Prolog
Das Russische Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte
ist ein klobiger 20er-Jahre-Bau, der durchaus an jenen Sarkophag erinnert, den man dem traurig-berühmten Kraftwerk von Tschernobyl verpasst hat. Was hier, mitten in Moskau, begraben ist, sind jedoch keine radioaktiven Abfälle, sondern ein Stück Geschichte der Sowjetunion.
Im Übrigen handelt es sich um das ehemalige Institut für Marxismus-Leninismus. Marx, Engels und Lenin hängen als große Bronzereliefs über dem Eingang, vergrößern optisch das Portal. Aber die eigentlichen Türen wirken zu klein für das Gebäude.
Selbstverständlich ist nur eine von drei Türen geöffnet: das Mauseloch, durch das man ins Innere schlüpft. Zuerst betritt man ein weitläufiges Vestibül, dessen Größe wohl der Bedeutung des Ortes Ausdruck geben soll, das aber vor allem beeindruckt durch seine Leere. Geradeaus, auf dem Absatz über einer kleinen Treppe, ist nachträglich ein Wachhäuschen aus Kunststoff und Glas errichtet worden, in dem ein Polizist sitzt. Vor der Treppe ein Metalldetektor in Kastenform (den man vorzugsweise umgeht). Rechts eine geräumige Garderobe, in der eine Frau sitzt und Kreuzworträtsel löst. Ob sie die Kleidungsstücke bewacht, welche der Besucher selbständig auf die Haken zu hängen hat, bleibt unklar.
Den Neuling weist sie auf das Telefon hin, das neben der Garderobe steht. Dann löst sie weiter Kreuzworträtsel.
Telefon? Man muss anrufen? Wen?
Auf dem Telefontischchen liegt eine siebenstellige Moskauer Nummer aus. Wenn man sie wählt, meldet sich eine Stimme, die einer älteren Frau zu gehören scheint. Sie fragt, ob man bereits einen propusk
, einen Passierschein, besitze. Wenn man verneint, weist die Stimme den Besucher im Tonfall mühsam beherrschter Ungeduld an, dem Polizisten in dem Wachhäuschen ein Zeichen zu geben, sobald sie, die Stimme, diesen Polizisten anrufe, um bei demselben die Ausstellung eines propusk
anzufordern. Dabei hat man, wie die Stimme mehrmals – und angesichts der Begriffsstutzigkeit des Besuchers schon aufs äußerste gereizt – wiederholt, auf keinen Fall aufzulegen
.
Kurz darauf sieht man, wie der Polizist in seinem Wachhäuschen den Hörer abhebt, und hört im Telefonhörer mit, wie die Stimme ihn um die Ausstellung eines propusk
für den Anrufenden bittet.
Der Polizist dreht sich zum Anrufenden hin, und der Anrufende gibt dem Polizisten, wie angewiesen, ein Zeichen, sagen wir mal, er hebt die Hand. Nun darf er auflegen, und es wird ihm, gegen Vorlage seines Reisepasses, ein propusk
ausgestellt, mit dem er in die fünfte Etage fahren darf, wo sich der Lesesaal befindet.
Dort erkennt der Besucher, dass die Stimme keiner älteren Frau, sondern einem Mann zwischen dreißig und sechzig gehört, der, obwohl man sich in einem Lesesaal befindet, dem Besucher mit derselben durchdringenden und immer an der Grenze zum Überschnappen leckenden Stimme weitere Anweisungen erteilt.
Zunächst hat man zwei Formulare auszufüllen, in denen neben Heimatadresse und Telefon insbesondere nach Grund, Ziel und Zeitraum der Recherche gefragt wird. Dann hat
man, selbstverständlich auf Russisch, einen handschriftlichen Antrag zu verfassen, dessen Text frei wählbar ist; allerdings liegt für alle Fälle ein Vordruck bereit, der wörtlich abgeschrieben werden darf. Persönliche Gründe sind gegebenenfalls einzusetzen.
Nun bekommt man einen Schlüssel, dessen Empfang man quittieren muss. Auf dem Schlüsselanhänger findet man die Nummer des Schließfachs, in dem die Akten bereitliegen – die man natürlich vorher bestellt haben muss. Wenn diese Bestellung (zum Beispiel von Deutschland aus) tatsächlich geklappt hat, dann findet man seine Akten in einem der gepanzerten Fächer, die sich in einem halbdunklen Raum befinden, der, obgleich in der fünften Etage gelegen, wie ein Kellerraum wirkt.
Zum Aufschließen dieses Dokumentenraums braucht man jedoch einen weiteren Schlüssel, den man einer Plastikbox auf dem Schreibtisch des Mannes mit der weiblichen Stimme entnimmt. Mit Hilfe des Schließfachschlüssels öffnet man sein Fach und entnimmt die Akten. Beim Verlassen des Raums achtet man darauf, dass man nicht versehentlich jemanden einschließt. Dann legt man den Dokumentenraumschlüssel zurück in die dafür vorgesehene Plastikbox und hängt seinen Schließfachschlüssel in einen – nunmehr für jeden zugänglichen – Schlüsselkasten.
Selbstverständlich darf man die wertvollen Dokumente nicht einfach mit dem Smartphone abfotografieren oder gar scannen. Zum Kopieren füllt man ein Bestellformular aus, geht damit zur Kopierstelle. Dort wird, nach Sichtung der zu kopierenden Dokumente, ein Quotient ermittelt, der den Zustand des Materials und die Eile des Auftrags erfasst, woraus sich wiederum der Preis der Kopien ergibt, den man aber erst erfährt, wenn man diese Kopien nach zwei bis drei
Monaten abholt. Dann nämlich bekommt man im Lesesaal eine Bearbeitungsnummer, mit welcher man zur Buchhaltung geht. Hier erhält man einen Vordruck in doppelter Ausfertigung. Damit geht man zu einer Sparkassenfiliale, um das Geld einzuzahlen. Man lässt sich den Zahlungseingang auf beiden Vordrucken bestätigen, gibt einen davon in der Buchhaltung ab und geht mit dem anderen, von Sparkasse und Buchhaltung gestempelten, zum Lesesaal, wo man gegen Unterschrift seine Kopien bekommt.
Dies ist die Geschichte, die du nicht erzählt hast. Du hast sie mit ins Grab genommen. Du warst sicher, dass sie niemals wieder ans Licht kommt. Du hast dein Leben lang daran gearbeitet, sie vergessen zu machen, sie zu löschen aus deinem, aus unserem Gedächtnis. Fast ist es dir gelungen.
Lange Zeit wusste ich nicht einmal, dass du in Russland gewesen bist. Ich war erstaunt, als ich dich mit meiner anderen, der russischen Großmutter, Russisch sprechen hörte. Dass du Spanisch sprichst, wusste ich. Zuweilen hast du sogar behauptet, du träumtest auf Spanisch. Auch Englisch konntest du, sogar ein wenig Französisch. Aber Russisch?
Du warst meine mexikanische Großmutter
. In deinem Wintergarten brummte leise der Zimmerspringbrunnen zwischen tropischen Pflanzen. Dort haben wir gesessen, und du hast mir von Mexiko erzählt, von Ritten durch den Dschungel, von Raubüberfällen und Regengüssen, von Schlangen, Skorpionen und Haifischen. Von den Azteken und ihrer rätselhaften, untergegangenen Welt.
Von der Sowjetunion aber, wo du, deutsche Kommunistin,
nach der Machtergreifung der Nazis immerhin viereinhalb Jahre gelebt hast, kein Wort.
Auf meinem Schreibtisch liegen zwei Stapel Papier. Zweihundertsechsundvierzig Blatt insgesamt, handschriftlich durchnummeriert. Oben rechts ein Vermerk, auf Russisch: Streng geheim
. Blau darübergestempelt: Aufgehoben.
Hast du wirklich geglaubt, es sei unwiederbringlich verschollen?
Ich sehe was, was du nicht siehst.
Das Spiel hast du mir beigebracht. Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist:
Deine Kaderakte, Charlotte.