T ibor Glaser hatte sein Smartphone entsperrt und es Fina in die Hand gedrückt. »Sehen Sie sich die Nachrichten an, die Rebecca mir in den letzten Tagen geschickt hat. Mittlerweile bin ich überzeugt davon, dass keine einzige von ihr selbst stammt.«
Fina scrollte durch Fotos von Traumstränden und Schildkröten in Wasserbecken; Fotos von einer hübschen Frau mit Kastanienhaar, deren Lächeln die Augen nicht erreichte. »Sie glauben also, die Nachrichten aus Panama kamen anderswoher? Und dass Rebecca Gorski nicht mehr am Leben ist?«
»Genau. Sie hatte schon früher oft depressive Phasen, die sie aber mit Therapie und Medikamenten ganz gut in den Griff bekommen hat.« Fina sah, dass es ihm nicht leichtfiel, weiterzusprechen. »Es könnte sein, dass unsere Trennung dieses Gleichgewicht wieder zerstört hat. Und offenbar hat zusätzlich Nadine ihr das Leben schwer gemacht. Das hat sie auch bei einigen anderen meiner früheren Beziehungen getan, aber die waren psychisch stabiler. Sie können sie selbst fragen, ich bin sicher, sie geben gerne Auskunft.«
Fina notierte sich die Namen, die er ihr diktierte. Sie hatte nur drei Stunden geschlafen, und ihre Gedanken flossen zäher als sonst. »Was ist Ihrer Meinung nach mit Rebecca Gorski passiert?« Sie hatte ihre eigene Vermutung, wollte es aber von Glaser hören.
»Ich fürchte, sie hat sich das Leben genommen. Das hat zwar niemand aus ihrer Familie ausgesprochen, aber ich bin mir so gut wie sicher. Es gibt … einen bestimmten Ton, in dem man über Tote spricht, wissen Sie?«
Ja, Fina wusste. Und obwohl sie es selbst voreilig fand, fand sie Glasers Theorie nicht völlig unplausibel. Denn damit passte auch Julius Beyer plötzlich ins Bild, der selbst ernannte, hinterhältige Suizidbegleiter.
»Graben Sie vor Rebeccas Haus in diesem Blumenbeet«, sagte Glaser. »Dann wissen wir alle mehr.«
So einfach war es natürlich nicht, auch zum Graben brauchte man einen gerichtlichen Beschluss. Um etwa halb fünf wurde Tibor Glaser in die Haftanstalt gefahren; zu diesem Zeitpunkt hatten alle Beteiligten bereits mehrfach die Grenzen der Erschöpfung überschritten.
Trotzdem wollte Sieghart, der gemeinsam mit Oliver am Fundort von Beyers Leiche gewesen war, in aller Ausführlichkeit informiert werden. Sie saßen in seinem Büro, und Fina hielt sich an ihrer Teetasse fest. »Er ist überzeugt davon, dass seine Ex-Freundin in ihrem eigenen Garten begraben liegt«, resümierte sie. »Wenn das stimmt, hat die Familie natürlich ein Motiv. Aber er hat keinerlei Beweis dafür, im Gegenteil: Von Rebecca Gorskis Handy sind noch gestern Nachrichten an ihn geschickt worden.« Sie unterdrückte ein Gähnen. »Was natürlich auch nichts beweist.«
Sieghart blickte in die Runde und rieb sich den Nacken. »Ich telefoniere morgen mit der Staatsanwaltschaft. Dass uns jemand ein Umackern des Gartens bewilligt, halte ich für unwahrscheinlich, aber möglicherweise gibt es eine andere Lösung. Für heute machen wir Schluss.«
Fina befürchtete, dass sie in der Straßenbahn einschlafen und erst an der Endstation von einem unwilligen Fahrer geweckt werden würde, also machte sie sich zu Fuß auf den Heimweg. Rebecca Gorskis lachendes Gesicht ging ihr nicht aus dem Kopf. Wie sie in Shorts und T-Shirt vor dem Becken stand, die Schildkröte in beiden Händen. Ich habe zwar immer noch die schwarzen Tage, die du ja kennst, aber davon abgesehen habe ich mich noch nie so wohlgefühlt, hatte sie geschrieben.
Die schwarzen Tage. Julius Beyer schien vorzugsweise Menschen angezogen zu haben, die ihre schwarzen Tage nicht mehr ertrugen. War es mit Rebecca genauso gewesen? Hatte er sie zu einem vermeintlichen gemeinsamen Suizid gelockt und dann betäubt und vergewaltigt? Ihr damit den letzten Stoß versetzt, sie zu diesem letzten Schritt getrieben?
Fina kaufte sich im Thai-Restaurant ein Hühnercurry mit einer doppelten Portion Reis, trug es nach Hause und setzte sich damit auf die Couch vor den Fernseher. Sie bekam nicht mit, welches Programm lief – irgendeine Dokumentation über Korruptionsaffären der letzten fünf Jahre.
Sie dachte an ihre eigenen schwarzen Stunden, Tage und Wochen und dass sie sich manchmal ein schnelles Ausknipsen ihrer selbst gewünscht hatte. Doch bei ihr half Essen, so wie jetzt. Ebenso wie die Stimmen, die aus dem TV -Gerät drangen und ihr das trügerische Gefühl vermittelten, dass sie nicht alleine war.
Sie hatten keinen richterlichen Beschluss für ein Umgraben des Gartens bekommen, sehr wohl aber eine Erlaubnis, ihn mit Spürhunden begehen zu dürfen. Zwei Hundeführerinnen warteten bereits am Zaun, als Fina, Ahmed und Oliver eintrafen. Sie hielten einen belgischen Schäfer und einen Weimaraner an der Leine. Ein Stück weiter die Straße entlang stiegen Georg und zwei seiner Kollegen aus dem Auto.
»Ist jemand im Haus?«, fragte Oliver und drückte die Klingel, ohne eine Antwort abzuwarten.
»Glaube nicht«, sagte die Frau mit dem Weimaraner. »Wir haben auch schon geläutet. Rührt sich aber nichts.«
Es wohnte ja auch niemand mehr hier, wenn man Tibor Glaser Glauben schenken wollte. Schon gar nicht sein Ex-Rivale, von dem er nur den Vornamen kannte. Ich weiß, wie das wirken muss, hatte Glaser gestern geächzt. Aber Sie haben ja meine Chats mit Rebecca gelesen. Ich erfinde das nicht .
Auch Olivers Klingeln blieb unbeantwortet, also brachen sie das Schloss des Gartenzauns auf. Die beiden Hundeführerinnen ließen ihre Tiere von der Leine, die sofort die Nasen auf den Boden senkten.
Das Grundstück war nicht sehr groß, und das Ergebnis eindeutig. Der Belgische Schäferhund erstarrte förmlich, als er das Blumenbeet an der linken Seite des Hauses erreichte. Er hob den Kopf und schlug an, nur Sekunden später war auch der Weimaraner zur Stelle und stimmte nach kurzem Schnüffeln ein.
»Okay«, sagte Ahmed. »Wir sperren hier ab.«
Alle Versuche, Sabina Arnetz oder Angela Gorski zu erreichen, scheiterten. Sieghart schickte je zwei Beamte zu jeder Meldeadresse und organisierte in Rekordgeschwindigkeit einen richterlichen Beschluss. Sie durften in Garten und Haus das Unterste zuoberst kehren.
Während draußen ein Sichtschutz rund um das Beet aufgestellt wurde, stieg Fina in einen der weißen Papieroveralls und betrat hinter Georg das Haus. Glasers Schilderungen waren noch frisch in ihrem Kopf, und sie konnte sie wie eine Schablone über ihre eigenen Eindrücke legen.
Das Wohnzimmer mit den ausladenden Sitzmöbeln. Die Fenster, die über die einbruchsichersten Läden verfügten, die Fina je gesehen hatte. Die Küche, an deren Dachbalken angeblich der Strick gehangen hatte.
Jetzt hing dort nichts mehr. Georg war dabei, den Status fotografisch festzuhalten, und scheuchte Fina aus dem Raum.
Sie ging die Treppen hinauf in den ersten Stock und betrat das Schlafzimmer. Rebecca Gorskis Liebe für das Meer und seine Bewohner war auf den ersten Blick unverkennbar. Ein ganzes Regal voller Fachbücher, eine von Fotos überquellende Pinnwand. Fina schlang die Arme um den eigenen Oberkörper. Betrachtete die angehefteten Bilder und biss sich auf die Unterlippe.
Es war, als hätte eine Sechzehnjährige dort alles gesammelt, was sie liebte. Wale, Schildkröten und Rochen einerseits. Tibor Glaser andererseits. Auf einem Foto umarmte er sie von hinten und drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe. Auf einem anderen stand er auf einer Bühne und nahm einen Preis entgegen.
Trotz ihrer Trennung und allem Ekelhaften, was danach passiert war, hatte sie Glaser trotzdem auf Fotos um sich haben wollen. Hatte ihn vielleicht nie aufgegeben.
Fina schoss mit ihrem Handy ein Foto der Pinnwand, dann ging sie wieder nach unten, langsam. Sie nahm sich vor, noch heute Abend Flo von allen ihren Social-Media-Kanälen zu tilgen. Fragte sich gleichzeitig, wie schlimm es um sie bestellt sein musste, wenn sie in einer Situation wie dieser an ihn dachte.
»Sie haben gerade den Bagger gebracht«, berichtete Georg, während er die Fenstergriffe mit Fingerabdruckpulver bestäubte.
»Das sagst du nur, weil du mich aus dem Haus haben willst«, gab sie zurück.
»So ist es. Schon eine Idee, wann wir den neuen Griechen testen wollen?«
Sie zog eine Grimasse. »Sobald ich irgendwann einmal wieder ausgeschlafen bin.« Als sie nach draußen trat, wurde der Bagger gerade abgeladen. Es war ein kleines Modell mit einer schmalen Schaufel. Oliver stand neben dem Transportwagen und vertrieb ein paar Schaulustige, die sich am Gartenzaun versammelt hatten.
Die oberste Erdschicht war schnell abgetragen, und sofort wurde klar, dass die Hunde sich nicht geirrt hatten. »Stopp!«, rief Ahmed. Von ihrer einige Meter entfernten Position aus sah Fina etwas Rotes aus der dunklen Erde hervorlugen. Roten Stoff.
Der Bagger wurde nach seinem sehr kurzen Einsatz von zwei Männern mit Schaufeln abgelöst, die behutsamer graben konnten. Nach und nach legten sie eine längliche Form frei, etwas, das in den roten Stoff eingewickelt war.
Ahmed, der am nächsten stand, zog sein Handy hervor. »Hallo? Hier Kayali, LKA . Wir brauchen Dr. Weigel oder Dr. Shiman, wir haben einen Leichenfund. Ja, bitte schnell.« Er sagte die Adresse durch und gab den beiden grabenden Männern ein Zeichen. »Aufhören fürs Erste. Wir warten auf die Rechtsmedizin.«
Weigel kam persönlich, nur mit einer Assistentin. Gemeinsam mit Ahmed und Oliver hatte Fina hinter dem Sichtschutz gewartet; sie hatte den Blick nicht von der feuchten, roten Samtdecke wenden können, an der Erde klebte und zwischen deren Falten die Überreste einer Hand sichtbar geworden waren. Es war ein zulässiger Schluss, dass es sich um die Hand einer Frau handelte, denn der Lack auf den Nägeln schimmerte metallisch blau.
Sie machten alle Platz, als Weigel sich neben die Tote kniete und die Decke zur Seite zog. Einen Moment lang hielten alle inne.
Der Körper war fast zur Gänze skelettiert und lag seitlich da, in lockerer Embryostellung. Ja, dachte Fina, das ist Rebecca. Das gleiche Haar, nur verfilzt und stumpf. Aber warum hat sie nichts an? Nicht einmal Unterwäsche?
Fina war nicht Expertin genug, um einschätzen zu können, wie lange es dauerte, bis ein menschlicher Körper bei den gegebenen Bodenbedingungen verrottete. Auf jeden Fall schneller als Kleidungsstücke, besonders, wenn sie Kunstfasern enthielten. Man sah es ja auch an der Decke, an der sich rein gar nichts zersetzt hatte.
Warum hatte man Rebecca nackt begraben? Finas erster Gedanke galt Julius Beyer. Was, wenn er sie mit GHB betäubt und dann vergewaltigt hatte? Was, wenn die Dosis zu hoch gewesen und sie daran gestorben war?
Nein. Dann wäre ihre Familie zur Polizei gegangen, und Beyer hätte kaum mit seiner Masche weitergemacht. Dass sie hier begraben war, dass ihre Familie sie virtuell am Leben erhielt – das alles sprach gegen Finas Theorie.
Nach einer ersten oberflächlichen Untersuchung drehte Weigel sich zu ihnen um. »Ich kann euch später Genaueres sagen, aber der Tod muss zumindest ein Jahr zurückliegen. Wahrscheinlich länger.«
Fina warf einen letzten Blick auf die exhumierte Frau, bevor sie hinter dem Sichtschutz hervortrat. Wieder hatten sich einige Leute eingefunden, die neugierig die Vorgänge auf dem Grundstück beobachteten, dabei aber Abstand hielten.
Als sie den Wagen der Bestattungsfirma um die Ecke biegen sah, setzte sie sich ins Auto, öffnete ihren Fotoordner und zog das Bild der Pinnwand größer.
Rebecca Gorski in Tibor Glasers Armen. Fina war froh, nicht zusehen zu müssen, wie die Knochen in den Sarg gelegt wurden.