39 .

W ieso waren sie schon da? Er begriff nicht, wie das möglich war. Hatte jemand ihn in der Kirchfeldgasse beim Auffinden der Leiche beobachtet? Aber dann hätte die Polizei ihn doch eher dort gestellt, in flagranti, neben einem Opfer, das schon wieder nicht seines war.

Aber nein, sie standen vor seiner Tür, mit einem Durchsuchungsbefehl. Er schleppte sich die letzten paar Stufen hoch, den Schlüssel schon in der Hand. »Hören Sie auf, die Tür zu ruinieren, ich sperre gleich auf.«

Die Polizisten traten aus dem Weg. Er kannte beide: den Schnösel und den südländisch wirkenden, der mit Plank gemeinsam in der Agentur gewesen war. Der ihm jetzt zunickte. »Ahmed Kayali, erinnern Sie sich noch an mich?«

»Ja. Natürlich. Lassen Sie uns in der Wohnung weitersprechen.« Er drehte den Schlüssel im Schloss und drückte die Tür auf. Was tat eigentlich Skrapek hier? Der Hausmeister machte Anstalten, ebenfalls einzutreten, aber Fina Plank hielt ihn zurück. »Vielen Dank, nachdem Herr Glaser jetzt hier ist, brauchen wir Sie nicht mehr.«

Skrapeks Mundwinkel sanken nach unten. »Ich helfe gerne.«

»Das wissen wir zu schätzen. Danke, auf Wiedersehen.«

Kayali und der andere, der wie eine deutsche Stadt hieß, waren bereits bis ins Wohnzimmer vorangegangen. Tibor versuchte, sich an den Namen zu erinnern. Bremer? Nein, Hamburg. Falsch, Homburg.

Er lehnte sich gegen die Wand, es kribbelte in seinen Lippen und Fingern. Er sollte sich setzen, schnell, bevor sein Kreislauf ihn im Stich ließ. Und er brauchte Wasser, sein Mund war völlig ausgetrocknet. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, brachte er mühsam heraus.

»Nein, vielen Dank.« Homburg und sein Kollege betrachteten die Einrichtung, während Plank hauptsächlich ihn, Tibor, musterte. »Darf ich Sie fragen, wo Sie gerade herkommen?«

Sie wusste es, oder? Es war eine Fangfrage. »Warum?«

Plank deutete auf seinen Arm. »Weil Sie so mitgenommen aussehen. Sie und Ihr Shirt.«

Das war ihm noch gar nicht aufgefallen. »Ich war im Wald. Lainzer Tiergarten, bin eine große Runde spazieren gegangen und einmal ausgerutscht.«

Ihr Blick glitt hinunter bis zu seinen Schuhen und zurück zu seinem Gesicht. »Verstehe.«

Er musste sich endlich setzen, schon jetzt hörte er ihre Stimme nur noch wie durch Watte. In der Küche füllte er ein großes Wasserglas und schüttete den Inhalt in einem Zug hinunter, doch erst, als er es zu guter Letzt bis aufs Sofa geschafft hatte, wurde es besser. »Würden Sie mir sagen, warum genau Sie hier sind?«

Homburg hielt ihm ein Stück Papier vors Gesicht. »Um uns in Ihrer Wohnung umzusehen. Hier ist der Durchsuchungsbeschluss.«

»Aber … gibt es dafür einen Anlass?«

Fina Plank hatte eben zwei Polizistinnen in Uniform eingelassen, die ohne Umschweife begannen, Schränke zu öffnen und Schubladen herauszuziehen. Nun setzte sie sich neben ihn aufs Sofa.

»Es gibt einen. Sagt Ihnen der Name Julius Beyer etwas?«

Tibor wünschte, das neblige Gefühl in seinem Kopf würde verschwinden. Konnte ein Schock solche Nachwirkungen haben? Beyer? Keine Ahnung. Aber Julius war kein sehr häufiger Name, er glaubte nicht, dass er jemanden kannte, der so hieß.

»Nein. Warum?«

»Weil er vermisst wird, nachdem er auf YouTube ein Video veröffentlicht hat, in dem er von seiner bevorstehenden Ermordung spricht. So wie Frau Just es getan hat.« Sie hielt kurz inne, als wartete sie auf eine Reaktion, doch er war zu keiner fähig. Er starrte sie bloß an.

»In Herrn Beyers Wohnung haben wir wieder DNA von Ihnen gefunden. Und nun auch Beyers Handy, in einem Gully zwei Straßen von hier.«

Tibor konnte jeden seiner Herzschläge im ganzen Körper fühlen. Er bewegte langsam den Kopf von einer Seite zur anderen; ein zeitlupenartiges Nein, während er das aufgequollene Gesicht in der Badewanne vor sich sah. Dessen Besitzer vielleicht eben einen Namen bekommen hatte.

»Das kann nicht sein«, murmelte er.

»Es ist aber so«, stellte Plank trocken fest. »An Ihrer Stelle würde ich mit einer baldigen Vorladung rechnen. Wir werden Sie zur Vernehmung bestellen, und dazu sollten Sie auf jeden Fall einen Anwalt mitbringen.«

Tibor blickte auf seine Schuhe hinunter, die in der Kirchfeldgasse 80 A sicher prächtige Spuren hinterlassen hatten. Er würde es jetzt sagen. Er würde Fina Plank den Zettel zeigen. Ich weiß, dass Sie unschuldig sind …

Und dann, dann …

Er schloss sekundenlang die Augen, versuchte, einen logischen Gedanken zu fassen. »Meine DNA kann dort nicht gewesen sein. Verstehen Sie, ich kenne den Mann nicht. Wo wohnt er überhaupt?«

Vielleicht würde sie jetzt gleich die Adresse nennen, die er eben verlassen hatte; das Haus, dessen Geruch in seinen Schleimhäuten festsaß wie Kleister.

»Das besprechen wir alles auf der Dienststelle«, sagte Plank. »Wir werden auch Ihren Computer mitnehmen.«

War darauf irgendetwas zu finden, woraus man ihm einen Strick drehen konnte? Nicht, soweit er wusste. Aber vielleicht hatte auch dort jemand irgendwelche Spuren hinterlassen, die man ihm zuordnen würde.

»Ich glaube«, sagte er langsam und wog jedes Wort ab, »jemand verteilt meine DNA bewusst an den Tatorten. Wissen Sie, was ich meine?«

»Das weiß ich genau.« Sie seufzte. »Und wissen Sie, wie oft wir das von Menschen hören, deren DNA am Tatort sie belastet?«

Ich sage es ihr jetzt, dachte er wieder. Denn sie werden den Toten in der Badewanne finden. Vielleicht nicht heute, aber in den nächsten Tagen. Dafür wird mein Zettelschreiber sorgen. Ich sollte Plank die Nachricht zeigen. Ich sollte.

Aber hätte er nicht schon die Polizei verständigen sollen, als er auf die Leiche gestoßen war? Statt wieder nach Hause zu fahren und sich ahnungslos zu stellen? Zu hoffen, dass der Tote sich in Luft auflösen oder zumindest nie mit ihm in Verbindung gebracht werden würde?

Ich hätte angerufen, dachte er. Wenn ich nicht schon vorher als inoffizieller Hauptverdächtiger gehandelt worden wäre. Noch vor zwei Wochen wäre das meine erste Reaktion gewesen, ganz selbstverständlich.

Julius Beyer. Er würde den Namen googeln, sobald alle wieder gegangen waren. Oder besser nicht. War ja auch möglich, dass er dann gar nichts mehr hatte, womit man googeln konnte. Ob sie auch sein Handy beschlagnahmen würden?

Das Chaos in der Wohnung wuchs stetig, bis auf Plank waren mittlerweile alle damit beschäftigt, sich durch Tibors Sachen zu wühlen.

Er dachte an das verrostete Dreirad von vorhin, im Vorgarten des Hauses. An von den Wänden gerissene Regale. An trübes Wasser in einer schmutzigen Badewanne und an das, was darin aufquoll.

»Ich mag den Lainzer Tiergarten«, sagte Plank unvermittelt. »Ein Stück Wildnis in der Stadt und jede Menge Wildsch…« Sie beendete den Satz abrupt, als hätte sie etwas Unpassendes gesagt und es zu spät bemerkt. Einige Atemzüge lang schwiegen sie beide, dann wandte die Beamtin sich ihm wieder zu. »Haben Sie das von Lothar Hesselmann gehört?«

In Tibors Kopf breitete sich ein Ton aus, quälend hoch und flirrend. Wie Tinnitus. »Ja«, sagte er, ungewollt barsch. »Das war ja kaum zu verhindern, die Zeitungen sind voll, im Fernsehen laufen Gedenksendungen. Aber ich muss Sie schon wieder enttäuschen: Den habe ich auch nicht gekannt und noch weniger umgebracht, genauso wenig wie alle anderen. Ich habe keinen …«

»Frau Plank?« Eine der Polizistinnen war aus der Küche getreten. »Herr Homburg? Wir haben da etwas gefunden.« Sie war jung, und unter anderen Umständen hätte Tibor zumindest flüchtig festgestellt, wie hübsch sie war. Langer, rotbrauner Pferdeschwanz, helle Haut, blaue Augen. Jetzt war sie für ihn nur ein Teil der Maschinerie, die ihn zerstören wollte.

Plank war aufgesprungen und Homburg aus dem Schlafzimmer getreten. »Was ist es?«

Mit behandschuhten Händen hielt die Polizistin ein Büchlein hoch. Ein kleines, braunes Notizbuch. »Das haben wir zwischen den Putzmittelflaschen unter der Spüle gefunden, in einer Packung Schwammtücher versteckt. Die war untypisch schwer.« Die Freude über ihren Erfolg war der Polizistin deutlich anzumerken.

Tibor hatte begonnen, den Kopf zu schütteln, ohne es zu bemerken. »Ich sehe das zum ersten Mal.«

Sie ignorierten ihn. Plank hatte ebenfalls Einweghandschuhe übergestreift und nahm der Polizistin das Buch aus der Hand. Ihr Mund öffnete sich lautlos, als sie die ersten Seiten durchgeblättert hatte.

»Interessant?«, fragte Ahmed.

»Absolut.« Sie sah hoch, nahm Tibor ins Visier, und zum ersten Mal lag Härte in ihrem Blick. »Das ist der Taschenkalender von Gunther Marzik.«

Nein, war das einzige Wort, das zu denken Tibors Gehirn fähig war. Er sprach es laut aus. »Nein.«

»Doch, Herr Glaser. Hier vorne stehen sogar Marziks Handynummer und Adresse drin, für den Fall, dass es verloren geht. Er hat seine Arzttermine darin notiert und seine Verabredungen.«

In der Küche. In der Küche unter dem Spülbecken. Das war absolut nicht möglich. Die Polizistin mit dem Pferdeschwanz musste es mitgebracht und dort deponiert haben, um es dann zu »entdecken«, auch wenn Tibor nicht begriff, warum sie das tun sollte.

Aber es gab sicher auch bei der Polizei korrupte Beamte, nicht wahr? Das Gehalt war nicht so großartig, da konnte man eine Finanzspritze sicher gebrauchen.

Idiotisch, schalt er sich selbst. Eher war jemand eingebrochen, was zwar denkbar war, aber unübersehbare Spuren hinterlassen hätte. »Ich verstehe das nicht«, presste er hervor. »Ich bin alles Mögliche, aber kein Mörder. Und außerdem kein Idiot. Wenn ich mir etwas hätte zuschulden kommen lassen, wäre ich nicht so dumm, Trophäen mitzunehmen und sie in meiner Küche zu verstecken!«

Plank sah ihn nicht an. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Kalender. »Das stimmt natürlich«, sagte sie. »Außer, Sie hatten einen guten Grund dafür.«

»Welcher sollte das gewesen sein?«

Sie drehte den geöffneten Kalender so, dass er die Seite sehen konnte. »Dieser Eintrag zum Beispiel. Mittwoch, neunzehnter April, 20 .30 Uhr. Treffen mit Tibor Glaser.«