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H erzufahren war ein Fehler gewesen, das hatte Tibor sich schon gedacht, als er vor dem Haus angekommen war und Gunther Marziks Namen auf dem Klingelpanel gesucht hatte. Gefunden hatte er einen vergilbten, halb abgeblätterten Aufkleber, auf dem nur noch die Buchstaben G. Marz zu lesen waren. Er dachte an die Fotos des ungepflegt wirkenden Mannes mit dem aggressiven Funkeln in den Augen, die immer wieder die Blogeinträge flankierten, und wäre beinahe wieder gegangen. Doch dann rang er sich durch und drückte die Klingel.

Marziks gestriger Post konnte unmöglich Zufall gewesen sein, und vielleicht würde eine kurze Unterhaltung mit dem Mann ein wenig Licht auf das werfen, was mit Nadine passiert war. Auch wenn Tibor nichts mehr mit ihr zu tun hatte, auch wenn sich beim Gedanken an ihre letzten Gespräche alles in ihm zusammenzog – ihn ließ die Erinnerung an diesen Anblick nicht los. Nadine und das viele Blut. Ihr leerer Blick.

Er hatte die Nacht über sicher fünfzig Mal das Video angeklickt, der lebendigen Nadine dabei zugesehen, wie sie ihre eigene Ermordung ankündigte. Es hatte etwas Unwirkliches – solche Dinge passierten einfach nicht. Dass Marzik noch am selben Tag einen fast identischen Text absonderte, machte ihn zum einzigen Ankerpunkt in einem völlig irrealen Szenario. Deshalb stand Tibor nun vor dem Haus in der Florianigasse und nahm den Finger nicht mehr von der Klingel.

Doch es kam keine Reaktion, und vielleicht war das gut so, auch wenn Tibor wusste, wie sehr Untätigkeit ihm zusetzen würde. Marzik aufzusuchen war der einzig aktive Schritt, den er setzen konnte. Eine zweite Idee hatte er nicht.

In dem Augenblick, als er aufgeben und gehen wollte, wurde die Eingangstür von innen geöffnet, und eine Frau mit zwei Dackeln an der Leine trat heraus. Tibor lächelte ihr freundlich zu und schlüpfte ins Haus.

Marzik hatte auf Nummer acht gewohnt, im zweiten Stock. Tibor stieg langsam Stufe für Stufe die Treppe hinauf. Es würde nicht einfach sein, einen überzeugenden Anfang für das Gespräch zu finden. Wenn er sofort die Karten auf den Tisch legte und nach den Hintergründen für den Blogeintrag fragte, würde der Mann ihm vermutlich die Tür vor der Nase zuschlagen. Und falls er wirklich nicht zu Hause war – wie lange sollte Tibor sinnvollerweise warten?

Doch schon, als er sich der Tür näherte, wurde ihm klar, dass er sich ein weiteres Mal Klingeln wohl sparen konnte. Auf der Fußmatte lagen Zeitungen, mindestens acht Stück. Falls Marzik geplanterweise weggefahren war, hatte er vergessen, sein Abo ruhend zu stellen.

Tibor bückte sich und suchte nach dem ältesten Blatt, das ganz zuunterst lag. Vor zehn Tagen erschienen.

Zehn Tage, in denen niemand die Schwelle dieser Wohnung überschritten hatte. Das ließ eine Menge Schlüsse zu. Besser, er ging jetzt. Besser, er ließ die Dinge auf sich beruhen und lenkte sich auf andere Weise ab – mit der Solarpaneel-Kampagne zum Beispiel, an der die Agentur gerade dran war. Oder mit einer Flasche Gin. Er war Nadine nichts mehr schuldig, sie wäre auch ermordet worden, wenn er sich nicht von ihr getrennt hätte. Schlechtes Gewissen war nicht angebracht, war nur ein unpassender Reflex, den er besser unterdrücken sollte.

Aber etwas in ihm war noch nicht bereit, lockerzulassen, also drückte er auch diese Klingel. Zog sich dazu den Ärmel seiner Jacke über den Daumen und kam sich lächerlich dabei vor.

Aus dem Inneren der Wohnung hörte er die Glockentöne von Big Ben, aber das war alles. Keine Schritte, kein »Komme gleich«.

Okay, nun reichte es wirklich. Er machte kehrt, lief die Treppen nach unten und trat vor das Haus. Er würde jetzt in die Agentur fahren und sich den betroffenen Blicken und verschämten Fragen seines Teams stellen. Früher oder später musste er das so oder so hinter sich bringen.

Er zog eben den Autoschlüssel aus der Jackentasche, als jemand seitlich in sein Blickfeld trat. Klein, kompakt, mit dunklem Haarknoten. »Herr Glaser?«

Die Polizistin von gestern. In seinem Kopf baute sich blitzschnell das Bild zusammen, das er gerade abgeben musste: das des Zeugen, der gestern die Leiche seiner Ex gefunden hatte und sich nun vor der Adresse eines Mannes herumtrieb, der ebenfalls seinen bevorstehenden Tod öffentlich gemacht hatte.

Und der seit zehn Tagen nicht mehr vor der Tür gewesen zu sein schien.

Tibor versuchte, sich zu sammeln. »Frau …«

»Plank.«

»Genau, Frau Plank. Guten Tag. Sie fragen sich bestimmt, warum ich hier bin, und das kann ich Ihnen auch erklären: Mir hat gestern ein Freund den Link zu Gunther Marziks Blog geschickt, und der letzte Eintrag war so … also, so ähnlich wie das …« Er merkte, dass er ins Stottern geriet, und hielt kurz inne. »Er war fast im gleichen Wortlaut verfasst wie das, was Nadine gesagt hat«, fuhr er ruhiger fort. »Deshalb dachte ich …«

Die Polizistin nickte, aber nicht bestätigend. Eher, als hätte sie eine lahme Erklärung wie diese erwartet.

»Ich kann Ihnen die Nachricht mit dem Link zeigen!« Tibor zog sein Handy hervor, so hastig, dass es ihm beinahe aus der Hand glitt. Er öffnete die App und scrollte nach unten, bis er Bernies letzte Meldung fand: Ich verstehe auch nicht, was los ist, und ob gerade etwas sehr Merkwürdiges Schule macht, …

Dazu der Link. Tibor hielt der Polizistin das Handy vors Gesicht, doch sie warf nur einen kurzen Blick darauf und seufzte dann. Es dauerte einen Moment, bis Tibor begriff, dass nicht sein Übereifer der Grund dafür war, sondern die Tatsache, dass Planks Kollege eben mit lautem Knall die Autotür hinter sich zugeworfen hatte und nun quer über die Straße heraneilte.

Der überhebliche Typ mit seinem übertriebenen Kumpelgetue. »Na, so was«, rief er im Näherkommen. »Herr Glaser. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das ein Zufall ist.«

»Natürlich nicht. Ich habe gerade Ihrer Kollegin erklärt …«

Der Mann ließ ihn nicht aussprechen. »Fina, du überprüfst, ob Marzik zu Hause ist. Und wir, Herr Glaser, unterhalten uns.«

»Überprüfen ist nicht nötig.« Tibor empfand grimmiges Vergnügen dabei, den Polizisten zu ignorieren und sich nur an Plank zu wenden. »Ich war im Haus, vor der Wohnung stapeln sich die Zeitungen, ich würde wetten, dass auch der Briefkasten voll ist. Herr Marzik reagiert nicht auf die Türklingel.«

Plank verzog leicht den Mund. »Verstehe. Haben Sie, hm, wie soll ich sagen – sonst etwas beobachtet? Oder gerochen?«

Ihm war klar, was sie meinte. Und nun, da sie es ansprach, glaubte er wirklich, etwas zu riechen, das er nicht definieren konnte, das aber von ihr auszugehen schien. »Nein«, sagte er. »Wenn Sie meinen, ob aus der Wohnung Leichengeruch oder Brandgeruch oder Ähnliches dringt – nein.«

»Verstehe.« Plank wandte sich ab, doch schon beim ersten Schritt, den sie auf das Haus zutat, winkte ihr Kollege sie zurück. »Schon gut, ich übernehme das. Du wartest hier mit Herrn Glaser. Erkläre ihm, dass er Beobachtungen wie diesen Blogeintrag an uns melden soll, statt einen auf Sherlock zu machen.« Er nickte ihnen ungnädig zu und marschierte zum Hauseingang, wo er begann, verschiedene Klingelknöpfe zu drücken.

Tibor lehnte sich gegen einen Laternenpfahl. »Ich wollte Ihnen nicht ins Handwerk pfuschen«, sagte er müde. »Es ist nur … mich lässt Nadines Tod nicht los. Und meine beste Bewältigungsstrategie war es schon immer, aktiv zu werden.«

»Aha.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und beobachtete dann weiter ihren Kollegen, dessen Namen Tibor vergessen hatte, der aber nun die Tür aufdrückte und im Haus verschwand.

Einige Zeit lang schwiegen beide. Dann hielt Tibor es nicht mehr aus. »Mir ist schon klar, wie das wirken muss. Gestern bin ausgerechnet ich es, der Nadine findet, und heute laufe ich Ihnen schon wieder über den Weg.«

Sie lächelte nicht, maß ihn nur mit prüfendem Blick. »Wir ziehen keine voreiligen Schlüsse, falls Sie das befürchten.«

Danach kehrte erneut Schweigen ein. Tibor beobachtete, wie Plank immer wieder den Kopf seitlich drehte, wie um an ihrem Haar zu riechen, und allmählich dämmerte ihm ein möglicher Grund dafür. Er biss die Zähne zusammen, fragte sich, ob die Polizistin vielleicht eben das gesehen hatte, was er sich nicht vorzustellen wagte.

»Weiß man schon«, begann er, sich von Wort zu Wort tastend, »wie Nadine … also, woran genau sie gestorben ist?«

Plank sah zu ihm hoch, sichtlich irritiert, als hätte er gefragt, ob Wasser nass sei. »Sind Sie eigentlich Rechts- oder Linkshänder?«

»Rechts«, antwortete er automatisch und begriff gleichzeitig, worauf die Frage vermutlich abzielte. Also gab es bereits Erkenntnisse, was hieß, dass es wohl auch eine Obduktion gegeben hatte. Vielleicht erst heute. Gerade eben. Nun meinte er auch, den Geruch stärker wahrzunehmen, immer dann, wenn Plank sich bewegte. Möglicherweise Einbildung, aber wenn nicht …

Unwillkürlich wich Tibor einen Schritt zur Seite. »Sie haben Marziks Blogeintrag auch gelesen?«, fragte er, im verzweifelten Bemühen, Small Talk zu machen. Was wahrscheinlich ein Fehler war, der ihn nur noch verdächtiger erscheinen lassen würde.

»Habe ich«, sagte Plank. Ihr Blick hing am Hauseingang, durch den ihr Kollege verschwunden war. »Kennen Sie Herrn Marzik denn?«

»Nein. Also, ich habe gelegentlich etwas von ihm gelesen, glaube ich, aber das ist schon einige Zeit her. Hat er nicht früher eine Kolumne für eine Tageszeitung geschrieben? Und war bekannt dafür, dass er nie ein Blatt vor den Mund genommen hat?«

Plank hob die Augenbrauen. »Ist das so?«

»Ja. Also, wenn ich mich richtig erinnere. Persönlich bin ich ihm aber nie begegnet, falls Sie das meinten.«

Sie zückte ihr Handy, tippte blitzschnell etwas ein und steckte es wieder weg. Ihr Kollege war noch nicht zurück – konnte es sein, dass er Marzik doch angetroffen hatte?

Aber kurz darauf trat der Polizist wieder auf die Straße hinaus. »In der Wohnung rührt sich nichts. Ich habe mit zwei Nachbarn gesprochen, aber die können sich nicht mehr genau erinnern, wann sie ihn zuletzt gesehen haben. Sie meinen, es wäre auf jeden Fall länger als eine Woche her.«

»Vermisstenmeldungen checken«, murmelte Plank. »In Ordnung. Herr Glaser? Sie bleiben bitte in der Stadt, und es wäre hilfreich, wenn Sie sich doch noch erinnern könnten, mit wem alles Frau Just Streit hatte.« Sie maß Tibor mit einem Blick, der etwas länger dauerte, als ihm angenehm war. »Wir melden uns wieder.«