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I ch wüsste nicht, wie er das hätte hinkriegen sollen.« Oliver saß auf dem Fahrersitz und streckte die Hand nach dem Autoschlüssel aus. »Wir wissen, wann er beim Sender angekommen ist. Es war jemand bei ihm, als er die Garderobe betreten hat.«

Fina ließ den Schlüssel in Olivers Hand gleiten und richtete ihren Blick geradeaus, während er losfuhr und dabei ohne Pause weitersprach. »Er hätte die Just umbringen und sich dann komplett umziehen müssen, denn er hätte jede Menge Blut abgekriegt. Denk an die Spritzmuster. Dann hätte er ungesehen wieder aus dem Haus müssen, um danach ganz entspannt den Portier um Zutritt zu bitten. Nicht realistisch, um es vorsichtig auszudrücken.« Oliver blieb ruckartig vor einer roten Ampel stehen. »Aber trotzdem hast du ihn irgendwie im Visier, stimmt’s?«

Fina antwortete nicht. Einerseits, weil Olivers belehrender Ton ihr auf die Nerven ging. Andererseits, weil sie Glasers Auftauchen vor der Wohnung des Bloggers nicht einfach so abtun konnte. Er musste einen Grund gehabt haben, herzufahren. Und ärgerlicherweise war er vor ihnen da gewesen, er hatte Gelegenheit gehabt, Spuren zu verwischen oder Beweisstücke verschwinden zu lassen.

Aber sie musste zugeben, Oliver lag richtig, was die zeitlichen Abläufe der gestrigen Tat betraf. Und das mit Marzik war ein Schuss ins Blaue gewesen, eigentlich wussten sie rein gar nichts. Er konnte in Urlaub gefahren sein und sein Posting von einem Hotel aus hochgeladen haben, als idiotischen Scherz. Es gab keine Vermisstenanzeige und erst recht keine Leiche. Vermutlich gab es nur einen Blogger, der sich über die Verwirrung freute, die er gestiftet hatte.

Im Büro saß bereits der Fernsehchef.

Kurt Eferling war ein kleiner Mann, sogar in Finas Augen, wahrscheinlich hielt er sich deshalb so gerade. Obwohl er die sechzig schon hinter sich gelassen haben musste, war er schlank und trug einen dieser Slim-Fit-Anzüge, die gleichzeitig förmlich und sportlich wirkten. Sein Gesicht war Fina vage vertraut, er tauchte immer wieder bei gesellschaftlichen Events und Charity-Veranstaltungen auf, und er war es sichtlich nicht gewohnt, warten zu müssen.

»Tut mir wirklich leid«, sagte Oliver und schüttelte Eferling die Hand. »Ein ungeplanter Zwischenstopp. Möchten Sie gerne etwas trinken, bevor wir anfangen?«

Gleich würde er Fina wieder nach Kaffee schicken, doch sie hatte bereits am Tisch Platz genommen, das Aufnahmegerät vor sich abgelegt und verschanzte sich nun hinter einer, wie sie hoffte, undurchdringlichen Miene. »Setzen Sie sich doch, Herr Eferling«, sagte sie, absichtlich kühl, um einen Kontrapunkt zu Olivers Geschleime zu setzen. »Nachdem Ihre Zeit knapp ist, schlage ich vor, wir fangen gleich an. Sie waren während Nadine Justs letztem Auftritt im Haus?«

Es war Eferling anzusehen, dass er das Gespräch lieber mit Oliver geführt hätte. »Ja. Ich hatte eine Besprechung in meinem Büro.«

»Verstehe. Mit wem denn?«

Er hielt kurz inne. »Mit dem Unterhaltungschef. Alex Bertram. Sie können ihn fragen.«

»Machen wir.« Fina notierte sich den Namen. »Uns wurde gesagt, dass Frau Just Sie nach ihrem Auftritt in Ihrem Büro aufgesucht hat. Stimmt das?«

Der Mann nickte. »Ja, und sie war sehr aufgeregt. Verständlicherweise. Sie wollte, dass ich denjenigen finde, der den Teleprompter manipuliert hat. Oder diejenige, sie hatte Iris Radnitzky im Verdacht. Die Chefin vom Dienst, sie müsste eigentlich alles noch einmal abschließend kontrollieren, bevor es auf Sendung geht. Aber das … dürfte nicht passiert sein.«

»Weil Frau Just erst auf den letzten Drücker eingetroffen ist, hat Frau Radnitzky uns gestern erklärt.«

»Ja, genau. Falls eine Sprecherin oder ein Sprecher nicht auftaucht, muss jemand anderes einspringen, und Iris sagte, sie wäre mit Herumtelefonieren beschäftigt gewesen.«

Fina öffnete den Mund für ihre nächste Frage, aber da hatte Oliver schon das Wort ergriffen. »Wer schreibt üblicherweise die Nachrichtentexte? Hat Frau Just das selbst getan?«

Einer von Eferlings Mundwinkel zuckte nach oben. »Nein. Wir haben im Nachrichtenteam zwar Journalisten, die selbst moderieren und schreiben, aber Frau Just hat sich auf die Präsentation konzentriert. Ihre Texte wurden von der Redaktion verfasst.«

Sie hatten schon gestern mit der jungen Redakteurin gesprochen, die die paar Sätze für die Kurzsendung zusammengestoppelt hatte. Melanie Dell war fast noch eine Praktikantin, gerade einmal dreiundzwanzig Jahre alt, und die ganze Zeit über den Tränen nahe. »Ich habe das nicht geschrieben, es war ein Beitrag über den Netzausbau, ich kann Ihnen den Text zeigen …«

Sie hatte ihn tatsächlich ausgedruckt, und da war nirgendwo die Rede von Justs bevorstehendem Tod gewesen. Aber die Texte wurden – ganz oldschool – auf USB -Sticks gezogen, mit denen dann ein Notebook gefüttert wurde, über das der Teleprompter lief. Wer den Stick ins Studio gebracht hatte, wusste die Jungredakteurin nicht. Es war so stressig gewesen. Aber vermutlich Iris Radnitzky, meinte sie, die kümmerte sich um alles.

»Frau Just war also bei Ihnen im Büro«, schaltete Fina sich wieder in die Vernehmung ein. »Wie lange ungefähr?«

Eferlings Antwort kam unerwartet schnell. »Höchstens fünf oder zehn Minuten. Ich musste weg, ich hatte ein wichtiges Abendessen mit Werbekunden, sonst wäre ich länger geblieben und hätte sie beruhigt. Aber meine Frau hatte schon zweimal aus dem Wagen angerufen, und wir waren spät dran …«

Zum Ende hin hatte Eferling immer schneller gesprochen, als wäre es ihm unangenehm, seine Ehe und Nadine Just im gleichen Atemzug zu erwähnen. Damit bestätigte er in Finas Augen das, was Radnitzky angedeutet und Glaser explizit ausgesprochen hatte. Aber sie wollte hören, wie Eferling es selbst sagte. Sie wollte ihm diese Frage nicht ersparen. »Wie eng war Ihr persönliches Verhältnis zu Frau Just?«

Sie konnte es hinter seiner Stirn arbeiten sehen. Wie er sich fragte, was sie schon gehört hatten. Ob es sinnvoll war, die Sache runterzuspielen. Ob sie ihn bei seiner Frau verpetzen würden.

»Wir haben uns gut verstanden«, sagte er schließlich. »Sie war talentiert, und ich wollte sie für den Sender aufbauen. Aber sonst kann ich Ihnen leider nicht viel über sie erzählen, so gut kannte ich sie nicht. Außer vielleicht, dass ich sie sehr geschätzt habe für ihre … Zielstrebigkeit. Und dafür, dass sie nie ein Blatt vor den Mund genommen hat, so was ist ja eine Seltenheit heutzutage. Damit hat sie sich nicht sehr viele Freunde gemacht, aber das haben Sie bestimmt schon von den anderen erfahren.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, und Oliver räusperte sich. »Wir werden Sie nicht mehr viel länger aufhalten. Aber ich hätte gern eine persönliche Einschätzung von Ihnen: Gibt es jemanden, dem Sie die Tat zutrauen? Sie machen auf mich den Eindruck eines Menschenkenners.«

Fina konnte sich einen ungläubigen Blick in Olivers Richtung nicht verkneifen. Was versprach er sich davon, dem Mann Honig ums Maul zu schmieren? Von wegen Menschenkenner. Nach allem, was sie bisher im Sender gehört hatte, interessierte Eferling sich nicht sehr für Menschen, seine Mitarbeiter waren für ihn mehr oder weniger austauschbar. Er betrachtete sie nicht als Teil seines Teams, sondern eher als Untergebene.

Und jetzt lächelte er wie ein gütiger König. »Wo denken Sie hin, ich würde nie jemanden von unseren Leuten verdächtigen. Wirklich nicht. Die Atmosphäre bei Quick-TV ist sehr freundschaftlich, sehr kollegial. Ich bin überzeugt davon, es muss jemand von außerhalb gewesen sein.«

»Was uns zu den Sicherheitsmaßnahmen im Haus bringt«, sagte Fina schnell, während Eferling sich bereits von seinem Stuhl erhob.

»Natürlich.« Er blickte wieder auf seine Uhr. »Die Aufnahmen der Überwachungskamera am Eingang haben Sie hoffentlich schon erhalten? Über sonstige Details sprechen Sie am besten mit unseren Portiers. Die sind gleichzeitig auch Sicherheitsbeauftragte, in gewisser Weise.«

Er streckte Fina die Hand entgegen. »Ich stehe Ihnen für Auskünfte gerne wieder zur Verfügung«, sagte er, als hätte er tatsächlich eine Wahl in dieser Sache.

Oliver bedankte sich für die große Hilfe, dann begleitete er Eferling nach draußen. Fina sah den beiden nach, dem großen Mann und dem kleinen. Doch obwohl Oliver den Senderchef um gut einen Kopf überragte, war nicht zu übersehen, wie sehr er zu ihm aufblickte.

Ich habe sie sehr geschätzt für ihre Zielstrebigkeit. Und dafür, dass sie nie ein Blatt vor den Mund genommen hat .

Fina setzte sich hinter ihren Computer. Das mit dem Blatt würde sie sich genauer ansehen, auch wenn sie sicher war, dass Eferling an Nadine Just vor allem andere Dinge geschätzt hatte. Ihren Hintern, zum Beispiel.

Nein, stopp. So lief das nicht. Kein Schablonendenken, auch wenn es in diesem Fall schwerfiel. Sie klickte den Browser an und stellte die Sitzfläche ihres Stuhls auf die höchstmögliche Position. Irgendjemand musste kürzlich auf ihrem Platz gesessen haben, wahrscheinlich sogar Oliver, auf dessen Schreibtisch es auch jetzt wieder aussah, als wäre eine Handgranate explodiert.

Nadine Just, gab sie bei Facebook ein. Die über tausend Kommentare, die seit gestern unter ihrem letzten Posting geschrieben worden waren, würden sie Stück für Stück durchgehen müssen.

Seien wir ehrlich, die Fernsehpreise räumen immer nur langweilig-frustrierte Produktionen und langweilig-frustrierte Frauen ab, die keiner kennt und keiner kennen will, hatte Just vermeldet und dazu freundlicherweise das Foto einer Kollegin gepostet. Fina gestand es sich nur ungern ein, aber sie kannte sie tatsächlich nicht.

Darunter gab es jetzt eine Menge Beileidsbekundungen, Rest-in-Peace-Bildchen und Engel-GIFs. Aber auch Meldungen wie Sie war eine Bitch, aber das hat sie nicht verdient oder Nicht schade um sie, sorry .

Fina scrollte weiter nach unten, und eine halbe Stunde später war klar, dass sie vor einer Monsteraufgabe standen. Sie hatte erst die Postings des letzten Monats durchgesehen, aber schon in diesem Zeitraum zwölf Leute gefunden, über die sich Just abfällig bis rufschädigend geäußert hatte. Von denen, mit denen sie sich in die Haare geraten war, ganz zu schweigen.

Glaser hatte nicht übertrieben, seine Ex-Freundin war keiner Gelegenheit zum Streit aus dem Weg gegangen.

Sie würden eine Liste erstellen müssen. Herausfinden, wo die jeweiligen Personen sich gestern aufgehalten hatten. Aufschlüsseln lassen, wer hinter anonymen Konten steckte. Immerhin war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Täter nicht von allzu weit herkam. Auch wenn das Internet die ganze Welt umspannte, kaum jemand setzte sich extra in ein Flugzeug, um eine unliebsame Unbekannte aus dem Weg zu räumen.

In einem neuen Word-Dokument notierte Fina die Namen der Facebook-User, die besonders heftig auf Just reagiert hatten, während ihre Gedanken zu Tibor Glaser und Kurt Eferling wanderten. Und zu der Binsenweisheit, dass Frauenmorde üblicherweise von nahestehenden Männern begangen wurden. Demnach wäre es viel vernünftiger, seine Energie auf den engsten Kreis rund um das Opfer zu konzentrieren. Sich beispielsweise mit Eferlings Frau zu unterhalten, von der sicher erhellendere Erkenntnisse zu erwarten waren als von Leuten, die ihre Wut im Netz auslebten.

Fina klickte die Liste weg und griff nach ihrem Schreibblock. Sie würden ohnehin jede Minute aufbrechen und ihre Befragungen im Sender fortsetzen. Sich im Studio genauer umsehen. Sich ein besseres Bild machen von …

Ihr Telefon klingelte. »Zentrale hier«, sagte eine weibliche Stimme. »Wir haben eine Meldung hereinbekommen. Eine Frau Binder behauptet, ihr Hund hätte etwas im Wald gefunden.« Kurze Pause. »Sie sagt, es ist ein Arm.«