O, der Wahnsinn der großen Stadt, da am Abend

Hallo.

Wir kennen uns noch nicht, aber ich bin hocherfreut, dich zu sehen. Ich hoffe, es ist in Ordnung, wenn ich einfach Du sage? Immerhin haben wir gemeinsam große Dinge vor, aus welchem anderen Grund solltest du sonst auch hier sein. Ich finde, da ist eine gewisse persönliche Nähe von Nutzen.

Dass ich mich trotzdem nicht mit meinem Namen vorstelle, verstehst du sicher, ich werde auch nicht nach deinem fragen, Namen werden ohnehin überbewertet. Meiner zum Beispiel wird mir überhaupt nicht gerecht. Wurde er noch nie.

Die Namen, die heute in aller Munde sind, die Namen der Toten, sind ebenfalls viel banaler, als ihre letzten Minuten es gewesen sein dürften.

Nadine Just. Gunther Marzik.

Nach allem, was man erfährt, beides unangenehme Menschen. Aber was für ein Ende! Ein Tod mit selbst vorgetragener Ankündigung, so etwas hat Größe. In der Stadt spricht man heute Abend über nichts anderes mehr, und nun haben diese beiden Tode auch uns zusammengebracht.

Ich hoffe nur, du denkst nicht, du wärst hier auf den Täter gestoßen. Bist du nämlich nicht, ich habe mit keinem der Morde etwas zu tun. Nadine Just und Gunther Marzik sind mir so egal wie tote Fliegen auf der Fensterbank.

Sehr interessiert bin ich hingegen an dem Muster, nach dem vorgegangen wird. Es ist auffällig, so wunderbar auffällig. Es lässt gar keinen anderen Schluss zu, als dass beide demselben Mörder zum Opfer gefallen sind.

Du weißt, worauf ich hinauswill, oder? Den Schluss würde man auch ziehen, wenn nun plötzlich jemand anders an dem Muster mitwebt, denkst du nicht? Ein dritter Mord, sicherlich mit kleinen Abweichungen, doch die würden kaum ins Gewicht fallen. Die können passieren.

Man muss es natürlich geschickt angehen. Darf nichts überstürzen. Das Gute ist, dass wir über beträchtlichen Vorsprung verfügen. Meine Vorbereitungszeit überspannt bereits Jahre, ich habe Dossiers erarbeitet, so umfangreich wie Lexikonbände.

Doch die sind nutzlos, wenn sie nicht endlich auch zu Taten führen, und die sollten wir geschickterweise mit denen verknüpfen, die derzeit passieren. Also lass uns zusammenfassen, was wir wissen. Was, dank Presse, allgemein bekannt ist: Der Mord an Gunther Marzik war der erste. Er war längst vollendet, als Nadine Just ihren letzten, bluterstickten Atemzug getan hat. Doch seine Leiche wurde später gefunden, gerade mal einen Tag nach dem Auftauchen der Todesankündigung.

Die hat Marzik also nicht selbst ins Netz gestellt, nein, der Täter hat gewartet, hat das Spiel mit Nadine Just eröffnet, mit größtmöglicher Außenwirkung. Wäre Gunther Marzik früher entdeckt worden, was dann? Schwer zu sagen, aber ich denke, der Täter hätte den Beitrag dann wohl nachträglich online gestellt, zähneknirschend.

Das ist eine Vorgehensweise, die wir uns merken sollten: töten zuerst, ankündigen später. Denn wenn es schiefgeht, wie stehen wir dann da?

Zuvor aber, und das ist am allerwichtigsten, müssen wir uns überlegen, wen wir aus den Schatten des bürgerlichen Lebens zerren, um ihn angemessen hinzurichten.

Den Zwerg im Nebel? Die Faltige Göttin? Den Hühnergeneral?

Nein, sag nichts. Ich teile meine Pläne gern mit dir, aber manche Entscheidungen muss man alleine treffen.

Lass dich einfach überraschen.