D as Haus, das Rebecca von ihrem Vater geerbt hatte, lag am Rand von Wien, in einer der weniger charmanten Ecken des Dreiundzwanzigsten Bezirks. Es war nicht so klein und schäbig wie das Haus in der Kirchfeldgasse, aber eine Renovierung hätte ihm durchaus gutgetan.
Das hatte Tibor in seiner Zeit mit Rebecca immer wieder erwähnt, also zumindest die wenigen Male, die er dort gewesen war. Die meiste Zeit hatte sie bei ihm gewohnt – weil er das so gewollt hatte. Er hatte seine schicke Dachgeschosswohnung dem Haus mit der bröckeligen Fassade und dem verwilderten Garten klar vorgezogen und auch nie ein Geheimnis daraus gemacht.
Doch mittlerweile schien zumindest der Garten in Ordnung gebracht worden zu sein. Kaum noch Gestrüpp, dafür eine Blumenwiese und zwei gepflegte Beete mit Lavendel und irgendetwas Gelbem.
Tibor hatte seinen Wagen eine Straße weiter abgestellt. Ihm war nicht klar, warum dieser Markus immer noch so wütend auf ihn war, aber vielleicht ließ sich das in einem Gespräch klären. Eventuell mithilfe von Geld, das er gerne zu zahlen bereit war, wenn er im Gegenzug irgendwie sicherstellen konnte, dass die Fotos rückstandslos gelöscht wurden.
Wobei ja noch nicht einmal sicher feststand, ob es Markus gewesen war, der sie geschossen hatte. Aber das würde er hoffentlich gleich erfahren. In einem der Zimmer im ersten Stock brannte Licht, also war jemand zu Hause.
Tibor fand das Gartentor nur angelehnt und schlüpfte hindurch. Blickte hinauf zu dem erleuchteten Fenster, halb in der Erwartung, dass sich dort eine Silhouette abzeichnen würde, doch es war niemand zu sehen.
Während seiner Fahrt hierher hatte er versucht, aus den vorhandenen Anhaltspunkten ein stimmiges Bild zu bauen, was ihm nicht so recht gelungen war. Wenn Markus von dem Toten in der Wanne wusste – bedeutete das gleichzeitig, dass er der Täter war? Und wenn ja, aus welchem Grund hätte er nicht nur ihn, sondern auch Nadine, einen heruntergekommen Blogger, einen Kulturkritiker und eventuell einen todesverherrlichenden Youtuber umbringen sollen?
Was zu Tibors nächster Frage führte: Angenommen, es gab einen Grund dafür – der wahrscheinlich darin bestand, dass Markus den Verstand verloren hatte –, war es dann klug, nachts zu ihm zu fahren? Alleine?
Die Antwort war ein klares Nein, aber Tibor sah keine andere Möglichkeit. Sicher war eine Sache: Die Morde sollten ihm in die Schuhe geschoben werden, also würde Markus ihn wohl am Leben lassen. Er war sein Sündenbock, den würde er nicht schlachten.
Die schwere Taschenlampe in der Hand, fühlte Tibor sich außerdem ganz passabel bewaffnet. Er würde diesen einen, letzten Versuch wagen, das Ruder herumzureißen. Wenn es nicht klappte, fuhr er noch heute Nacht zur Polizei.
Nach den ersten zögernden Schritten blieb er stehen. Sich dem Haus in der Dunkelheit zu nähern, fühlte sich wie ein schauriges Déjà-vu an, auch wenn dieses Gebäude größer und viel gepflegter war und es hier nach Lavendel und nicht nach totem Fleisch roch. Hinter dem beleuchteten Fenster regte sich immer noch nichts. Also weiter. Tibor erreichte die Eingangstür, legte den Finger auf die Klingel. Drückte. Lauschte.
Aus dem Inneren des Hauses war nichts zu hören. Weder der Klingelton noch Schritte. Er läutete noch einmal. Merkte erst dann, dass auch diese Tür nur angelehnt und nicht ins Schloss gefallen war.
Wenn es je eine Falle gegeben hat, dachte er, dann diese hier. Alle Türen offen, aber sobald ich das Haus betrete, schlägt mir vermutlich jemand einen Vorschlaghammer ins Gesicht.
Er blieb stehen, lauschte auf fremde Atemgeräusche, doch alles, was er hörte, waren sein eigener Herzschlag und der Motor eines vorüberfahrenden Autos.
Eine Falle, ja. Andererseits: Niemand konnte wissen, dass er hier auftauchen würde. Er hatte es ja selbst erst vor einer knappen Stunde entschieden. Wenn es tatsächlich Markus gewesen war, der vorhin die Fotos von ihm geschossen hatte, dann wusste Tibor mit Sicherheit, dass der ihm nicht gefolgt war. Sondern in seinen Wagen gesprungen war und das Weite gesucht hatte.
Hier auf ihn warten konnte er aller Logik zufolge auch nicht: Er konnte nicht wissen, dass Tibor ihn als den Anrufer in der Agentur identifiziert hatte. Es sei denn, Rebecca hatte es ihm verraten.
Trotzdem beging er wahrscheinlich einen riesigen Fehler, indem er das Haus betrat; einen, angesichts dessen jeder Mensch, der nicht in Tibors Haut steckte, die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würde. Aber immerhin war er auf der Hut. Er packte die Taschenlampe fester und öffnete die Tür ein Stück weiter.
Alles dunkel. Niemand zu sehen. Tibor räusperte sich. »Markus?«, rief er. »Ich möchte kurz mit dir sprechen. Ganz in Ruhe, okay?«
Keine Antwort. Kein Knarren, keine Schritte, nicht einmal ein Rascheln. Tibor ging weiter. Sah im Vorraum drei Jacken an der Garderobe hängen, darunter standen fünf Paar Schuhe. Zwei davon Damenschuhe.
»Hallo!«, rief er, noch lauter diesmal. »Lass uns die Dinge klären. Ich weiß, dass du es warst, der mich vorhin fotografiert hat.«
Immer noch keine Reaktion. Tibor blickte in Richtung Wohnzimmer, malte sich aus, wie Markus dort hinter der Ecke stand, mit angehaltenem Atem, den schmiedeeisernen Schürhaken in der Hand.
Er sprang vorwärts, duckte sich und blickte wild nach allen Seiten. Nichts, immer noch. Das Wohnzimmer lag verlassen und vage vertraut vor ihm, die ausladenden Polstermöbel der Sitzecke wirkten wie große, schlafende Tiere.
Aber hinter ihm kam etwas in Bewegung. Er hörte hastige Schritte und dann einen Knall – keinen Schuss, wie er im ersten Moment fürchtete, sondern das Geräusch der Eingangstür, die zugeschlagen wurde. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, kurz darauf ertönte Krachen und metallisches Quietschen, von außen, mehrmals.
Tibor wirbelte herum, suchte tastend nach einem Lichtschalter, fand keinen, schaltete die Taschenlampe ein.
Er war allein im Raum, vor dem Haus allerdings hörte er Laufschritte. Er hastete zur Tür – abgesperrt. Also riss er eines der Fenster auf, nur um sich metallenen Läden gegenüberzusehen, die sich trotz allen Rüttelns von innen nicht öffnen ließen.
Damit war auch das eben gehörte Quietschen erklärt. Er war eingesperrt, und das hatte er sich zu hundert Prozent selbst zuzuschreiben.
Stellte sich die Frage, was als Nächstes kam. War es Markus zuzutrauen, dass er das Haus anzündete? Gas einleitete? Wo kam überhaupt dieser Hass her, sie waren sich doch nur ein einziges Mal begegnet?
Tibor rüttelte noch einmal an der Türklinke, und an der Außenseite schien sich etwas zu lösen. Er hörte es draußen zu Boden fallen, scheppernd.
Erst jetzt merkte er, dass er keuchte, mehr aus Angst als vor Anstrengung. Die Taschenlampe wie einen Prügel erhoben, lief er die Treppen hinauf, ins Schlafzimmer, von wo aus er zuvor Licht gesehen hatte. Das war immer noch an, aber im Raum befand sich niemand. Er hastete zum Fenster und blickte hinaus. Der Garten lag dunkel und verlassen da, wohin war Markus verschwunden?
Es trieb Tibor wieder raus aus dem Schlafzimmer. Die Tür zu seiner Linken führte ins Bad, doch er ließ sie geschlossen. Aus Angst, wie er sich ehrlich eingestehen musste. Er wusste nicht, was ein weiterer vor einer Badewanne kniender Toter mit seiner geistigen Gesundheit anstellen würde.
Ein schneller und ergebnisloser Blick ins Gästezimmer, dann polterte er die Treppen wieder nach unten, zurück ins Wohnzimmer. Von dort aus in die Küche.
Der Lichtkegel seiner Taschenlampe glitt über Fliesenboden, Schränke, den Geschirrspüler, den Herd und einen Stuhl, der einsam in der Mitte des Raums stand.
Direkt unter der Schlinge, die jemand um einen Deckenbalken geknüpft hatte.