6 Gespräch in der fünften Etage
– Charlotte –
Die Vorortbahn braucht eine Dreiviertelstunde von Podlipki bis zum Jaroslawler Bahnhof. Den größten Teil der Strecke fährt man wie durch ein Dorf: Holzhäuser, von der Zeit geschwärzt. Brachen, Feldwege, hin und wieder eine steinerne Kirche. Sie erinnert sich, wie sie damals hier ankam; wie sie aufgeregt durch das Zugfenster spähte und auf die Stadt wartete. Aber so etwas wie «die Stadt» begann im Grunde erst da, wo sie ausstieg: Komsomolskaja ploschtschad hieß der riesige, von den drei Bahnhöfen umstandene Platz, aber was sie dort sah, erstaunte sie, um nicht zu sagen, schockierte sie noch mehr als die armseligen schwarzen Holzhäuser. Sie hatte geahnt, dass Moskau, wie alles Unbekannte, nicht ihren Vorstellungen entsprechen würde. Aber das war außerhalb jeder Erwartung gewesen, so etwas hatte sie noch nie gesehen:
Droschkenkutscher wie aus Tausendundeiner Nacht. Pferde in orientalischen Halsjochen. Altmodische Straßenbahnen, an deren überfüllte Plattformen sich Menschen krallten, krochen über den hügeligen Platz, bimmelten sich den Weg frei. Überall zwischen Truhen und Säcken lagen, hockten, dösten Hunderte von Menschen in Steppjacken und Pluderhosen, mit Fellmützen und Turbanen oder abgeschabten Rotarmistenkappen: Greise, die stumpf vor sich hinstarrten, stillende Mütter, spielende, lachende oder streitende Kinder. Was taten sie hier, wohin waren sie unterwegs, waren sie überhaupt unterwegs? Denn tatsächlich sah es nicht so aus, als würden diese Menschen auf einen Zug warten. Es sah aus, als lebten sie hier.
Drüben, auf der anderen Seite des Platzes, riesige Transparente über die Fassaden gespannt: Konterfeis bekannter Sowjetpolitiker. Inzwischen hat sie sich daran gewöhnt, aber damals fand sie diese Art der Selbstdarstellung befremdlich – nicht gerade, was sie unter kommunistischer Bescheidenheit verstand. Aber mehr noch hatte sie damals erstaunt, dass ausgerechnet der Mann mit dem Schnauzbart im Verhältnis zu den anderen dermaßen hervorgehoben war. Sie kannte den Namen Stalin, aber war er nicht bloß eine Art Sekretär? Waren andere Parteiführer nicht sehr viel bedeutender?
Jetzt hängt nur noch er da. Stalin. Der große Steuermann. Lokomotivführer der Weltrevolution. Bannerträger der Menschheit. Hat wirklich das Volk ihm all diese Namen gegeben? Freude der Völker. Sonne der Gerechtigkeit …
Dann die Autofahrt. Wilhelm hatte sie abgeholt. Der alte Ford, schon damals Grischa am Steuer. Auch diese erste Fahrt ist ihr bis fast in jede Einzelheit in Erinnerung geblieben. Ihre Freude über die gewaltig breiten Straßen. Geschäfte waren zu sehen, ein Restaurant und vor allem: Baustellen, Baustellen … Wilhelm kannte sich schon ein wenig aus in Moskau: Lubjanka, er wies mit dem Kopf auf das große Gebäude, an dem sie vorbeifuhren. Lubjanka? Das Gefängnis des NKWD , ein bisschen zum Gruseln. Rechts das Bolschoitheater: Wie freute sie sich darauf! Klassizistische Prachtbauten. Das moderne Hotel Moskwa war schon aus der Ferne zu sehen, ebenso das hochmoderne, gewaltige STO  – der Rat für Arbeit und Verteidigung, wusste Wilhelm.
Und das schöne Jugendstilgebäude dort? Das wusste Wilhelm nicht, musste den Fahrer fragen: Hotel Metropol, sagte Grischa. Und schon war der Kreml in Sicht. Das stumpfe Rot der Mauern wie auf der Postkarte, die Wilhelm ihr geschickt hatte. Gewaltiger noch als auf dem Foto. Das Zentrum von allem. Sitz der sowjetischen Regierung. Der Ort, wo Lenin sein Arbeitszimmer gehabt hatte.
Aber die Weltrevolution, sagte Wilhelm, wird hier gemacht.
Der Wagen hielt vor einem ansehnlichen, aber wenig auffälligen Gebäude. Irgendwas zwischen Klassizismus und Gründerzeit. Drei Stockwerke (vier, nach russischer Zählart). Da war sie also, die Kommunistische Internationale.
Was Charlotte damals über die Komintern wusste, war nicht viel. Natürlich wusste sie, dass die Komintern von Lenin gegründet worden war. Sie wusste aus Lenins Schriften, dass dieser sicher gewesen war, die russische Revolution könne nicht überleben ohne die Weltrevolution und insbesondere nicht ohne die Revolution in Deutschland. Das war das erklärte strategische Ziel der Komintern, und eine Zeitlang hatte es tatsächlich so ausgesehen, als liege das Ziel greifbar nah; als würde jeden Augenblick in Deutschland die Räterepublik errichtet; als griffe der Flächenbrand der Revolution auf die anderen europäischen Länder über. Aber spätestens 1923, nach dem gescheiterten Aufstand in Hamburg, war klar, dass man die Taktik ändern musste. Noch immer war die kommunistische Bewegung stark, noch immer galt als sicher, dass die Krisen des Kapitalismus einen fruchtbaren Nährboden für kommende Aufstände abgeben würden – und für diesen Fall wollte man die Arbeiterbewegung vorbereiten, durch Kongresse und Schriften, Direktiven und Kommissionen, aber auch durch weniger öffentliche Maßnahmen.
Ohnehin herrschte in der Kommunistischen Partei eine konspirative Atmosphäre, teils aus den Zeiten der Illegalität, teils auch inspiriert von den Erfahrungen der siegreichen sowjetischen Genossen. Charlotte wusste, dass Wilhelm eine Zeitlang im sogenannten T-Apparat tätig gewesen war; das T stand für Terror. Als Gauleiter des neugeschaffenen Rotfrontkämpferbundes hatte er ebenso mit dem M-Apparat, dem Militärischen Apparat, zu tun gehabt, aber auch mit dem AM -Apparat, dem Antimilitärischen Apparat – alles geheime, illegale Strukturen zur Ausführung von Operationen, die mit Recht und Gesetz nicht viel zu tun hatten. Aber im Herbst 1928 erreichte Wilhelms konspirative Karriere ein neues Stadium.
Praktisch über Nacht wurde aus Wilhelm Jean Germaine . Er legte seine Ämter nieder und kappte alle offiziellen Verbindungen zur Partei. Er tauschte seine Motorradkluft gegen Nadelstreifen und zog nach Hamburg, wo er Geschäftsführer der Lüdecke & Co. Import Export wurde, einer Firma, die angeblich mit Holz handelte.
Den neuen Namen fand Charlotte unpassend, aber die Nadelstreifen standen ihm verblüffend gut. Selbst sein schroffes, proletarisches Auftreten erschien im neuen Anzug als Ausdruck bürgerlichen Selbstbewusstseins. Es imponierte ihr, wie gewandt sich Wilhelm in dieser weltläufigen, von Freiheit und Fernsucht durchatmeten Stadt bewegte. Sie staunte über die Art, wie er mit hanseatischen Kellnern umging, und über die Gelassenheit, mit der er den Polizisten abfertigte, der im Haus nach einem untergetauchten Kommunisten suchte – welcher sich in Wilhelms Wohnung befand.
Dass Wilhelm nicht mit Holz handelte, war Charlotte klar gewesen. Aber als er sie an einem Wochenende – sie besuchte ihn stets an den Wochenenden, zu der Zeit arbeitete sie bereits in der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin – durch seine Firma führte, war sie doch überrascht. Diese «Firma» war nicht mehr als ein jämmerlicher Verschlag. Vorn der Arbeitsplatz eines «Buchhalters», den Charlotte auch später nie zu Gesicht bekam, hinten Wilhelms «Bureau»: eine fensterlose Schachtel mit Hinterausgang und einem geheimen Versteck, aus dem er vor ihren Augen einen Revolver und einen schwarzen Koffer voller Dollarscheine holte. Der Schreck löste sich keineswegs, als Wilhelm ihr offenbarte, er arbeite für die Komintern. Und zwar, fügte er raunend hinzu, für eine spezielle Abteilung .
Charlotte erinnert sich, wie sie das Komintern-Gebäude zum ersten Mal betrat. Wie sie zum ersten Mal das Wort propusk hörte. Wie sie zum ersten Mal die vier Treppen hochstieg, weil der Fahrstuhl gerade nicht funktionierte. Sie erinnert sich an den missmutigen Diensthabenden an seinem Tischchen auf dem obersten Treppenabsatz, der den eben erstandenen propusk gleich wieder einzog; an den Posten mit aufgepflanztem Bajonett, der den namenlosen Eingang bewachte. Sie erinnert sich an alles.
Sie erinnert sich, wie sie Wilhelm durch den langen Korridor folgte, bis an die offene Tür am Ende des Flurs, wo eine Frauenstimme zu hören war – Laute einer harten, ihr unbekannten Sprache (von der sie aber sofort wusste, dass es sich um Lettisch handelt). Sie erinnert sich an die winzige, entschuldigende Kopfbewegung, mit der Wilhelm sie durch die Tür dirigierte. Und natürlich erinnert sie sich an den Anblick jener telefonierenden Frau, die dort mit einer Papirossa in der freien Hand am Schreibtisch lehnte. Und wenn es eine lange Sekunde dauerte, bis sie die Person in das Muster ihrer Bekanntschaften einordnen konnte, so lag es wohl daran, dass sie ein wenig rundlicher, weiblicher geworden war.
Hilde Tal, Wilhelms erste Ehefrau. Diejenige, die er mit ihr betrogen hatte, während sie, Charlotte, Erwin betrog. Aber während sie Erwin gegenüber nicht den Anflug eines schlechten Gewissens hatte, fühlte sie sich Hilde gegenüber schmählich. Besonders hatte sie stets der Gedanke gequält, dass ihr, Charlottes, Aussehen bei der Konkurrenz um Wilhelm eine Rolle gespielt haben könnte. Es kam ihr unwürdig vor, dass Wilhelm sie aufgrund ihrer Schönheit bevorzugt haben könnte. Geradezu unkommunistisch.
Hilde war eine großartige Genossin, eine Heldin beinahe. Eine Revolutionärin der ersten Stunde. Sie hatte im weißen Hinterland bei den Partisanen gekämpft, hatte sogar im Gefängnis gesessen. In Deutschland war sie – zusammen mit Wilhelm – für den M-Apparat tätig gewesen, und auch wenn Wilhelm nie erzählte, was Hilde im Einzelnen tat oder getan hatte, so war seiner offenkundigen Bewunderung doch zu entnehmen, dass sie nicht bloß mit Stöckchen nach Nazis geschmissen hatte. Einmal, noch in Deutschland, hatte sie gesehen, wie Hilde einen Revolver im Hosenbund trug. Sie trank, sie rauchte unablässig und führte auch später bei konspirativen Treffen in Wilhelms Hamburger Wohnung das große Wort, während man Charlotte «spazieren» schickte.
Aber bei allem Respekt: Hilde Tal, die gelernte Fleischerin, hier, im obersten Stock des Komintern-Gebäudes anzutreffen, mit eigenem Schreibtisch, in einem Zimmer, aus dem man direkt auf die Kremlmauern sah, das hatte sie doch überrascht – und noch mehr, wie gut sie hierherpasste. Neuerdings im Rock, mit halblangem Haar, schien sie hier ganz zu Hause zu sein; sie bedeutete ihnen, Platz zu nehmen, sprach ein paar russische Sätze in ein zweites Telefon, schaffte es dabei, mit zwischen die Lippen geklemmter Papirossa ein paar Notizen zu machen, einen Tauchsieder einzustecken, Tee aufzugießen und ihnen je ein Bonbon auf die Untertasse zu legen, um ihnen, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, zu zeigen, wie man den Tee «auf Russisch» trinkt, nämlich durch das in die Zähne geklemmte Bonbon (Charlotte wusste noch nicht, dass das mit dem notorischen Zuckermangel in der Sowjetunion zusammenhing).
Auch erinnert sie sich daran, wie Hilde sie im fachgerechten Knicken einer Papirossa unterwies. In Wirklichkeit hatte Charlotte das Rauchen wieder aufgegeben, nachdem Hilde aus ihrem Gesichtskreis verschwunden war, aber sie wollte nicht zugeben, dass sie damals, nach überwundener Trennung, nur ihretwegen, Hildes wegen, angefangen hatte zu rauchen, zum Zeichen der Verehrung und Freundschaft, sodass sie nun tapfer zugriff, um sofort festzustellen, dass es ihr absolut unmöglich war, mehr als zwei Züge dieses ätzenden Krauts zu inhalieren. Zum Glück krächzte die Sprechanlage auf dem Schreibtisch, Hilde öffnete eine Tür, und ein eher kleiner, wohlgenährter Mann mit Weste und Hornbrille kam ihnen entgegen, die Hand zum Gruß ausgestreckt.
Wäre der Mann ihr auf der Straße begegnet, hätte sie ihn vermutlich übersehen. Aber es genügte, dass er sich mit leiser Stimme vorstellte, um sie in einen beinahe hypnotischen Zustand zu versetzen: Abramow-Mirow, ein Name, den man in Parteikreisen flüsterte. Die graue Eminenz. Der Strippenzieher. Jemand, dessen Gesicht auf keinem Transparent, in keiner Zeitung zu sehen war und der doch, davon war jeder überzeugt, zu den mächtigsten Männern der kommunistischen Bewegung gehörte, womöglich sogar zu den mächtigsten Männern dieser Erde. Wenn Wilhelm neben ihm nicht vollkommen verschwand, nicht zum Nichts schrumpfte, dann nur, weil Abramow-Mirow ihn begrüßte wie einen alten Bekannten. Alles an diesem Mann nährte seine Aura, selbst die Art, wie er mit drei abgespreizten Fingern seinen Tee umrührte. Seine sanfte Stimme ließ die Geräusche ringsum ersterben. Geduldig erkundigte er sich nach den Zuständen in Deutschland, fragte nach, als Charlotte von ihren letzten Wochen in Berlin erzählte, wollte Genaueres wissen über die Methoden der Nazis, über die Stimmung in der Bevölkerung, und während sie sprach, bemerkte Charlotte plötzlich, dass sie dabei war, ein Bild von Deutschland zu zeichnen, das kaum der Einschätzung der Partei entsprechen dürfte (welche davon ausging, dass die Arbeiterklasse sich gegen die Naziherrschaft erheben und der ganze Spuk bald vorüber sein werde); aber als sie gerade ansetzte, sich zu korrigieren, unterbrach Abramow-Mirow sie mit der Frage, ob sie sich vorstellen könnte, für die OMS zu arbeiten.
OMS : ein Wort. Eine Silbe wie ein Glockenschlag.
Er wollte ihre Antwort nicht sofort hören. Ja, er bestand sogar darauf, dass sie sich eine Woche Zeit nahm zum Überlegen. Bei Hilde durfte sie eine Reservierung für das Hotel Sojusnaja in Empfang nehmen sowie ein Kuvert mit Rubelscheinen. Wilhelm wurde umgehend zu Punkt Zwei beordert. Und Charlotte verbrachte ihre erste, ihre schönste Woche in Moskau – zusammen mit Isa Koigen, Emels Frau, die, Zufall oder nicht, selbst gerade aus Deutschland angekommen war und im selben Hotel, Zimmer gegenüber, wohnte.
Das war im September 1933 gewesen, fast auf den Tag genau vor drei Jahren. Derselbe durchlässige Himmel hatte über Moskau gestanden, dieselbe kühle, klare Luft hatte sie angeweht. Dieselbe Sonne hatte flach und weiß über den Kremltürmen gestanden. Sogar derselbe Diensthabende saß an demselben provisorischen Tisch. Und doch kommt es ihr vor, als läge ein halbes Leben dazwischen.
Sie geht den langen Flur entlang wie zum Schafott. Sie hört Hilde telefonieren; sie telefoniert praktisch immer. Sie telefoniert immer, raucht immer, kocht immerzu Tee. Sie bedeutet ihr, sich zu setzen. Charlotte ist froh um jeden Aufschub, der ihr gewährt wird. Wieder und wieder überdenkt sie die Strategie. Sie will auf keinen Fall die Unwahrheit sagen, so viel steht fest. Jedoch: Wie viele Einzelheiten teilt sie mit? Wie viel kann sie «vergessen» haben? Dass sie mehrmals bei Emel und Isa zu Besuch waren, ist klar. Aber welche Rolle spielt es, ob sie mit Emel getanzt hat?
Sie übt Formulierungen: Wir haben ihm ein gebrauchtes Grammophon verkauft. Obwohl kein Mensch sie danach fragen wird. Das Wort gebraucht erscheint ihr auf einmal sehr wichtig. Sie denkt an die lange Diskussion mit Emel, dem Atheisten, über den gleichnishaften Charakter der Wahrheit in der Bibel. Muss sie zugeben, dass sie Emel bewundert hat? Dass er ihr sympathisch war? War er ihr denn sympathisch? Und wie ist es mit Isa? Steht sie etwa auch unter Verdacht? Wusste Abramow-Mirow vor drei Jahren, dass sie im selben Hotel wohnte? Hatte er es arrangiert? Sollte ihre, Charlottes, Eignung für den Geheimdienst geprüft werden? Hat man sie möglicherweise abgehört?
Hilde hat das Telefonat beendet. Charlotte lehnt die Papirossa ab, aber sie nimmt den Tee. Es kommt ihr so vor, als sei Hilde um sie besorgt. Die Art und Weise, wie sie ihr das Teeglas hinschiebt, ihr zunickt. Sie greift nicht wieder zum Telefon, als es klingelt, sie tippt nicht auf der Schreibmaschine herum, sondern bläst Rauchschwaden in Richtung Fenster und schweigt. Sie fragt auch nicht nach Wilhelm, nicht, wie es ihr geht. Sie behandelt sie, als hätte sie eine schwere Krankheit.
Charlotte versucht, einen klaren Gedanken fassen. Sie versucht, sich ihrer Vorsätze zu entsinnen, wie vor einer Prüfung. Aber ihr Kopf ist blockiert. Sie weiß nichts mehr. Für einige Sekunden weiß sie nicht einmal mehr, was sie hier tut. Warum ist sie hier, in Moskau? In der Sowjetunion? Dann ist aus der Sprechanlage ein Krächzen zu hören, Hilde nickt ihr noch einmal freundlich zu und sagt:
Du kannst den Tee mit reinnehmen.
Als Boris Nikolajewitsch Melnikow vor einigen Monaten Abramow-Mirow ablöste, war Charlotte alles andere als begeistert. Unglücklicherweise wurde die OMS zur selben Zeit in SS umbenannt – Slushba swjasi . Und obwohl man die OMS im internen Sprachgebrauch natürlich weiterhin OMS nannte, verband sich der neue Name des Dienstes in ihrem Kopf mit dem Erscheinen von Melnikow, der sich zu allem Überfluss den deutschen Decknamen Müller (russisch: melnik ) gab, sodass sie nun immerzu an ihn als SS -Müller denken musste. Sein knochiges Äußeres passte dazu. Überhaupt schien er in jeder Hinsicht das Gegenteil seines verschmitzten, weltläufigen Vorgängers zu sein. Er war dürr wie ein Kleiderständer, sein Händedruck kalt wie der eines Toten.
Ist es die Macht, die einen Menschen verändert? Seine Ausstrahlung? Kaum war er im Amt, gab es die ersten Gerüchte über ihn. Er habe als junger Stabschef der Roten Armee an den heldenhaften Kämpfen am Amur teilgenommen. Er sei als Kundschafter in Südostasien gewesen. Man habe ihn nach seiner Verhaftung in Japan im Gefängnis schwer gefoltert. Bei genauerem Hinsehen erweisen sich die Narben in seinem Gesicht gar nicht als Pockennarben. Das abgeschabte Jackett aus sowjetischer Produktion ließe sich durchaus als Zeichen kommunistischer Bescheidenheit interpretieren. Und was den Händedruck betrifft, so wirkt er, als er sie an diesem 19. September in seinem Büro begrüßt, keineswegs kalt, sondern, bei aller Entschlossenheit, fest und fürsorglich.
Überhaupt ist der Mann freundlich, ja sogar zum Scherzen aufgelegt. Er bietet ihr Schokoladenkekse an, macht ihr Komplimente. Anstatt sie nach ihrem Anliegen zu fragen, will er erst einmal hören, wie der Urlaub war, und als Charlotte die Gelegenheit ergreift, um von der Angelegenheit zu berichten, die ihr diesen Urlaub verdorben hat, scheint er desinteressiert. Zerstreut wiederholt er: Emel … Emel … Genau … Darüber werde man sogleich sprechen, sobald die Genossin von der Kaderabteilung dazugekommen sei, aber jetzt, solange man unter sich sei, habe man noch ein wenig Zeit zum Plaudern.
Ob sie zum ersten Mal am Schwarzen Meer war, will er wissen. Wie ihr Jalta gefallen habe. Und wie es denn unserer lieben Genossin Greenwood gehe. Man scheine ja gut bekannt zu sein. Ob die Genossin Greenwood, Charlotte möge die Frage verzeihen, mit ihr über ihn, über Melnikow, gesprochen habe. Oh ja, er müsse zugeben, dass er Jill gegenüber nicht gleichgültig sei. Offen gestanden, er liebe sie, sagt Müller-Melnikow und rauft sich die schwarzen Haare. Plötzlich spricht er vom Heiraten. Nein, nicht offiziell, nicht auf dem Papier. Das zähle für ihn alles nicht. Er wolle, dass sie seine Frau werde, Jill. Also menschlich, verstehen Sie? Ob Sie, Genossin Germaine, ein Wort für mich einlegen könnten?
Charlotte nickt, überspielt ihre Verblüffung. Schöpft Hoffnung. Jetzt bloß keinen Fehler machen. Eigentlich müsste sie sich empören. «Heiraten» nennt er das. Sie muss an Erwin denken und seinen Kommunismus der freien Liebe. Immerhin wirkt Melnikow ehrlich. Und er scheint Jill tatsächlich zu lieben. Er sieht Charlotte mit glänzenden Augen an. Die Haare zerrauft. Und auf einmal entdeckt sie Schönheit in diesem Gesicht. Sogar die Narbe auf der rechten Seite und die hervorstehenden Wangenknochen erscheinen ihr gar nicht mehr abstoßend, im Gegenteil. Sie sagt etwas wie Nun ja oder Vielleicht oder Ich kann es versuchen , und Melnikow, dankbar, nimmt ihre Rechte in seine verblüffend warmen, trockenen Hände.
Dann krächzt die Sprechanlage, und wenige Sekunden später betritt Erna Mertens den Raum, Referentin der Kaderleitung der Komintern, eine buchstäblich zugeknöpfte Person: bis unters Kinn. Obgleich sie keinen zeichnenden Makel im Gesicht trägt, ist sie hässlich. Ihr Ausdruck ist nonnenhaft streng. Sie befragt Charlotte mit hoher Stimme über ihre Bekanntschaft mit Emel, während Melnikow spürbar ungeduldig danebensitzt, sogar einmal eingreift, als Erna Mertens zum wiederholten Mal auf das verkaufte Grammophon zu sprechen kommt. Genossin, es handelt sich um ein Grammophon, nicht um ein Funkgerät , wirft er ein und beendet das Verhör schließlich mit einem Vorschlag: Die Genossin Germaine und auch der Genosse Germaine, sobald er wieder gesund ist, mögen einen Bericht schreiben über die Angelegenheit, man werde das prüfen, aber er sehe eigentlich nicht, dass sie sich als Genossen oder Mitarbeiter der OMS etwas Wesentliches hätten zuschulden kommen lassen, zumal sie den Vorfall unmittelbar nach ihrer Rückkehr gemeldet hätten.
Bis auf mangelnde Wachsamkeit, fügt Erna Mertens hinzu. Und: erwarte man einen vollständigen und wahrhaftigen Bericht, der eine selbstkritische – ihr Blick sucht Bestätigung bei Melnikow, der halbherzig nickt – Prüfung mit einschließe.
Charlotte verlässt das Gebäude erleichtert. Die Moskauer Herbstluft ist klar. Sie atmet sie in vollen Zügen. Alles ist gut, alles ist richtig. Wie konnte sie glauben, dass die Partei ungerecht mit ihr verfahren wird? Niemand reißt ihr den Kopf ab, weil sie diesen Verbrecher gekannt hat. Sie wird ein reumütiges Schreiben aufsetzen. Sie wird zugeben, dass sie hätte wachsamer sein müssen. Und das stimmt ja sogar.
Obwohl, andererseits: Hat Emel nicht noch ganz andere betrogen? Hat er nicht jahrelang die gesamte Parteiführung getäuscht? Nein, keine falsche Reue, auch das wäre Betrug. Selbstkritisch, aber ehrlich. Nicht zu demütig, aber auch nicht arrogant. Aufrichtig, das ist das Wort. Sie hat den Ton schon im Ohr.
Leichten Schrittes geht sie die Manjeshnaja uliza entlang. Rechts, vor der Kremlmauer, fängt man gerade an, die alten Bürgerhäuser abzureißen, es staubt, aber der Baulärm klingt wohltuend in ihren Ohren. Dann ist die Luft wieder rein. Sie atmet genüsslich. Und nach einer Weile geht ihr wieder das Lied durch den Kopf. Dieses Lied aus dem neuen Film, das sie jetzt überall singen, Zirkus heißt er. Sie sollten ihn endlich mal ansehen:
Vaterland, kein Feind soll dich gefährden!
Teures Land, das unsre Liebe trägt;
denn es gibt kein andres Land auf Erden,
wo das Herz so frei dem Menschen schlägt!