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#inkürzetot. Für Fina fühlte sich das immer weniger nach Drohung und mehr nach Verheißung an. Es war ein Fehler gewesen, sich freiwillig für die Internetrecherche zu melden; sie hatte bereits das zweite Aspirin intus, aber das Internet war eben bodenlos. Es tauchten ständig neue Postings mit dem Hashtag auf; Fina las alles durch und druckte die Threads aus, die nicht nach geschmacklosem Scherz klangen. Oder die Worte »ein Verbrechen wird man nicht ausschließen können« enthielten.

Immerhin bewahrte die Arbeit am Schreibtisch sie vor einer weiteren Ausfahrt mit Oliver, der mit Manfred zu Marziks Angehörigen gefahren war. Es gab eine Ex-Frau und eine Schwester, mit denen sie sprechen mussten.

Ahmed saß einen Schreibtisch weiter und wühlte sich durch Berge von Papier. Gelegentlich, wenn Fina hörbar seufzte, hob er den Kopf und lächelte ihr zu. »Du solltest Feierabend machen«, sagte er, als sie zum dritten Mal nach dem Aspirin griff. »Sieghart hat doch schon sein Okay gegeben. Und schluck ja nicht noch eine Pille, die gehen auf den Magen und auf die Blutgerinnung!«

Da war etwas dran. Fina legte die Packung zurück und griff stattdessen nach ihrem Wasserglas. Sobald sie die Augen schloss, ließen die Kopfschmerzen nach. Nach Hause gehen fühlte sich einerseits verlockend an, andererseits würde die Lawine neuer Postings sie dann morgen erschlagen. »Du würdest echt nicht glauben, wie viele Leute in Kürze tot sein wollen. Oder das jedenfalls schreiben.« Sie stand auf, ging zum Drucker und zog eines der Blätter hervor. »Da, sieh dir das an, das wirkt doch wie ein angekündigter Suizid, oder nicht? Müsste da nicht jemand tätig werden?«

Das Posting hatte sie auf Twitter gefunden, eine Susamabgrund schrieb, sie wisse nicht mehr weiter. Mann weg, Job weg, ich hasse alles, am meisten mich selbst #inkürzetot #gottseidank

Ahmed las sich die Zeilen durch. »Hm. Ja. Machen können wir da aber nichts, das weißt du.«

Leider hatte er recht, sie würden wohl nicht einmal eine richterliche Bewilligung für die Öffnung des Accounts kriegen, um herauszufinden, wer sich hinter dem Nickname verbarg. Trotzdem legte Fina das Blatt zuoberst auf den Stapel, mit flauem Gefühl im Magen.

In der Zwischenzeit waren vierzehn neue Postings mit dem Hashtag aufgetaucht, drei davon aber von Usern aus Deutschland, wie Fina nach einem Klick auf die jeweiligen Profile feststellte. Dort begann #inkürzetot nun also auch die Runde zu machen, aber wohl kaum in Zusammenhang mit ihrem Fall. Diese Postings konnte sie erst mal vernachlässi…

»Hallo!«

Sie schrak hoch. Georg stand in der Tür, in seinem lässigen Straßenmusikantenlook, und wedelte mit einer Liste. »Ihr seid auch noch immer fleißig? Umso besser, ich hab da was für euch.«

Seine sichtlich gute Laune hob auch die von Fina ein Stück. »Die gesicherten Spuren?«

»Genau, von beiden Fundorten. Jetzt brauche ich nur noch euren Wunschzettel.« Er legte die Ausdrucke auf Ahmeds Schreibtisch, die beiden Männer beugten sich darüber.

Fina stand auf und gesellte sich dazu. Die Entscheidung, welche der gesicherten Spuren auch ausgewertet werden sollten, war ein wichtiger Schritt, gerade in der ersten Phase der Ermittlung. Pro Spur kostete die Auswertung etwa hundertfünfzig Euro, und es stand nur ein begrenztes Budget dafür zur Verfügung.

»Auf jeden Fall die Fingerabdrücke«, begann Ahmed. »Und die Haare, die ihr in der Garderobe von der Just sichergestellt habt. Wir brauchen dann DNA -Abgleiche mit allen, die dort zu tun hatten.«

Georg markierte die betreffenden Zeilen. »Im Wald haben wir auch Haar gefunden, wie sieht’s damit aus? Könnte natürlich auch von Wildschweinen stammen.«

Fina las sich die Beschreibung durch. »Das war an der Kleidung? Ah ja, an der Kapuze der Jacke. Doch, da hätte ich gern eine Analyse.« Unter der Liste zog sie die Mappe mit den Fotos hervor. Die Stellen, an denen Teile von Marziks Körper gefunden worden waren. An einem der Weißdornbüsche hatte die Gruppe Tatort Faserspuren entdeckt. »Die wären eventuell auch interessant«, sagte Fina und tippte auf die Liste. Mit Schuhabdrücken sollten sie sich am besten gar nicht aufhalten – es waren nur noch Teile davon erkennbar gewesen. Alles, was aufschlussreich hätte sein können, hatten über eine Woche hinweg Wetter und Tiere unbrauchbar gemacht.

Am Waldrand, nicht weit von der Stelle, an der der Hund den abgerissenen Arm entdeckt hatte, war ein Zigarettenstummel gefunden worden, den Fina ebenfalls markierte.

»Nachdem wir jetzt die Identität kennen, gehen wir morgen in Marziks Kleingartenhaus«, sagte Georg. »Versiegelt ist es schon. Ein bisschen hoffen wir darauf, dass es als Tatort infrage kommt und Marzik erst als Toter in den Wald gebracht wurde. Dann hätten wir eine Chance auf Spuren, mit denen wir auch wirklich etwas anfangen können. Habt ihr schon etwas von der Gerichtsmedizin gehört?«

»Du meinst, was die Todesursache angeht?«, fragte Ahmed. »Nein. Noch nichts dergleichen, Todeszeitpunkt nur sehr ungefähr. Liegt zwischen acht und zehn Tage zurück.«

»Muss toll sein, wenn einen so lange keiner vermisst.« Georg klopfte mit den Fingerknöcheln auf die Bilder. »Ich mache für heute Schluss, ist gleich acht.« Mit schief gelegtem Kopf sah er Fina an. Lächelte. »Solltest du auch tun, du hast schon viermal gegähnt, seit ich hier bin.«

Unwillkürlich legte sie sich eine Hand vor den Mund. Hatte sie wirklich? Und es selbst gar nicht registriert? Dann war es tatsächlich Zeit, nach Hause zu gehen, sie würde sonst nur Fehler machen.

Nachdem Georg sich verabschiedet hatte, fuhr sie ihren Computer herunter und nahm die Jacke vom Haken. »Bis morgen, Ahmed. Bleibst du noch?«

»Höchstens zehn Minuten. Schönen Abend.«

Während Fina auf den Aufzug wartete, zog sie ihr Handy heraus. Schönen Abend, von wegen. Ihr Kühlschrank war leer, und sie würde wieder einmal irgendwelches Fast Food mit nach Hause schleppen und vor dem Fernseher in sich hineinstopfen, lustlos.

Oder sie rief Chrissie an, mit der sie sich schon viel zu lange nicht mehr getroffen hatte. Versuchen konnte sie es. Auch auf die Gefahr hin, dass sie nach einer halben Stunde vor Müdigkeit mit dem Gesicht in den Teller fallen würde.

»Na sicher will ich!« Chrissies Freude angesichts ihres Vorschlags war unüberhörbar. »Ich habe auch noch nichts gegessen. Worauf hast du Lust?«

»Darauf, nicht nachdenken zu müssen.« Fina trat auf die Straße hinaus. »Entscheide du, okay?«

»Mit Vergnügen.« Chrissie lachte. »Siebensternbräu . In einer halben Stunde?«

»Bestens.« Das Lokal lag nicht weit von Finas Wohnung entfernt. Sie würde eine Kleinigkeit essen, sich von Chrissie normale Dinge aus einem normalen Leben erzählen lassen und nach einem zehnminütigen Heimweg geradewegs ins Bett fallen.

In der Straßenbahn schloss sie die Augen und hätte fast ihre Station verpasst. Auf dem Weg zum Lokal ging sie im Kopf noch einmal die Spuren durch, für die sie eine Auswertung bestellt hatte, und ahnte schon jetzt, dass Oliver morgen kein gutes Haar an ihren Entscheidungen lassen würde.

Haar. Wildschweinhaar.

Ach was, er konnte sie kreuzweise. Wenn ihm etwas nicht passte, musste er eben zusätzliche Analysen anfordern, die Proben wurden schließlich alle aufbewahrt.

Chrissie war schon da, sie saß an einem der Tische im Innenhof, vor sich die Speisekarte und ein großes Bier, das sie beinahe umstieß, als sie aufsprang und Fina um den Hals fiel. »Endlich! Seitdem du Mörder jagst, habe ich schon befürchtet, wir sehen uns überhaupt nicht mehr!« Sie überragte Fina um fast einen Kopf, und ihr blonder Haarknoten ließ sie noch weitere fünf Zentimeter größer wirken.

»Ja, tut mir auch leid. Aber wenn man die Jüngste und die einzige Frau in der Mordgruppe ist …« Sie zuckte mit den Schultern.

»Dann will man allen beweisen, wie viel man draufhat.« Chrissie hob einen Arm, um den Kellner auf sich aufmerksam zu machen, doch der blickte in die andere Richtung. »Ich bin sicher, du bist in Kürze der Star dort. Wo bist du derzeit dran? An dem Fall mit der Fernsehfrau?«

»Ja, aber erzählen kann ich dir darüber leider nichts.«

»Das weiß ich doch. Wie läuft es mit dem Ekelkollegen? Hat er endlich kapiert, was er an dir hat?«

»Oliver?« Fina schnaubte. »Nein. Das will der auch gar nicht. Im Gegenteil, der freut sich jedes Mal halb tot, wenn ich etwas vermassele. Und um ehrlich zu sein, würde ich lieber nicht über ihn reden. Erzähl lieber du. Wie geht’s Lukas?«

Über ihren Freund konnte Chrissie ganze Abende lang reden, und genau das brauchte Fina heute. Eine Unterhaltung über nette, belanglose Mini-Probleme wie die Frage, ob Lukas das größere Büro bekommen würde, das er sich wünschte. Ob er mit der dunkelhaarigen Kollegin flirtete, die seit einem Monat zum Team gehörte. Ob Chrissie nicht besser auch Immobilien verkaufen sollte, statt weiterhin alten Damen orthopädische Schuhe anzupassen.

Sie aßen vegetarisches Chili, und Fina begann zu fühlen, wie die Anspannung aus ihrem Körper wich. Bis Chrissie irgendwann, als sie gerade die Möglichkeiten des nächsten gemeinsamen Urlaubs erörterte, plötzlich innehielt. »Sag mal, hast du einen heimlichen Verehrer?«

»Einen was?«

»Ach, ich weiß auch nicht. Da ist so ein Kerl, der alle paar Minuten in der Tür auftaucht, sich umsieht, als würde er jemanden suchen, und dann dich anstarrt. Gerade war er da und ist jetzt wieder gegangen.«

Fina drehte den Kopf, doch in dem Durchgang, der zum Innenhof führte, war niemand. Außer einem Kellner, der eben ein Tablett voller Biergläser heraustrug.

»Wie hat der Typ ausgesehen?«

»Total normal.« Chrissie runzelte die Stirn. »Mittelgroß, mittelschlank. Irgendein blaues Oberteil und Jeans. Aber wart’s ab, wahrscheinlich taucht er gleich wieder auf.«

Sie plauderten weiter, doch mit Finas Entspannung war es vorbei. Immer wieder wandte sie den Blick in Richtung Torbogen, aber der Mann kam nicht mehr zurück.