevor die Frau reagieren konnte.« Er formte die rechte Hand zu einer Art Klaue. »Wie eine Viper, verstehen Sie? Die stoßen auch oft mehrfach zu.« Zur Veranschaulichung ließ er die gekrümmten Finger zweimal auf Finas Gesicht zuschnellen. »Einen dritten Stoß scheint sie reflexartig mit der Hand abgewehrt zu haben, aber der war auch nicht mehr nötig.«
»Kann sie noch um Hilfe gerufen haben?«
Weigel überlegte kurz. »Die Luftröhre ist unverletzt, aber der Kreislauf muss sehr schnell zusammengebrochen sein … wenn, hat sie bestenfalls um Hilfe geröchelt.« Er schien zu registrieren, dass seine letzte Bemerkung bei Fina nicht gut ankam, und klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter. »Entschuldigen Sie bitte, Berufskrankheit. Die meisten von uns kompensieren ihre tägliche Portion Tod durch schwarzen Humor.«
»Ja.« Fina warf einen letzten Blick auf Nadine Justs Leichnam, der gerade mit groben Stichen zugenäht wurde. »Sie schicken uns den Bericht?«
»Natürlich.« Er reichte ihr die Hand, diese Hand, die noch vor Kurzem in Justs offener Bauchhöhle gesteckt hatte. »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Sie sind ein Gewinn für das Team.«
Ein dickeres Fell, dachte Fina auf dem Weg nach draußen. Papa hat doch recht gehabt, ohne wird es nicht gehen. Sonst kann ich gleich den Job wechseln.
Sie entdeckte Oliver auf einer Bank vor dem Gebäude. Er hatte eine Zigarette in der linken, das Smartphone in der rechten Hand und scrollte sich durch die News-Seiten. »Ah«, sagte er, ohne aufzublicken. »Ich rieche dich kommen.«
Jede Replik, die ihr durch den Kopf ging, hätte ihn nur zufrieden grinsen lassen, also sagte sie nichts, sondern griff sich den Autoschlüssel, der neben ihm auf der Bank lag. Ungeachtet seines Protests setzte sie sich hinters Steuer und ließ den Motor an.
Zehn Sekunden später saß Oliver neben ihr. »Neue Erkenntnisse?«, fragte er, jetzt wieder sachlich.
Der Drang, ihn einfach zu ignorieren oder ihm unter die Nase zu reiben, dass er nicht fragen müsste, wenn er geblieben wäre, war stark. Aber auf diese Art würden sie nie zu einer produktiven Zusammenarbeit kommen.
»Sieht aus, als wäre alles wie vermutet. Todesursache war der starke Blutverlust, der Angriff dürfte von der Seite gekommen sein. Mit einer spitzen, spießartigen Waffe.«
»Okay.« Er ließ das Fenster auf der Beifahrerseite nach unten gleiten. »Dann fahren wir jetzt zurück.«
Es war als Anweisung gemeint, vermutete Fina, aber zu schwammig formuliert, um nicht auch als Vorschlag interpretiert werden zu können. Sie nahm Kurs auf den achten Bezirk, und als Oliver es bemerkte, waren sie schon fast an Gunther Marziks Adresse angekommen. Ich werde in Kürze tot aufgefunden werden . Sie hoffte, sie würde sich davon überzeugen können, dass er bloß einen schäbigen Witz gemacht hatte.
»Was willst du … o nein, kommt gar nicht infrage!«, rief Oliver. »Davon war nicht die Rede! Wir haben mehr als genug anderes zu tun.«
»Stimmt«, entgegnete sie trocken. »Deshalb hast du ja auch die letzte Stunde über ein Sonnenbad vor der Gerichtsmedizin genommen.«
Während er sichtlich nach einer passenden Antwort suchte, bog Fina in die Florianigasse ein, in dem Bewusstsein, dass ein freier Parkplatz hier einem Lottotreffer gleichkam.
Das Haus lag auf der linken Straßenseite. Fina setzte den Blinker und hoffte auf eine Ausfahrt, in die sie den Wagen für ein paar Minuten würde abstellen können. Neben sich hörte sie Oliver etwas von einem Nachspiel murmeln, das ihre Aktion sicher haben würde, doch das nahm sie nur halb zur Kenntnis. Denn eben war jemand aus der Tür des Hauses getreten. Jemand, den sie kannte. Es war Tibor Glaser.