1 Schwarzes schwarzes Meer
– Charlotte –
In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1936 entdeckt Charlotte Germaine, wie sie sich neuerdings nennt, in der Deutschen Zentralzeitung unter den sechzehn Angeklagten in der Strafsache des trotzkistisch-sinowjewistischen terroristischen Zentrums den Namen M. Lurie.
Sie befindet sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Schwarzmeerdampfer Grusia , der allerdings noch fest vertäut am Kai von Batumi liegt; er wird erst am nächsten Morgen in See stechen. Sie sitzt in ziemlich unbequemer Haltung am Klapptisch und hält die Zeitung schräg zum Bullauge hin, durch das ein kaltes bläuliches Licht fällt, das man für Mondlicht halten könnte; es stammt aber von einer Hafenlaterne.
Sie ist im Schlafhemd, Baumwolle, weiß.
Das Grummeln der Schiffsmotoren ist zu hören. Aus der oberen Koje dringt ein fiependes Schnarchen. Das ist Wilhelm. Er hat sich den Decknamen Jean Germaine zugelegt, aber alle nennen ihn Hans, außer Charlotte, die nach wie vor Wilhelm sagt. Es ist schwierig, einen Metallarbeiter mit anhaltinischem Dialekt Jean Germaine nennen.
Wilhelm hat Wodka getrunken, und zwar zu viel. Auf unsere Heimat, auf Stalin! Dem kann sich niemand entziehen, ein Mann schon gar nicht. Aber auch Charlotte hat sich nicht ganz entziehen können. Nach der Stadtbesichtigung – bei 36 °C – gab es noch einen, wie soll man es nennen, Empfang beim Kreissekretär, Georgier, Schnauzbart, Stimme wie eine Lokomotive: Hoho, er wisse Bescheid: Fünfte Etage Komintern! Augenzwinkern. Auf euch, Genossen! Und auf den Genossen Stalin!
Dazu Gurken, Lauchzwiebeln und Sülze.
Eingeschlafen ist sie schnell, ein kurzer Alkohol-Schlaf, aus dem sie schnell wieder erwachte. Eine Weile hat sie sich hin und her gewälzt, gehofft, sie könne die sich anbahnenden Kopfschmerzen durch Autosuggestion besiegen. Als dann aber auch noch die Blase zu drücken begann, gab sie sich einen Ruck und machte sich auf den Weg zur Toilette, die leider außerhalb der Kabine lag.
Als sie zurückkam, fiel ihr Blick auf die Deutsche Zentralzeitung . Sie lag auf dem Klapptisch, das Licht schien darauf. Charlotte begann zu lesen. Wollte sich müde lesen.
Sie hatte schon seit Tagen in keine Zeitung geschaut. Auf Reisen ist so leicht keine zu kriegen, selbst die Parteipresse ist aufgrund des Papiermangels in der Sowjetunion knapp. Daher ist sie vom Inhalt des Leitartikels so überrascht, dass sie einen Augenblick meint, die Bibliothekarin in Batumi habe Wilhelm ein Archiv-Exemplar geschenkt. Denn es ist hier von der Strafsache gegen Sinowjew und andere die Rede. Sitzt denn Sinowjew nicht seit zwei Jahren im Gefängnis? Der Mann mit der hohen Pelzmütze auf dem Lockenkopf. Der Schönste von allen, fand sie immer. Es hat sie damals schockiert, dass er verurteilt worden war, immerhin ein Mitstreiter Lenins, eine Zeitlang sogar Chef der Komintern.
Jedoch, es ist die aktuelle Ausgabe: Prozess gegen Sinowjew und andere . Keine Lektüre für die Nacht, Charlotte überblättert den Leitartikel. Aber auch die nächsten Seiten sind voll von dem Prozess. Die Anklageschrift ist abgedruckt, gekürzt, aber noch immer zwei Seiten. Charlotte überblättert auch die Anklageschrift – will sie überblättern, als ihr Blick sich an dem Namen M. Lurie verhakt.
Sie kennt einen M. Lurie.
Moissej Lurie. Der eigentlich Alexander Emel heißt. Genauer gesagt, eigentlich heißt er Moissej Lurie, aber die meisten kennen ihn nur unter seinem Parteinamen Alexander Emel. Dass aber dieser Alexander Emel mit jenem M. Lurie identisch sein könnte, einem vom Ausland gesandten Agenten Trotzkis, wie es in der Zeitung heißt, der an der Spitze einer von einem aktiven deutschen Faschisten organisierten Kampfgruppe gestanden habe – das ist absurd. Wie sollte Alexander Emel, selbst Jude, selbst von den Nazis verfolgt, an der Spitze einer von einem aktiven deutschen Faschisten organisierten Kampfgruppe gestanden haben?
Charlotte hört ihr Herz pochen, so laut, dass es Wilhelms Schnarchen ein paar Schläge lang übertönt. Vorbereitung von Anschlägen auf Stalin, Molotow, Woroschilow … Unglaublich, was vor sich geht. Fast spürt sie etwas wie Wut. Wozu die ständigen Parteisäuberungen und Überprüfungen. Zwei volle Jahre geht das jetzt schon. Wie viele Formulare! Wie viele Lebensläufe! Wie viele Kommissionen! Ja, sie ist damit einverstanden. Nur muss sich doch irgendwann ein Erfolg einstellen …
Sie blättert um, die letzte Seite der Anklageschrift. Hier sind sie noch einmal aufgeführt, alle sechzehn, nummeriert, mit Vor- und Vatersnamen und dem Geburtsjahr. Nummer fünfzehn: Lurie, Moissej Iljitsch. Und dahinter steht in Klammern: alias Emel, Alexander.
Sie hat diesen Urlaub herbeigesehnt. Sie ist mit den Nerven am Ende. Die Atmosphäre auf Punkt Zwei ist unerträglich geworden, so schlimm, dass sogar Wilhelm erwogen hat, seine Entlassung aus der OMS zu beantragen und wieder als Dreher zu arbeiten. Als geheimer Kurier wird er schon lange nicht mehr eingesetzt (genauer: seit ihrem, Charlottes, Zusammenbruch in Stockholm; noch immer fühlt sie sich deswegen ein wenig schuldig). Auch als Politinstrukteur haben sie ihn abgesägt und durch diese blondierte Russin ersetzt: die Krumina, entsetzliche Intrigantin. Und zu allem Überfluss hat man ihn noch von seinem Posten als Lagerverwalter entfernt, weil er, was leider wahr ist, keine Ahnung von Funktechnik hat. Jetzt soll er nach Punkt Eins versetzt werden. Das ist einfach zu viel.
Sie haben ihren vollen Jahresurlaub genommen, einen ganzen Monat. Sie haben eine Dampferfahrt von Batumi nach Jalta gebucht. Und dann noch drei Wochen im Gästehaus der Gewerkschaft der Politarbeiter in Jalta. Charlotte war noch nie am Schwarzen Meer. Sie stellt sich vor: Drei Wochen nichts tun. Strand. Rauschen. Ob es wirklich schwarz ist, das Meer? Sie weiß nicht, ob sie das wünscht oder befürchtet.
Und dann hieß es auf einmal: Urlaubssperre in der gesamten OMS wegen der Lage in Spanien. Und Wilhelm fing tatsächlich an zu hoffen, dass man sie nach Spanien schickt, in den Bürgerkrieg. Und auch Charlotte dachte auf einmal: Vielleicht wäre es besser. Besser als das hier .
Draußen regnet es. Die Tropfen knallen aufs Fensterblech. Warten.
Und dann geschah das Wunder: Melnikow erteilte eine Ausnahmegenehmigung. Hoffentlich nicht, weil er verliebt ist. Dachte sie. Gewiss schmeichelt es ihr, dass sie offenbar noch immer eine gewisse Wirkung auf Männer ausübt – trotz ihrer einundvierzig Jahre. Beinahe zweiundvierzig. Aber andererseits: Verliebte Männer sind furchtbar, tun entsetzliche Dinge. Leider merkt sie es immer zu spät, wenn Männer in sie verliebt sind. Immer erst, wenn sie furchtbare Dinge tun.
Am 15. August ging es los. Zwei Tage Zugfahrt im Schlafwagenabteil. Regen, Regen … Der Blick durch flirrende Ströme von Wasser auf irgendeine entsetzliche Einöde. Das soll Kuban sein? Eine der fruchtbarsten Regionen der Sowjetunion, heißt es. Wo sind die wallenden Kornfelder? Wo sind die blitzblanken neuen Traktoren, wie sie auf den Plakaten zur Kollektivierung immer zu sehen sind? Fragt sie nicht. Denkt sie.
Da Gori auf ihrer Strecke liegt, beschließen sie, das Geburtshaus von Stalin zu besuchen. Wie sie zu dem Entschluss gekommen sind, weiß Charlotte nicht mehr, aber im Grunde ist es unmöglich, etwas anderes zu beschließen. Gott sei Dank hörte der Regen auf. Das Land ist zu groß, es kann ja nicht überall regnen.
Sie stolperten durch die Straßen. Geburtshäuser berühmter Persönlichkeiten hat Charlotte genug gesehen, sie stellt sich irgendwas vor mit einer Gedenktafel: Vater der Völker, Lokomotivführer der Weltrevolution . Aber dann ist sie doch überrascht: eine winzige, graue Kate, schiefe Treppe, abgeschabte Tür. Das war’s.
Und Jilly, plötzlich Tränen in den Augen, sagt: Jetzt verstehe ich, warum sie ihn lieben. Er ist einer von ihnen.
Jill Greenwood, ihre Reisebegleiterin. Neunzehn Jahre alt, das Küken auf Punkt Zwei. Wirklicher Name: Jean Hyman. Ihre Biographie passt in zwei Sätze: Erstens: Sie hat die Stoke Newington School in London besucht (und, ja, zwei Monate die Marx House School). Zweitens: Seit vier Monaten ist sie Kursantin an der Funkerschule der OMS . Und drittens ist sie bereit, für die Sache der Arbeiterklasse zu sterben. Wäre schade um sie, denkt Charlotte.
Dann noch von Gori nach Batumi mit dem Personenzug. Eine Invasion plötzlich: Menschen, die in den Waggon drängen, eine unheimliche, seltsam riechende Menge in Kaftanen und zerfledderten Barchenthemden, und alle, so schien ihr, irgendwie verunstaltet, versehrt: zahnlos oder verkrüppelt, fingerlos, beinamputiert oder von Ausschlag entstellt. Nicht, dass es in Moskau solche Gestalten nicht gäbe. Sie lungern auf Bahnhöfen herum oder stehen in endlosen Schlangen. Charlotte zieht es vor, ihnen nicht zu nahe zu kommen. Menschenmaterial. Sie ist nicht sicher, ob der Ausdruck in politischer Hinsicht korrekt ist. Aus diesem Menschenmaterial müssen wir den Sozialismus erbauen: Doch, das hat sie so schon einmal gelesen.
Und schließlich noch dieser entsetzliche Nachmittag in Batumi: Archäologisches Museum … die neue Bibliothek … der Botanische Garten mit dreitausend tropischen Baumarten … Es war gut gemeint. Es ist immer gut gemeint. Auch die säuerliche Rindfleischsülze, die sie unbedingt essen sollten. Fast hätte sie sich übergeben.
Dann, endlich, durften sie ihre Kabinen beziehen, Jilly zusammen mit einer unbekannten jungen Russin. Sie selbst zusammen mit Wilhelm, der jetzt in der oberen Koje liegt und schnarcht, während sie, nachdem sie die Zeitung wieder ordentlich zusammengelegt hat, in die Koje darunter gekrochen und in Rückenlage erstarrt ist.
Alexander Emel ein Verschwörer?
Zuerst fallen ihr seine Hände ein: schmale weiße Hände, zart. Sie bewegen sich, umspielen einander, sie formen das Thema gewissermaßen unsichtbar in die Luft. Er redet über die Bibel. Sie gehen am Kanal entlang (welcher Kanal?). Nein, das sei kein Aufruf zur Selbstliebe, sagt Emel. Sondern eine ungenaue Übersetzung. Im altgriechischen Original, sagt er, heiße es nicht Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, sondern: Liebe deinen Nächsten, er ist wie du. Verblüffend. Der Mann ist stellvertretender Leiter der Agitprop-Abteilung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Deutschlands. Er ist genauso alt wie sie, knapp über vierzig, aber er kommt ihr älter vor, reifer. Er hat über die Darstellung Ägyptens im Alten Testament promoviert (summa cum laude). Bildung hat sie immer fasziniert. Sie selbst fühlt sich ungebildet. Sie hat bloß die Mädchenschule besucht, verfügt über das unsichere Wissen einer Autodidaktin.
Jetzt erinnert sie sich: Teltowkanal … Frühjahr 1930? Überall zartes Grün. Weidenkätzchen, die Pappeln rascheln. Das letzte Frühjahr in Deutschland … Wilhelm und Isa – meine Güte, Isa – gehen ein ganzes Stück vor ihnen, weil Emel immer wieder beim Reden stehen bleibt. Sie wird niemals so leicht und beiläufig über die Geschichte Ägyptens reden können, über reale und fiktive Ereignisse, über den Unterschied zwischen Metapher und Gleichnis. Sie hat Sprachen gelernt, seit sie in der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin angestellt war. Sie kann inzwischen gut Englisch und einigermaßen Russisch. Aber Emel beherrscht außer Russisch und Englisch auch noch Französisch, Griechisch, Hebräisch und sogar etwas Aramäisch.
Natürlich beweist die Tatsache, dass er gebildet ist, nichts. Es gibt auch gebildete Mörder. Aber Alexander Emel? Mit seinen Jesushänden.
Sie findet keinen Schlaf. Immer wieder sieht sie ihn vor sich. Immer wieder versucht sie, den zierlichen Mann, sein verletzliches Gesicht, die zarten Hände mit dem in Übereinstimmung zu bringen, was sie in der Zeitung gelesen hat. Es geht nicht.
Ihr fällt ein, dass es vor vielen Jahren einen Artikel von Emel gegeben hat, der kritisiert wurde. Oder waren es zwei? Sie weiß nicht, weswegen. Sie kann sich kaum an den Inhalt erinnern, nur daran, dass sie nicht verstehen konnte, was daran eigentlich falsch war. Feinheiten. Sie war damals noch nicht sehr lange in der Partei. Irgendwie ging es um die Stalin’sche Landwirtschaftspolitik. Aber hat er die Stalin’sche Landwirtschaftspolitik denn nicht verteidigt? Wie dem auch sei. Ein politisch fehlerhafter Artikel ist kein Verbrechen. Kein Mordanschlag auf Stalin.
Manchmal konnte er ziemlich frech sein. Dann griente er wie ein Gymnasiast. Sie erinnert sich an ihre letzte, zufällige Begegnung im Kulturpark Moskau. Die ersten warmen Tage. Das Stalinporträt aus Frühblühern. Oh, Blümchenkunst , sagte Emel. Da war es, das Gymnasiastengesicht. Der Schalk in den Augen. Sie hat gleich gesehen, wie sich Wilhelms Miene verfinsterte. Gerade hatte er das florale Werk bewundert, und dann kommt Emel: Blümchenkunst.
Und jetzt – warum erst jetzt? – fällt ihr ein, dass Emel von seiner Suspendierung sprach: als Universitätsprofessor. Aber hat er nicht behauptet, es sei ein Irrtum? Er habe schon einen Brief an Dimitroff persönlich geschrieben. Und Charlotte hatte noch gedacht: Sieh mal an, er schreibt einen Brief an Dimitroff persönlich.
Das war irgendwann im Winter. Bei einem ihrer Besuche in Emels Wohnung muss es gewesen sein. Und dann, nach jener Begegnung im Kulturpark, befand Wilhelm plötzlich: Wir sollten die Finger von Emel lassen . Und natürlich hat sie gedacht, er sei sauer, wegen der Blümchenkunst. War er auch. Er war öfter mal sauer auf Emel. Eifersüchtig, grundlos natürlich. Aber er merkte wohl, dass sie Emel bewunderte. Versuchte mitzuhalten, und Emel, immer sehr höflich, gab sich Mühe, ihn seine Überlegenheit nicht spüren zu lassen.
Und dann hatte er noch eine Runde dieser neumodischen roten Limonade spendiert. Und sich darüber lustig gemacht, dass alle Frauen auf einmal blaue Schuhe trugen. War das eine versteckte Kritik? An der Planwirtschaft? Aber tatsächlich, wenn man sich umsah: plötzlich überall blaue Schuhe und weiße Söckchen …
Als sie aufwacht, ist sie allein in der Kabine. Wilhelm ist offenbar schon im Bad. Die Sonne scheint herein. Das Schiff hat abgelegt, sie spürt, dass es entschlossen Fahrt macht. Der Wind pfeift. Das Meer ist blau: dunkelblau. Die Zeitung liegt unberührt auf dem Klapptisch. Sie öffnet den Schrank, legt die Zeitung hinein. Tut probehalber so, als wüsste sie von nichts. Stellt ihren kleinen Koffer auf den Klapptisch, nimmt das Waschzeug heraus. Zeitung? Was denn für eine Zeitung?
Als sie aus dem Bad zurückkommt, ist Wilhelm schon angezogen. Wie gebannt schaut er hinaus aufs Meer. Charlotte zieht ihr weißes, gepunktetes Sommerkleid über, zum ersten Mal. Ihr Urlaubskleid. Seit Wochen sieht sie sich in diesem Kleid auf dem Deck des Schwarzmeerdampfers spazieren. Sie trägt Lippenstift auf. Auch den Lippenstift hat sie sich aufgespart bis zum Urlaub. Noch vor nicht allzu langer Zeit hatte sie das Benutzen von Lippenstift als eitel, ja sogar als unkommunistisch angesehen. Aber vor einem Jahr hat Stalin in einer Rede jenen schnell berühmt gewordenen Satz gesagt: Das Leben ist besser, das Leben ist fröhlicher geworden! Und seitdem tauchen in Moskau immer mehr staatliche Mode- und Kosmetikgeschäfte auf. Immer mehr Moskauerinnen schminken sich oder färben sich die Haare, und irgendwann begann auch Charlotte, sich zu fragen, ob ihre Abneigung gegen Kosmetik vielleicht ihrer preußisch-protestantischen Erziehung entstamme und also zu überwinden sei.
Voilà! Sie dreht sich um die eigene Achse. Wilhelm schaut sie mit glänzenden Augen an. Er liebt sie, bewundert sie noch immer. Manchmal fühlt sie sich ein bisschen schlecht, weil sie nicht sicher ist, ob sie ihn mit gleicher Kraft zurückliebt. In Jalta, im Gästehaus der Gewerkschaft der Politarbeiter, will sie gut zu ihm sein , wie sie es nennt. Sie wird es ihm erlauben. Das Unaussprechliche. Weiß Wilhelm eigentlich, dass Alexander Emel in Wirklichkeit Moissej Lurie heißt? Laut sagt sie:
Gehen wir frühstücken.
Das Schiff schlingert jetzt leicht. Die Flure sind endlos. Sie folgt Wilhelm blindlings durch das Labyrinth der Decks und Gänge, aber natürlich verlaufen sie sich. Am Ende müssen sie jemanden fragen, das heißt, sie, Charlotte, muss fragen, weil Wilhelm trotz aufrichtigen Bemühens noch immer nicht die Sprache der Heimat aller Werktätigen erlernt hat. Er hat einfach kein Talent für Sprachen.
Vor dem Restaurant müssen sie warten, obwohl es freie Plätze gibt. Dann den Zimmerschlüssel vorzeigen, Unterschrift. Es gibt Frühstück Nummer eins und zwei und dann noch eins für die erste Klasse (mit Zuzahlung). Sie wählen beide Nummer zwei, Frühstück Ewropejskij . Schwarzbrot, dazu ein Stück Wurst, das den typisch säuerlichen Geschmack russischer Wurstwaren hat (so haben in Deutschland manchmal die Bockwürste geschmeckt), und ein halbausgereiftes Stück Käse, anscheinend halb Kuh, halb Schaf, dem Geruch nach.
Georgisch, behauptet Wilhelm (sie hat ihm Ewropejskij nicht übersetzt).
Der Kaffee ist, wie üblich, kaum von Tee zu unterscheiden. Wilhelm, der zu der Zeit, da sie von der OMS noch als Kuriere eingesetzt wurden, das Drei-Gänge-Menü in einem Brüsseler Sternehotel als Affenfraß abzutun imstande war, zeigt sich äußerst zufrieden.
Charlotte spielt mit. Charlotte spielt Urlaub. Leider ist Jilly noch nicht an Deck. Ihr Frohsinn, ihre schnatternde Heiterkeit fehlen ihr plötzlich. Für einen Augenblick droht eine stockende Leere, die sie sogleich auszufüllen versucht. Charlotte spielt gute Laune.
Sie spielt: Ach, ist das schön, dass wir mal zu zweit hier sitzen!
Sie spielt Frühstück. Sie spielt Tee trinken.
Sie spielt Aufs-Meer-Schauen.
Sie spielt Entzückt-aufs-Meer-Schauen und sagt: Ich habe es mir immer schwarz vorgestellt.
Quatsch, sagt Wilhelm.
Nach dem Frühstück geht Wilhelm auf Erkundungstour: Schiff besichtigen. Charlotte holt sich das Buch, das sie für die Reise mitgenommen hat, aus der Kabine: Tscheljuskin von Tretjakow, ein Bericht über die heldenhafte Rettung der im Nordpolareis eingeschlossenen Besatzung des gleichnamigen Schiffs. Vor drei Jahren hatte das Drama begonnen; gerade war sie aus Deutschland in die Sowjetunion geflohen. Ein halbes Jahr lang hatte die ganze Sowjetunion die Fahrt, die Havarie und schließlich die Rettung der Besatzung verfolgt, und Charlotte erinnert sich noch gut daran, wie ihr bei der Radioübertragung vom triumphalen Empfang, den man den Geretteten und den Rettern in Moskau bereitete, die Tränen herunterliefen.
Sie setzt sich in einen der Liegestühle an Deck, aber der Wind erweist sich als überraschend kühl, sodass ihr, da sie keine Lust hat, noch einmal den langen Weg zu machen, um ihre Strickjacke zu holen, nichts anderes übrigbleibt, als ins Innere zu wechseln. Und da ist auf einmal Jilly! Hat das Frühstück verpasst und sich ein belegtes Brot am Buffet geholt.
Sie sieht verschlafen aus, noch kindlicher als sonst. Ihre Wangen sind rosig. Sie ist so jung, dass man sie für Charlottes Tochter halten könnte, auch wegen ihrer so ganz und gar unbritischen schwarzen Locken. Und tatsächlich glaubt Charlotte manchmal, sich selbst in ihr wiederzuerkennen, obgleich es ganz ungewiss ist, ob die beinahe noch babyhaften Pölsterchen, die Jilly umhüllen, mit der Zeit wegschmelzen oder anschwellen werden. Auch sind ihre Proportionen bei näherem Hinsehen nicht so ideal wie Charlottes, aber sie ist jung, schwindelerregend jung; und Charlotte kommt gerade in das Alter, da sie versteht, was Jugend bedeutet: nämlich gerade die Zeit, da man nicht versteht, was Jugend bedeutet.
Sie ist gern in Jillys Nähe, kann nie genug davon kriegen. Sie hat sogar schon überlegt, ob sie zusammen mit Jilly in eines dieser kleinen Holzhäuser an der Moskauer Peripherie ziehen könnten, wenn ihre Zeit auf Punkt Zwei einmal enden sollte. Ob Kurt und Werner eifersüchtig wären? Nicht, dass sie glaubte, ihre Söhne wollten mit ihr zusammenleben, jetzt, da sie erwachsen sind. Trotzdem könnten sie eifersüchtig sein: nachträglich.
Schon an dem scheuen Rundumblick, mit dem Jill prüft, ob Wilhelm in der Nähe ist, erkennt Charlotte, dass sie mit ihr reden will. Seit Tagen spürt sie, dass Jilly etwas auf dem Herzen hat. Meist geht es in solchen Fällen um kleine Zweifel, die die junge Kommunistin bewegen: Warum es in sowjetischen Kantinen Zuteilungen gemäß «Leistung» gibt (dass also der Chef mehr Fleisch oder Gebäck bekommt als die Sekretärin). Oder wieso der legale Abbruch der Schwangerschaft in der Sowjetunion wieder abgeschafft wurde. Und tatsächlich ist das auch für Charlotte ein Schock gewesen; sie erinnert sich noch, wie sie diese Errungenschaft in der kommunistischen Frauengruppe Neukölln gepriesen hat.
Heute aber, stellt sich heraus, geht es um etwas anderes, genauer gesagt, um jemanden, nämlich um Müller, eigentlich Melnikow, den neuen Chef der OMS , jenes mächtigen Geheimdienstes, für den sie arbeiten. Dieser Mann, so behauptet Jilly, stelle ihr seit einigen Wochen nach.
Deshalb also hat Melnikow den Urlaub genehmigt? Der Gedanke ist zuerst da. Nicht weil er in sie, sondern weil er in Jill Greenwood verliebt ist? Und obwohl sie sich keineswegs wünscht, von diesem hohlwangigen, struppigen Mann mit Zuneigung belästigt zu werden, ist Charlotte ein kleines bisschen gekränkt. Sie spielt Erstaunen. Ungläubigkeit. Sie reißt die Augen auf, sie lehnt sich zurück, kopfschüttelnd. Aber sie ist wirklich erstaunt: Melnikow? Der Mann ist doch mindestens fünfundvierzig! Verheiratet, zwei Kinder … Ein Mann in dieser Position!
Jill beugt sich zu ihr hin und teilt ihr flüsternd die Details mit: Er habe jedes Mal, wenn er auf Punkt Zwei war, mit ihr gesprochen.
Und weiter?
Er habe ihr eine Karte für den Komsomol-Kongress besorgt.
Und weiter?
Er habe sich in die Hand versprechen lassen, dass sie ihm eine Postkarte aus dem Urlaub schreibt.
Das ist alles?
Ja, das ist alles. Aber sie habe so ein Gefühl …
Kindchen! Charlotte ist wieder ganz in der gewohnten Rolle. Wenn du wüsstest, was verliebte Männer tun!
Aber Jill fängt wieder von vorn an, die Postkarte, der Jugendkongress … Charlotte ist schon nicht mehr bei der Sache. Jillys Aufruhr beginnt ihr auf die Nerven zu gehen, ja, sie ärgert sich sogar ein wenig darüber, dass das Mädchen sich allen Ernstes einbildet, Melnikow sei in sie verliebt. Komsomol-Kongress!
Jilly, ist dir schon mal aufgefallen, dass du die Jüngste bist auf Punkt Zwei? Wen soll er denn sonst zum Komsomol-Kongress schicken? Etwa Wilhelm?
Und erst als Jilly hell auflacht, wird Charlotte gewahr, wie komisch das wirklich ist. Wie komisch und traurig auch. Es rückt ihr ins Bewusstsein, wie alt Wilhelm geworden ist, denn eben war er noch jung, Jilly weiß es bloß nicht. Eben noch war er ein junger Rotfrontkämpfer in lederner Motorradkluft, mit einer BMW R 32. Und plötzlich ist er so alt, dass die Vorstellung von Wilhelm auf dem Jugend-Kongress Heiterkeitsanfälle hervorruft.
Auch Charlotte muss lachen. Jill läuft ein Tränchen die Wange herunter. Aber dann verdreht sie die Augen in Richtung Tür: Wilhelm kommt! Die beiden Frauen reißen sich zusammen.
Aber als er sich nähert, als er leibhaftig vor ihnen steht mit seiner kahlen Stirn und den großen Ohren, die, seit die Haare dünn werden, noch größer erscheinen, kichern sie wieder los, wie die Schulmädchen. Versuchen, ihr Kichern zu unterdrücken, müssen erst recht lachen. Sie muss ihm mal sagen, dass er die Ohren ausrasiert, denkt Charlotte, dann begegnen sich ihre Blicke, Jills und ihrer, sie prusten schon wieder los, und für einige Augenblick hat Charlotte das, was sie am liebsten vergessen will, vergessen.
Wilhelm schüttelt den Kopf, wartet geduldig, bis die beiden sich eingekriegt und sich die Tränen aus den Augen gewischt haben. Dann wartet er noch eine Sekunde. Dann fragt er:
Wo ist eigentlich meine Zeitung?
Was denn für eine Zeitung?
Die Bibliothekarin hat mir doch eine Zeitung geschenkt.
Ach die! Keine Ahnung. Vielleicht hast du sie irgendwo liegenlassen?
Ganz bestimmt nicht, sagt Wilhelm.