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S ie saßen um den Tisch im Besprechungsraum, allen war die Müdigkeit anzusehen. Manfred hatte seinen Krankenstand beendet, allerdings bekam er den Mund fast nicht auf und schluckte regelmäßig Schmerzmittel. Georg und zwei seiner Kolleginnen von der Tatortgruppe waren ebenfalls dazugestoßen, sie hatten mehrere wagenradgroße Pizzen mitgebracht und weigerten sich, sie von Sieghart bezahlen zu lassen. Der schüttelte alle Hände und gratulierte zur guten Arbeit; Feierstimmung kam trotzdem nicht auf.

»Glaubt ihr, was Gorski uns aufgetischt hat?«, fragte Ahmed mit vollem Mund. »Dass sie das alles alleine durchgezogen hat?«

»Das mit der Just ziemlich sicher«, meinte Oliver. »Da wäre jemand Zweiter nur im Weg gewesen. Was Marzik und Beyer angeht – puh. Möglich ist es schon. Und ihre Schilderungen passen zur Spurenlage.«

Fina hatte sich ein Pizzastück mit Anchovis geangelt, die sie liebte. Jetzt lag es unangetastet auf dem Teller vor ihr und wurde langsam kalt, weil sie das Gesicht der Frau nicht aus dem Kopf bekam. Weil der Erfolg sich nicht wie Erfolg anfühlte.

War sie die Einzige gewesen, die Angela Gorskis Angst gefühlt hatte? Nicht um sich selbst, sondern um die zweite Tochter? Die selbst eine Tochter hatte, eine Familie?

Gedankenverloren hatte Fina nun doch die Spitze des Pizzastücks in den Mund geschoben und abgebissen. »Gut ist die«, sagte sie und wartete auf Olivers gehässigen Kommentar. Doch er nickte ihr nur zu.

»Ist Glaser noch in Haft?«, erkundigte sich Georg.

»Wenn ja, kann es sich nur noch um Minuten handeln.« Sieghart pickte die Oliven von seinem Pizzastück und drapierte sie am Tellerrand. »Einer der Richter hat sicher schon grünes Licht zur Enthaftung gegeben.«

»Na bestens.« Georg ließ seinen Blick über das noch bestehende Pizzaangebot gleiten und nahm sich ein Stück mit Pfefferoni. »Ihr sagt Bescheid, wenn ihr noch Spuren ausgewertet haben wollt, zwecks Festigung der Beweislage, ja?«

»Absolut.« Fina wischte sich die Finger an ihrer Serviette ab. »Vor allem den Mord an Lothar Hesselmann müssen wir uns noch einmal genauer ansehen, findet ihr nicht?«

Müde Blicke von allen Seiten. »Das war auch die Gorski, da bin ich ziemlich sicher«, meinte Oliver. »Wo sie doch schon so schön im Schwung war. Aber wahrscheinlich ist das Motiv ein anderes – hat nichts mit der armen, gequälten Tochter zu tun. Sondern hat einen egoistischeren Hintergrund, deshalb gibt sie es nicht zu.«

Fina schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht, es gibt ja auch noch einen anderen großen Unterschied: Hesselmanns Wohnung ist der einzige Tatort, an dem keine Spuren gelegt wurden, die auf Tibor Glaser hinweisen. Niemand hat dort versucht, ihn als Täter verdächtig zu machen.«

Sieghart schluckte seinen letzten Bissen Pizza hinunter. »Da ist was dran. Wir überprüfen die Spuren noch einmal genauer, ja, Matejka?«

»Jederzeit«, sagte Georg kauend. »Aber aufessen würde ich vorher noch gerne. Danach könnt ihr von mir haben, was ihr wollt. Zum Beispiel Tiramisu.«

Sabina Arnetz kam am nächsten Tag ins LKA , auch sie in Begleitung eines Anwalts. Sie war ungeschminkt und blass, ihre Schultern gebeugt. »Ja, ich habe seit ein paar Tagen gewusst, was Mama getan hat.« Während die Augen ihrer Mutter die ganze Zeit über trocken geblieben waren, sonderten die von Arnetz beständig Tränen ab. »Aber ich konnte sie doch nicht verraten! Hätten Sie das getan?« Sie bat Fina um ein Papiertaschentuch, und die reichte ihr die ganze Box.

»Waren Sie in irgendeiner Form an der Planung oder Durchführung der Taten beteiligt?«, fragte sie. »Oder haben Sie Ihrer Mutter Gegenstände zur Verfügung gestellt, mit denen sie falsche Spuren legen konnte? Kaffeetassen, beispielsweise?«

Arnetz schüttelte den Kopf. »Nein. Und ich mache mir riesige Vorwürfe, dass ich das alles nicht verhindern konnte. Der Gedanke, dass meine Mutter ins Gefängnis gehen muss, ist entsetzlich.« Sie unterdrückte ein Schluchzen und putzte sich die Nase. »Meine Familie zerbricht Stück für Stück.«

»Apropos Familie«, hakte Fina ein. »Sie sind verheiratet?«

»Ja.«

»Und haben eine Tochter?«

»Ja.«

»Wie alt ist sie?«

Arnetz griff nach dem nächsten Taschentuch. »Teresa wird im kommenden November zwölf.«

Fina wechselte kurze Blicke mit Ahmed und Oliver, der bereits verstohlen auf die Uhr sah. Für ihn war der Fall gegessen, das hatte er am Vortag schon deutlich gemacht.

»Hätten wir das Grab Ihrer Schwester nicht gefunden«, übernahm Ahmed, »dann würden nach wie vor alle Indizien auf Tibor Glaser weisen. Das hätten Sie hingenommen?«

»Darauf müssen Sie nicht antworten«, ging der Anwalt dazwischen, und Sabina Arnetz zerknüllte das Taschentuch zwischen den Fingern, schweigend. Fina dachte an Glasers Schilderungen der Begegnung mit ihr in Rebeccas Haus. Ihm zufolge war sie dort völlig anders aufgetreten. Siegessicher und ohne jegliche Skrupel, ihn ans Messer zu liefern. Oder besser noch, ihn in den Freitod zu treiben.

»Tibor Glaser hat uns von einer Galgenschlinge erzählt, die jemand an einen Deckenbalken in Rebeccas Küche geknüpft haben soll. Waren Sie das?«

Wieder riet der Anwalt Sabina Arnetz zu schweigen, wieder folgte sie seinem Rat. Erst, als die Sprache auf Lothar Hesselmann kam, wurde sie lebhafter. »Ich kenne ihn nicht. Meine Mutter kennt ihn nicht. Sie hat mit seinem Tod nichts zu tun, das hätte sie mir erzählt. Was das angeht, müssen Sie nach jemand anderem suchen.«

Nach zwei nicht sehr ergiebigen Stunden beendeten sie die Vernehmung. Fina sah Arnetz nach, als sie ging, mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern. Oliver hatte sich schon vorher unter einem Vorwand entschuldigt, und nun erhob sich auch Ahmed. »Was hältst du davon, wenn du heute den Nachmittag freinimmst?« Er tätschelte im Vorbeigehen Finas Rücken. »Manfred ist ja wieder da, Papierkram kann er auch mit operiertem Kiefer erledigen.«

»Ich weiß noch nicht.« Sie versuchte, sich den freien Nachmittag vorzustellen; etwas zu finden, das sie gern tun würde. Ihr fiel nichts ein, wenn man von Schlafen absah. Wahrscheinlich würde sie zu Hause sitzen, unkonzentriert eine Serie anschauen und im Kopf trotzdem immer noch den Fall hin- und herwälzen. »Ich überlege es mir.«

Sie trat zum Fenster und sah nach unten. Gerade kam Sabina Arnetz aus dem Haus. Sie blieb kurz stehen, sah sich um und überquerte dann die Straße, wo ein dunkler Volvo parkte. Ein Mann stieg aus – groß, dunkelhaarig und, soweit Fina es erkennen konnte, gut aussehend. Er nahm Arnetz in die Arme, drückte sie an sich.

Nun öffnete sich auch eine der hinteren Autotüren, und ein blondes Mädchen stieg aus. Es stand da und sah zu Fina hinauf. Hastig lösten die beiden Erwachsenen ihre Umarmung; der Mann schirmte das Kind vor Finas Blick ab und schob es in den Wagen zurück. Eine Minute später fuhren sie davon.

Es war dasselbe Mädchen, daran hatte Fina keinen Zweifel. Und sie fragte sich, was es tatsächlich in Beyers Wohnung getan hatte. Wohl kaum eine Katze gesucht. Eher eine gebrauchte Tasse in seiner Küche deponiert.

Fina hoffte, dass es nicht gewusst hatte, zu welchem Zweck. Und dass es das auch nie erfahren würde.