J ulius Beyers Wohnung war ein Schrein zu Ehren des Todes. Fina stand in der Mitte des schwarz ausgemalten Zimmers und wurde das Gefühl nicht los, dass die Wände stetig näher rückten. Es war, als befände sie sich in einer Gruft, obwohl die Wohnung im zweiten Stock lag.
Dunkle Samtvorhänge sperrten jedes Tageslicht aus, der Parkettboden war mit einem hochflorigen, kohlefarbenen Teppich belegt. Über dem Schreibtisch hing ein großflächiger Druck, auf dem in trüben Grün- und Grautönen ein Skelett zu sehen war, das auf einen See hinausblickte.
Sie hatten sich mit Einverständnis der Mutter und der Staatsanwaltschaft Zutritt zu Beyers Zuhause verschafft, und die Spurensicherung war vor zwei Minuten mit ihrer Arbeit fertig geworden. Georg zog sich die Kapuze vom Kopf und pustete sich eine Haarsträhne aus der verschwitzten Stirn. »Das Gemälde da, mit dem See«, sagte er. »Kennst du es?«
Fina schüttelte den Kopf. »Müsste ich?«
»Nein, ist nicht sehr berühmt, aber ich habe es einmal auf einer Ausstellung gesehen. Heißt Der Tod am Wasser und ist von Max Klinger.« Er trat einen Schritt näher darauf zu. »Hast du es dir genau angesehen? Der Tod pinkelt in den See. Ich frage mich, womit.«
In Anbetracht der Umstände kam diese Frage sehr weit hinten auf Finas Liste. »Habt ihr irgendetwas gefunden, was Julius Beyer mit den zwei bisherigen Opfern verbindet?«
»Wir wissen doch noch gar nicht, was wir bisher überhaupt gefunden haben«, sagte er in gespielt vorwurfsvollem Ton. »Ihr gebt uns echt eine Menge zu tun, neuerdings, wir kommen kaum dazu, die bisher gesammelten Spuren auszuwerten.« Er drehte sich um die eigene Achse, wie um die schaurige Zimmerdekoration in all ihrer Düsternis zu betrachten, und zum ersten Mal bemerkte Fina eine kahle runde Stelle an seinem Hinterkopf. »Anubis«, murmelte er und deutete auf eine hüfthohe Plastikstatue in der Ecke neben dem Schreibtisch.
»Ja, und im Bücherregal stehen Schrumpfköpfe aus Gummi.« Fina trat einen Schritt näher heran und zog einen der Wälzer heraus. Schob ihn zurück, griff nach dem nächsten. »Interessante Lektüre. Aleister Crowley und Dante. Julius Beyer dürfte wirklich nur ein einziges Hobby haben.«
Ahmed war hinter sie getreten. »Oder gehabt haben. Denkst du, er lebt noch?«
Die Frage hatte sie sich selbst im Halbstundentakt gestellt, seit sie das YouTube-Video gesehen hatte. »Keine Ahnung. Das hier wirkt alles so, als wäre er lieber heute als morgen tot gewesen. Als würde er sich schon mal ans Sterben gewöhnen wollen.« Sie merkte selbst, dass das weit entfernt von einer professionellen Analyse war, und räusperte sich. »Macht auch nicht den Eindruck, als hätte es hier einen Kampf gegeben, oder?« Die Frage hatte sie an Georg gerichtet, der gerade das blassblonde Haar über die kahle Hinterkopfstelle strich.
»Wir haben keinen Hinweis darauf gefunden«, sagte er. »Aber natürlich kann jemand den Mann mit vorgehaltener Waffe nach draußen gezwungen haben.«
»Oliver und ich haben die Nachbarn abgeklappert«, sagte Ahmed. »Darunter eine dieser allwissenden Fensterguckerinnen. Niemandem ist etwas Ungewöhnliches aufgefallen.«
Fina hatte sich wieder dem Bücherregal zugewandt und versuchte zu erkennen, ob es sich um das gleiche handelte, das in Beyers Videos zu sehen war. Wahrscheinlich, auch wenn die Kerzen fehlten. Sie schob einen chromfarbenen Totenschädel zur Seite und studierte die Titel.
Philosophie des Todes. Die Reise ins Jenseits. Sterbefasten. Vergänglichkeit und Endlichkeit .
Die folgenden Buchrücken waren von einem Gebilde verdeckt, das Fina für eine mexikanische Totenmaske hielt. Sie hörte, wie Georg hinter sie trat. »Schon verstörend, oder?«
»Ja. Ich denke, wenn man hier viel Zeit verbringt, hat man gar keine andere Wahl, als depressiv zu werden.«
»Wie man’s nimmt. Es würde mich nicht wundern, wenn …« Er unterbrach sich selbst. »Unsinn. Wir sollten nicht spekulieren.«
Ahmed zog eine Schublade auf und schloss sie wieder. »Ganz ehrlich? Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass wir Beyer noch lebend finden. Ist nur ein Bauchgefühl, aber meistens liege ich richtig, oder? Er muss ja nicht selbst zum Strick gegriffen haben. Vielleicht hat ihm jemand einen Gefallen getan und die Arbeit abgenommen? Einvernehmlich?« Er blickte zur Decke hinauf, die ebenfalls schwarz war, als würde er dort nach einem passenden Haken suchen.
»Aber wenn er Selbstmord begangen hat, warum das ganze Drumherum?«, überlegte Fina. »Ich meine vor allem das Video, das wahrscheinlich ein Deep Fake ist. Ist doch ein extremer Aufwand.«
Georg zog sich die Latexhandschuhe von den Fingern. »Damit hast du vollkommen recht. Im Unterschied zu Ahmed würde es mich auch gar nicht wundern, wenn Julius Beyer in ein paar Tagen gesund und springlebendig wieder auftaucht. Ich war schon nach einigen Suiziden in den Wohnungen der Toten, und glaubt mir, so hübsch hat keiner von denen seine Todessehnsucht inszeniert.« Er deutete mit dem Kinn in Richtung der Schrumpfkopfsammlung. »Beunruhigender wäre einer dieser typischen Messie-Haushalte, oder eine Wohnung, in der man gerade mal einen Tisch, einen Stuhl und ein Bett findet.« Er stopfte die Handschuhe in seine hintere Hosentasche. »Wer so viel Mühe in sein düsteres Image steckt, hat viel zu viel Spaß daran, andere damit zu beeindrucken.« Er klopfte auf den Kopf der Anubis-Statue, es gab ein hohles Geräusch. »Aber ich bin kein Psychologe, also vergesst besser wieder, was ich gesagt habe.«
Schritte vom Eingang her, unverkennbar in Tempo und Lautstärke. Oliver war zurück. »Ich habe jetzt alle Hausbewohner durch, die gerade da sind, und niemand hat etwas Beunruhigendes gehört oder gesehen.« Er klopfte Ahmed auf den Rücken, betrachtete den Druck mit dem Skelett und lachte. »Aber Beyer hatte öfter Besuch, sagen sie. Unterschiedliche Leute, Frauen und Männer, alle möglichen Altersgruppen.«
»Laut seiner Mutter hat er keine fixe Freundin«, warf Ahmed ein. »Schon seit Jahren nicht.«
»Kein Wunder.« Olivers Blick glitt über die Einrichtung. »Welche Frau ließe sich in dieser Umgebung schon flachlegen? Nicht einmal du, Fina, oder?« Er vollführte eine lässige Handbewegung in ihre Richtung. »Ha, nur ein Witz. Zieh nicht so ein Gesicht, war nicht ernst gemeint.«
»Ich fürchte«, hörte sie Georg hinter sich sagen, »ich ziehe das gleiche Gesicht. Ernsthaft, Homburg, was soll der Blödsinn?«
»Ist schon okay.« Fina zwang sich ein Lächeln ab, einerseits dankbar dafür, dass Georg ihre Partei ergriff, andererseits beschämt darüber, dass er dachte, sie brauchte einen Beschützer.
Sie straffte sich. »Ich muss einfach lernen, damit zu leben, dass Oliver Angst hat, ich könnte ihn karrieretechnisch überholen. Aus Angst redet man eben oft dämliches Zeug. Nicht wahr?« Sie lächelte ihm übertrieben freundlich zu, dann ging sie aus dem Raum. Hörte noch sein aufgesetztes Lachen und verließ die Wohnung.
Draußen stand eine kleine, alte Frau in einer Sorte Hauskittel, von der Fina gedacht hatte, sie wären bereits vor den Zeiten ihrer Großmutter ausgestorben. Verblasstes Veilchenblau mit braunen und orangefarbenen Rauten. Darüber eine graue Strickjacke mit Lochmuster. »Sind Sie von der Polizei?«, fragte sie.
»Ja.« Fina nahm einen leichten Zwiebelgeruch an ihrem Gegenüber wahr. Noch eine Großmutter-Parallele. »Und Sie wohnen hier im Haus?«
»Ja. Erdgeschoss. Kann ich mir die Wohnung einmal ansehen?«
Das hier war mit Sicherheit die Frau, die Ahmed als »allwissende Fensterguckerin« bezeichnet hatte. »Tut mir leid, das geht nicht.«
Die trübblauen Augen betrachteten sie von unten her, verschmitzt. »Aber mir ist noch etwas eingefallen. Das habe ich Ihrem Kollegen vorhin nicht erzählt.« Sie versuchte, an Fina vorbei durch die noch halb offen stehende Tür zu lugen. »Nur einen schnellen Blick. Der Briefträger hat mir einmal erzählt, die Wohnung sieht aus wie eine Satanskirche. Und wenn das so ist, will ich das wissen, ich wohne ja immerhin auch hier.«
»Keine Satanskirche«, erwiderte Fina, ohne die Tür zuzuziehen. »Aber es hat eben jeder einen anderen Geschmack, wenn es ums Wohnen geht, und Herr Beyer mag es … dunkel.«
»Ah.« Es war der Kittelfrau anzusehen, wie sie diese Information abspeicherte. »Und die Totenköpfe? Sammelt er wirklich Totenköpfe?«
Nein, dachte Fina, Schrumpfköpfe. »Er hat ein paar gruselige Sachen aus Plastik herumstehen, aber glauben Sie mir, jede Geisterbahn ist aufregender.« Ging sie mit dieser Auskunft schon zu weit? »Was haben Sie denn beobachtet, Frau …«
»Kaltenbrunner.«
»Frau Kaltenbrunner. Was haben Sie meinem Kollegen nicht erzählt?«
Sie sah, wie die Frau zögerte. Wie sie ihre Chancen abwog, vielleicht doch noch in die Satansanbeterwohnung hineinkommen zu können.
»Wer weiß«, sagte Fina, »möglicherweise ist Ihre Angabe entscheidend dafür, dass wir einen sehr wichtigen Fall lösen.«
Das gab den Ausschlag. Die Frau zog ihre Strickjacke über der Brust zusammen und beugte sich zu Fina vor. »Also, es ist neun Tage her. Das weiß ich, weil ich an diesem Tag meinen Termin in der Diabetesambulanz gehabt habe. Am gleichen Abend bin ich mit der Zeitung auf der Couch gesessen, und da hat Herr Beyer das Haus verlassen. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen. Oder gehört.«
Wahrscheinlich hätte man die Hand dafür ins Feuer legen können, dass Frau Kaltenbrunner jedes Kommen und Gehen zur Kenntnis nahm, wenn es nicht gerade während ihrer Schlafenszeit stattfand. »Sie glauben also, dass Herr Beyer seitdem nicht mehr hier gewesen ist.«
Zu Finas Überraschung zuckte die Frau die Schultern. »Das weiß ich nicht genau. Aber wissen Sie, es war spät an dem Abend. Sicher nach zehn, ich hatte schon mein Nachthemd an. Und deshalb war das wirklich merkwürdig.«
»Was meinen Sie? Hat Herr Beyer sonst nie um diese Zeit das Haus verlassen?«
»Doch, wahrscheinlich schon.« Die Augen der Frau glänzten. »Aber diesmal hat er vorher noch Besuch bekommen. Jemand hat unten geklingelt, ist die Treppen hinaufgelaufen und ein paar Minuten später wieder nach unten gekommen. Gleich danach hat auch Herr Beyer das Haus verlassen.«
Unter Finas Kopfhaut kribbelte es. »Das ist wirklich sehr interessant, Frau Kaltenbrunner. Haben Sie denjenigen hier schon einmal gesehen? Kann es sein, dass er Herrn Beyer gezwungen hat, mit ihm das Haus zu verlassen? Mit einer Waffe, zum Beispiel?«
Es war offensichtlich, wie sehr die Frau das Gespräch genoss. »Nein. Da war keine Waffe. Und es war auch kein Mann, der Herrn Beyer besucht hat.«
Sie beugte sich noch ein Stück vor und senkte die Stimme. »Es war ein kleines Mädchen.«