1 Metropol
– Charlotte –
Wenn man sich dem Hotel Metropol von der Neglinnaja
her nähert, kommt man direkt auf den ehemaligen Haupteingang zu, über dem hoch oben ein Giebelmosaik prangt. Dieses Mosaik ist eines der letzten Werke des berühmten Jugendstil-Malers Wrubel. Es zeigt ein Segelschiff, an dessen Mast eine rot gewandete Gestalt steht, der vom nahenden Ufer her eine schöne Blonde entgegenzufliegen scheint. Das Motiv entstammt dem romantischen Versdrama Die ferne Prinzessin
von Edmont Rostand. Es handelt von einem Edelmann, der mit Inbrunst die Prinzessin Melissinde anbetet, die er jedoch nie gesehen hat. Schließlich fährt er über das Meer, um sich seinen Traum zu erfüllen, unterwegs jedoch befällt ihn eine schwere Krankheit, sodass er, am Ziel angekommen, nicht einmal mehr einen Fuß auf das ersehnte Land setzen kann.
Am 23. September erklärt die Prawda
unter der Überschrift Für ein strahlendes und pulsierendes Leben in der Partei
die Parteisäuberung für abgeschlossen.
Am 26. September wird Genrich Jagoda, der Chef des Inlandsgeheimdienstes NKWD
, durch Nikolai Jeshow abgelöst.
Am 29. September wird Francisco Franco zum Oberbefehlshaber aller nationalen spanischen Streitkräfte ernannt.
Am 30. September erklärt die Prawda
, die Säuberung der Partei habe sich als unzureichend erwiesen. Am selben Tag
reicht Charlotte ihre schriftliche Erklärung zur Angelegenheit Emel persönlich im Haus der Komintern ein.
Zehn Tage später – Wilhelm ist inzwischen aus dem Krankenhaus entlassen und hat eine in allen Punkten übereinstimmende Erklärung verfasst – erhalten Charlotte und Wilhelm Anweisung, ihre Wohnstatt in Punkt Zwei zu räumen. Möbel und Fotoutensilien bleiben am Ort. Wilhelm muss seine Korowin, Kaliber sechs fünfunddreißig, abgeben. Weitere Informationen erhalten sie nicht – dafür eine Einweisung ins Hotel Metropol, auf Kosten der Kommunistischen Internationale.
Natürlich kennt Charlotte das Metropol, jeder kennt es: eine ausladende Jugendstilschönheit im Herzen der Stadt. Schräg gegenüber steht das Bolschoitheater. Ein Flügel des Hotels grenzt an den Platz der Revolution, der wiederum unmittelbar an den Roten Platz anschließt. Auf der anderen Seite des Platzes hat man das Hotel Moskwa erbaut, in dessen Erdgeschoss sich der neue Glawparfjumer
– der Hauptparfümeur – befindet, wo Charlotte vor dem Urlaub ihren Lippenstift gekauft hat: Das Leben ist besser, das Leben ist fröhlicher geworden!
Charlotte ist sogar schon im Inneren des Metropol gewesen, zusammen mit Isa, damals, während ihrer ersten Moskauer Woche. Denn das Metropol ist nicht einfach nur ein Hotel, sondern mit der Geschichte der Sowjetunion eng verbunden. Als die Bolschewiki von Petersburg nach Moskau zogen, weil die Front bedrohlich näher kam, gab es in Moskau kaum Platz für den rasch anwachsenden Regierungsapparat, weder für Büros noch für Wohnungen, so hatte Isa ihr erklärt. Also wurden die großen Hotels beschlagnahmt und zu Häusern der Sowjets
erklärt. Insgesamt waren über zwanzig Gebäude auf diese Weise umfunktioniert worden. Das Metropol aber
wurde zum Zweiten Haus der Sowjets
– gleich nach dem Hotel National, wo Lenin residierte.
Charlotte erinnert sich an die Beklemmung, die sich ihrer bemächtigte, als sie zum ersten Mal den vielfarbigen Marmorfußboden betrat. Sie erinnert sich, wie Isa sie am Ärmel zupfte und schnurstracks auf den gläsernen Fahrstuhl zusteuerte, den ein dicker uniformierter Fahrstuhlführer mit riesigem Schnauzbart bewachte. Unbegreiflicherweise schafften sie es sogar an der Etagen-Diensthabenden vorbei, die mit dem undurchdringlichen, missgelaunten Ausdruck aller sowjetischen Diensthabenden auf dem Treppenabsatz thronte. Charlotte erinnert sich an die schwingenden Glastüren, die endlosen Flure, deren ehrwürdige Weite nur durch die Schachtische unterbrochen wurde, über die sich stumme Kontrahenten beugten, oftmals noch von Kiebitzen umstellt.
In einem anderen Flügel tollten Kinder umher, die Räuber und Gendarm spielten (oder, wer weiß, Budjonny im Kampf gegen die Weiße Armee). Offenbar gab es hier immer noch Dauerbewohner. Allerdings hatte Charlotte im Vestibül auch Porträtfotos berühmter Gäste gesehen: Bernard Shaw war da gewesen, auch Henry Barbusse, der Autor der berühmten Stalin-Biographie (die er nicht geschrieben hat), und noch andere, die sie im Vorbeigehen nicht gleich erkannte. Dort hatte Nikolai Bucharin gewohnt, bevor er in den Kreml umzog. Und da war das Büro von Swerdlow gewesen, immerhin Vorsitzender des Exekutivkomitees des Allunions-Sowjets, im Grunde also der höchste Repräsentant des neuen Staates.
Es gelang ihnen, einen flüchtigen Blick in das pompöse Restaurant zu werfen, wo 1918 die erste Verfassung der Sozialistischen Sowjetrepubliken verhandelt worden war. Alle
Parteigrößen waren hier aufgetreten. Und auch das hat sie sich gemerkt: Beim Ersten Internationalen Moskauer Schachturnier spielte in diesem Saal der sagenhafte José Raúl Capablanca gegen den legendären Emanuel Lasker.
Und hier sollen sie nun wohnen? Wo das Zimmer in Goldrubeln zu bezahlen ist und, wie man unschwer dem Aushang an der Rezeption entnehmen kann, monatlich mehr kostet als ihre beiden Monatsgehälter zusammen? Warum steckt man sie nicht ins Hotel Sojusnaja? Oder ins Komintern-Hotel Lux, wo Hilde mit ihrer Familie wohnt? Eine Bruchbude, im Vergleich zu diesem Prachtbau.
Während ihrer illegalen Kurierfahrten für die OMS
haben sie schon in manchen Hotels dieser Welt genächtigt. Und auch wenn kaum eines so imposant war wie dieses, hat Charlotte durchaus gelernt, sich in solchen Häusern zu bewegen – im Ausland. Aber hier? Im Heimatland der Werktätigen? Auch Wilhelm ist unsicher. Trägt man sein Gepäck selbst hinauf? Winkt man mit einer kaum merklichen Handbewegung einen Boy
heran, oder bittet man freundlich um Hilfe?
Der uniformierte Schnauzbart, Charlotte erkennt ihn sogleich, erbarmt sich und trägt ihr Gepäck zum Fahrstuhl – vielleicht weil er Wilhelm die großen Koffer nicht zutraut, vielleicht auch, weil diese mit Aufklebern aus Paris, Berlin, Stockholm übersät sind und der Mann sich ein Trinkgeld erhofft? Was spielen sie hier, wer sind sie? Ausländische Touristen, als die ihre gefälschten Schweizer Pässe sie ausweisen? Oder sind sie hier als Mitarbeiter der Komintern, von denen man die Einhaltung der Regeln kommunistischer Ethik erwartet? Was weiß man über sie?
Vierte Etage. Wilhelm wühlt umständlich einen Rubelschein heraus, dessen Annahme der Fahrstuhlführer aber verweigert. Den Rest des Weges tragen sie die Koffer selbst.
Wilhelm muss zwei Mal absetzen, bevor sie ihr Zimmer erreichen: 479. Charlotte prägt sich die Zahl sofort ein.
Der Raum ist bestimmt zwei Mal so groß wie das winzige Zimmerchen, das ihnen auf Punkt Zwei zur Verfügung stand. Es gibt einen Schreibtisch, eine elegante Frisierkommode. Zwei bequeme Sessel stehen an einem kleinen Tisch: Man könnte hier essen, allerdings ist die Zubereitung von Speisen verboten, wie man ihnen an der Rezeption mitgeteilt hat. Anstelle eines Doppelbetts gibt es zwei einzelne Betten, was Charlotte nicht unangenehm ist. Das Fenster geht nach Norden. Kein sonniges Zimmer, aber dunkel ist es auch nicht. Und der Clou: Sie haben ein eigenes Bad, ein lange entbehrter Luxus.
Charlotte tritt auf den umlaufenden Balkon hinaus. Geradeaus die Neglinnaja uliza
. Zu ihren Füßen der breite Teatralny projesd
, auf dem auch im Oktober das Leben noch wimmelt: Die Straßenbahn Nummer Eins rumpelt vorbei. Automobile hupen Passanten aus dem Weg. Droschkenkutscher brüllen. Auf der riesigen Baustelle vor dem Bolschoitheater rackern Arbeiter für die Erfüllung des Generalplans zur Rekonstruktion der Stadt Moskau.
Rechts auf dem Hügel ist die Lubjanka zu sehen. Tatsächlich dachte sie zuerst, Lubjanka
komme von Liebe – Ljubow
. In Wirklichkeit leitet es sich von dem russischen Wort für Lindenbast ab – Lub
. Isa hat es ihr einmal erklärt. Ein Ort, wo früher mit Bast gehandelt wurde. Heute ist es der Name des Untersuchungsgefängnisses des NKWD
: Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten. Die Geheimpolizei.
Und links, ein paar hundert Meter entfernt, das Haus der Gewerkschaften. Der Ort des Prozesses. Absurder Gedanke: dass man sie absichtlich hierherverlegt hat, in dieses Zimmer, damit sie rechts die Lubjanka vor Augen haben und
links das Haus, in dem Alexander Emel zum Tode verurteilt worden ist.
Die erste Nacht. Der Lärm auf der Straße klingt lange nicht ab. Die schweren Vorhänge lassen sich seltsamerweise nicht vollständig schließen. Jedes Mal, wenn ein Automobil vorbeifährt, huscht ein Lichtschein über die Stuckrosette an der Decke und lässt die goldenen Sternchen aufleuchten, die im Kreis um die Lampe angeordnet sind. Charlotte muss an das Foto denken, das berühmte, das sie als Weihnachtsengel zeigt, vierjährig, mit goldenem Sternenkranz über dem Kopf. Jahrelang stand es im Schaufenster des Hoffotografen Brasch in der Leipziger Straße. Ihre Mutter hat damit angegeben: Mein Lottchen!
Mutter, wie kommen die Sterne aufs Foto? Ihre Mutter hielt es für richtig, ihr zu antworten: Das sind die Englein-Sterne, die sind über dich gekommen, weil du damals artig warst.
Betonung auf damals
.
Oh ja, das Foto hat die Mutter geliebt. Ansonsten floss ihre Liebe ungeteilt dem älteren Bruder zu. Er wurde verhätschelt, für ihn wurde gespart. Seinetwegen musste das Lottchen sonntags in der Kammer sitzen und die Wäsche fremder Leute stopfen: damit Carl-Gustav studieren kann
. Während sie selbst gerade mal vier Klassen der Haushaltsschule besuchen durfte. Ist es das, woran die Sterne an der Decke sie erinnern sollen?
Sechzehn sind es, sie zählt zwei Mal nach. Schade, dass es nicht passt: Es ist vierzehn Jahre her, dass sie Wilhelm zum ersten Mal sah. Sechzehn Angeklagte?
Das möchte sie lieber nicht denken. Sie schließt die Augen.
Sie hört Wilhelms Atem. Auch Wilhelm schläft nicht, drüben in seinem Bett.
Sie dreht sich auf die andere Seite. Hin und wieder huscht ein Lichtschein über ihre geschlossenen Lider. Immer seltener. Allmählich wird es still auf der Straße. Keine Straßenbahn mehr, kein Geschrei.
Erst gegen halb vier Uhr rollen wieder ein paar Autos von der Lubjanka herab und am Hotel vorbei. Aber da schläft Charlotte.
Am Morgen gibt es sogar warmes Wasser. Charlotte duscht, aber maßvoll, sie will die geschenkte Energie nicht verschwenden. Sogar ein paar Handtücher gibt es für jeden. Wäscht man die hier selbst? Macht man die Betten? Oder gibt es einen Zimmerservice, der für die Reinigung des Zimmers verantwortlich ist?
Als sie aus dem Bad kommt, ist Wilhelm wach. In dem engen Zimmerchen auf Punkt Zwei haben sie sich stillschweigend angewöhnt, sich abzuwenden, solange der andere mit Ankleiden oder anderen intimen Verrichtungen beschäftigt ist. Aber jetzt fällt es ihr schwer, nicht wenigstens einen prüfenden Blick auf Wilhelms Körper zu werfen: Der Tod auf Latschen
, hat sie gedacht, als er aus dem Krankenhaus kam. Nur noch Ohren und Nase. Der Arzt hat Essen verordnet, aber das ist leicht gesagt.
Bisher wurden sie in der stolowaja,
der Kantine auf Punkt Zwei, verpflegt, wo sie auch die nötigsten Dinge preiswert einkaufen konnten. Aber an ihre Versorgung hier hat anscheinend niemand gedacht. Möglicherweise ist das Frühstück ja inklusive?
Charlotte macht die Betten sicherheitshalber selbst und führt Wilhelm ins Restaurant. Das Frühstück, stellt sich heraus, ist nicht inklusive, aber Wilhelm, der für einen Augenblick in die großbürgerlichen Manieren verfällt, die er sich aus Gründen der Tarnung auf seinen Kurier-Reisen angewöhnt hat, dirigiert die im Weg stehende Kellnerin mit einer grandiosen Handbewegung beiseite und marschiert durch.
Aber dann ist er doch ein wenig eingeschüchtert, Charlotte spürt es. Auch sie selbst ist erneut beeindruckt. Der Saal ist riesenhaft. Eine vielfarbige, von Licht durchströmte Glaskuppel überspannt das Ganze in irrwitziger Höhe. Rote Marmorsäulen, bunte, ornamentierte Fenster. Palmenartige Leuchter wachsen aus mächtigen Goldgefäßen. Die nicht deutbaren Wandmalereien erinnern Charlotte aus irgendeinem Grund an Ägypten (wo sie nie war), überhaupt fühlt sie sich eher wie in einen Pharaonentempel als in der Hauptstadt der Sowjetunion. Zu allem Überfluss sitzt auf einer kleinen Bühne am Kopfende des Saals eine Frau in einer Art Toga und spielt Harfe.
Ein paar Russen lärmen an einem der großen Tische. Wenige, anscheinend ausländische Gäste sitzen still, zumeist paarweise, an den eingedeckten Tischen im hinteren Teil des Saals. Trotzdem dauert es geraume Zeit, bis eine Kellnerin an ihren Tisch tritt. Die Bitte nach einer Speisekarte überhört sie, leiert stattdessen die wenigen Gerichte herunter, die das Restaurant zum Frühstück anbietet.
Charlotte erhascht: Kascha (eine Art Buchweizengrütze), Plinsen (mit irgendwas) und Piroschki, jene immer etwas zu fettigen, gebackenen Teigtaschen, mit Kraut oder Fleisch gefüllt. Wilhelm hat ohnehin kaum ein Wort verstanden, aber auch Charlotte ist von dem brüsken Ton so verunsichert, dass sie anfängt zu stammeln.
Da mischt sich die beleibte Dame vom Nebentisch ein, die offenbar erraten hat, dass sie hier Neulinge sind, und empfiehlt ihnen die Plinsen mit Kaviar. Und sie tut dies mit der typisch russischen Nachdrücklichkeit, die eine andere Wahl absolut ausschließt, es sei denn, man hätte sogleich ein ärztliches Attest zur Hand, das einem den Verzehr von Kaviar verbietet.
Der flüchtige Wortwechsel ist für die Frau Anlass genug, um an ihren Tisch zu wechseln. Als wäre sie dafür verantwortlich, entschuldigt sie sich für das Benehmen der Kellnerin, lobt noch einmal vorauseilend den hervorragenden Beluga-Kaviar, der sie erwartet, und noch bevor der Kaviar kommt, weiß Charlotte bereits, dass die dicke Russin hier schon seit mehreren Jahren wohnt, und zwar keineswegs allein, wie zu betonen ihr wichtig scheint, sondern mit einem gewissen Wassja.
Sie seufzt bei der Nennung des Namens, denn dieser Wassja, erfährt Charlotte, arbeite Tag und Nacht, immer nur Arbeit, Arbeit, kaum seien sie im letzten Sommer einmal auf ihre Datsche gekommen, beschwert sich die Frau, und wenn, dann sei Wassja immer nur hinter seinen Käfern und Schmetterlingen her. Er sammle nämlich Käfer und Schmetterlinge, ihr Wassja, erklärt die Frau ernst und grüßt zwischendurch eine schlanke Dame, die das Restaurant mit zwei nicht sehr disziplinierten Kindern betreten hat, denen sie hin und wieder französische Silben hinterherzischt: Venez à moi! Et que ça saute!
Madame Weger, erklärt die Russin und verdreht vielsagend die Augen. Meint sie Jewgeni Weger? Das Politbüromitglied?
Nach so vielen Vorschussinformationen ist es vollkommen unmöglich, die Neugier der Russin abzublocken, die
jetzt natürlich wissen will, woher sie kommen, was sie hier tun und woher Charlotte so gut Russisch könne. Die Standard-Antwort auf solche Fragen lautete bisher: Sie seien aus der Schweiz und arbeiteten für die Komintern. Aber nach der vorläufigen Suspendierung haben sie noch keine neue Anweisung erhalten, und so entscheidet Charlotte spontan, bei der Schweizer Herkunft zu bleiben, die Komintern aber hinter sich zu lassen.
Wir haben bisher für die Komintern gearbeitet, sagt sie, die Vergangenheitsform betonend, und die dicke Frau, die mit ihren beringten Fingern und ihre lackierten Nägeln eigentlich nicht aussieht, als interessiere sie sich sonderlich für Politik, beugt sich zu ihr herüber und kommentiert, fast im Flüsterton:
Da soll es ja nur so von Volksfeinden wimmeln!
Hält sich aber sofort den Mund zu, als wäre ihr etwas Unanständiges herausgerutscht, und stellt sich nun vor: Anna Dawydowna, Vor- und Vatersname, wie in Russland üblich, ihr Nachname bleibt unbekannt.
Jetzt kommen die Plinsen mit Kaviar und Rahm, russischem Rahm, genannt sliwki,
der irgendwie fetter oder cremiger oder luftiger oder jedenfalls anders ist als deutscher Rahm, ein wunderbares Zeug, glatt ein Grund, an die Überlegenheit der sowjetischen Landwirtschaft zu glauben. Für Anna Dawydowna der Moment, ihr Frühstück mit irgendeinem Talon oder Bezugsschein zu bezahlen und sich zu verabschieden.
Zum Glück kann man das Frühstück auch bar bezahlen, allerdings erweist es sich als horrend teuer. Das könnten sie keine Woche durchhalten. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ein paar Lebensmittel einzukaufen.
Geschäfte gibt es genug ringsum. Lebensmittelkarten sind
abgeschafft, hat Charlotte in der Zeitung gelesen; auf Punkt Zwei gab es ohnehin keine. Die Schaufenster sind hübsch dekoriert, es gibt sogar Reklameplakate. Nur dass hier und dort Schlangen vor den Geschäften stehen. Charlotte hat die Schlangen schon früher gesehen. Bisher hat sie vermutet, dass die Menschen nach irgendwelchen besonderen Gütern anstehen. Mühelos finden sie ein Geschäft ohne Schlange. Allerdings gibt es hier nur Erbsen. Erbsen und Wodka, bewacht von einer griesgrämigen Verkäuferin in Filzstiefeln und mit einem schmuddeligen, auf Bauernart gebundenen Kopftuch. Erbsen müsste man kochen, aber wie soll man das auf dem Hotelzimmer tun?
Sie stellen sich an. Sie haben keine Ahnung, wie lange es dauern wird. Sie wissen nicht einmal genau, was es eigentlich zu kaufen gibt. Sie stehen mitten unter Menschen, die sie sonst nur aus sicherem Abstand sehen. Es wird gedrängelt und gestritten. Die Hinteren verlangen, dass weniger ausgegeben wird, die Verkäuferin schreit zurück, die Abgabemengen seien staatlich geregelt. Hin und wieder tauchen Personen auf, die aus irgendwelchen Gründen das Recht haben, sich vorn anzustellen. Es wird geflucht und geschimpft, auch über Charlotte und Wilhelm: Was wollen die Ausländer hier, kaufen uns noch das Letzte weg! Wilhelm kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Schließlich geben sie es auf und gehen in einen TORGSIN
-Laden. Torgowlja s inostranzami
bedeutet die schöne Abkürzung, was so viel heißt wie: Handel mit Ausländern
. Hier gibt es nahezu alles – für Gold, Silber, Valuta oder Valutaschecks. Ein paar haben sie noch, für die Übergangszeit wird es hoffentlich reichen.
Sie kaufen Schwarzbrot, Butter und ein paar Büchsen mit unbestimmbarer Wurst und Ölsardinen. Ein paar Flaschen
Wasser dazu. Die Idee, einen Tauchsieder zu kaufen, verwirft Charlotte. Es könnte so aussehen, als richteten sie sich auf längere Zeit ein.
Sie gehen spazieren, noch ist das Wetter schön. Sie gehen über den Roten Platz, kaufen sich für wenige Kopeken Eis. Sie schlendern über den Kusnezki most
, beiläufig schaut Charlotte nach Winterschuhen, leider vergeblich. Sie gehen hinunter zum Fluss Moskwa, noch ist er ein Rinnsal, aber die Ufer werden schon ausgebaut für die Wasser des Don, die irgendwie, man weiß nicht genau wie, über einen Kanal hier einfließen sollen. Sie müssen sich nicht absprechen, die Nähe des Komintern-Gebäudes zu meiden, es ist genug Platz, um es weiträumig zu umkreisen.
Abends gehen sie essen. Sie wählen ein preiswertes Restaurant, aber immerhin eins, wo Tischdecken auf den Tischen liegen. Wilhelm isst konzentriert. Nachdem sie bezahlt haben, rechnet Charlotte: Monatsgehalt durch Rechnungsbetrag. Wie oft können sie sich das leisten?
Sie essen Schwarzbrot mit Ölsardinen. Die Wurst knabbern die Mäuse an. Mäuse im Hotel Metropol? Hoffentlich keine Ratten. Charlotte lernt, dass man Lebensmittel selbst im Hotel Metropol besser in einem Beutel am Haken aufhängt. Kaffee und Tee gibt es zum Glück im Café im Erdgeschoss zu einigermaßen normalen Preisen. Sie unternehmen Spaziergänge, Wilhelm braucht dringend Bewegung, hat der Arzt gesagt. Wenn sie «nach Hause» kommen – wie schnell gebraucht man das Wort –, fragt Charlotte an der Rezeption nach Post. Eine Nachricht von Melnikow? Von der Komintern? Von Jilly vielleicht? Nichts.
Wenn sie Glück hat, erwischt sie im Foyer eine Zeitung. Sie übersetzt Wilhelm die wichtigsten Meldungen. Der Jahrestag
der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution steht bevor. Die Prawda
schreibt über die Rolle Lenins und Stalins beim Aufstand. Dass Stalin die militärische Führung innehatte, hört sie zum ersten Mal. Trotzkis Name wird nicht erwähnt. Nur beiläufig wird gesagt, dass die Rolle des Revolutionären Militärkomitees, dem Trotzki vorstand, bisher überschätzt wurde.
Wilhelm nickt zustimmend. Mit seiner großen Nase erinnert er an einen Vogel.
Die Tage werden schon kürzer, die Abende kalt. Charlotte versucht, ihren Wintermantel zu flicken, Kunststopfen hat sie schließlich an der Mädchenschule gelernt. Hin und wieder hören sie Radio, nachdem Wilhelm entdeckt hat, dass es im Zimmer einen kleinen Knopf gibt, mit dem man einen Lautsprecher ein- und ausschalten kann. Allerdings ist nur ein einziger Sender verfügbar, Radio Moskau. Abends bringen sie manchmal Musik, aber das Radio klingt doch eher wie ein Telefon, offenbar dient es vor allem der Information der Gäste. Jedoch die Wortbeiträge kann Wilhelm nur schwer verstehen, und so bleibt das Radio zumeist doch ausgeschaltet, zumal Wilhelm noch immer stark mit jenem Gespräch beschäftigt ist, an dem er nicht teilnehmen konnte.
Stundenlang, während Charlotte ihren Mantel flickt oder neue Schnürsenkel einfädelt, wandelt er im Zimmer umher und fragt sie aus: Was Melnikow gesagt, was Erna Mertens genau habe wissen wollen. Was genau Charlotte darauf geantwortet habe.
Und Charlotte berichtet zum soundsovielten Mal, wie freundlich Melnikow gewesen sei, sie mindert sein ausgeprägtes Interesse für Jilly ein wenig ab, gibt aber umso genauer das gehässige Insistieren von Erna Mertens wieder, die offenbar darauf aus war, ihnen irgendwas anzuhängen.
Aber was zählt die Meinung von Erna Mertens gegenüber der Meinung von Melnikow?
Oder sollte Erna Mertens erfolgreich gegen sie intrigieren? Was würde das bedeuten? Man kann sie nicht aus der Partei ausschließen, nur weil sie einen raffinierten Verbrecher nicht durchschaut haben. Wird man sie aus der OMS
entlassen? In Charlottes Augen wäre das nicht die schlechteste Lösung, aber das verschweigt sie lieber, denn obwohl Wilhelm selber schon daran gedacht hatte, um die Entlassung zu bitten, will er nun, nachdem sie tatsächlich droht, nichts mehr davon wissen.
Nach solchen Gesprächen pflegt er die Durchschriften ihrer beiden Erklärungen durchzugehen: ob sich irgendwelche Widersprüche zwischen den Texten auftun könnten. Aber da sie den Inhalt während Charlottes Besuchen im Krankenhaus sorgfältig abgesprochen haben, stimmen die Erklärungen überein – beinahe zu sehr. Das
könnte verdächtig sein, fürchtet Charlotte, und nicht die Tatsache, dass es hier oder da kleine Abweichungen gibt. Andererseits: Ist denn nicht jedes Wort wahr? Warum sollte die Wahrheit von der Wahrheit abweichen?
Später liegt sie im Bett und versucht, die Tscheljuskin
weiterzulesen. Die Nordpassage, plötzlich versteht sie es nicht mehr: Wieso man die gefährliche Route mit einem Frachter bezwingen will, bevor man dasselbe mit einem Eisbrecher versucht hat. Hat sie etwas überlesen? Versteht sie irgendetwas falsch?
Sie blättert zurück, beginnt noch einmal von vorn. Ihre Augen irren auf den kyrillischen Buchstabenketten umher. Es ist zwecklos. Sie knipst die Nachttischlampe aus. Über ihr die goldenen Sterne. Hin und wieder glühen sie auf – und verlöschen wieder. Sechzehn Sternschnuppen. Sechzehn
Wünsche. Ein Wunsch würde ihr genügen. Sie wünscht sich, dass das hier bald zu Ende sei. Eine neue Arbeit. Vielleicht in einem Verlag? Am liebsten bei der VEGAAR
, der Verlagsgenossenschaft Ausländischer Arbeiter
, wo Hildes Mann tätig ist. Jedoch, das entscheidet nicht sie. Das entscheidet die Kaderabteilung der Komintern. Das entscheiden Leute wie Erna Mertens.
Oder bedeutet es: sechzehn Tage?
Heute wäre der dritte. Noch dreizehn Tage Ungewissheit. Keine schöne Vorstellung.
Die Ölsardinen sind gegessen, die Wurst ist aufgebraucht – was davon übrig war. Plötzlich ist der November da. Die ersten Schneeflocken fallen und tauen wieder. Die Stadt bereitet sich auf den 19. Jahrestag der Oktoberrevolution vor, nach dem neuen Kalender der 7. November. Auf dem Roten Platz wird die Tribüne aufgebaut. Absperrungen werden vorbereitet, Transparente aufgestellt. Überall in der Stadt lärmen Lautsprecher. Rundfunkansprachen und Aufrufe werden übertragen. Revolutionäre Lieder erklingen und immer wieder, wie eine Hymne, auch jenes Lied aus dem Film, den sie immer noch nicht gesehen haben:
Vaterland, kein Feind soll dich gefährden!
Teures Land, das unsre Liebe trägt,
denn es gibt kein andres Land auf Erden,
wo das Herz so frei dem Menschen schlägt!
Inzwischen hat Charlotte mitbekommen, dass der Kameramann des Films hier wohnt: Wladimir Semjonowitsch
Nilsen, ein junger Mann, aber schon berühmt. Es heißt, er sei befreundet mit Pudowkin und sogar mit Eisenstein. Er und seine Freunde waren die lärmenden Russen beim Frühstück.
Was sie noch herausbekommen hat: Der grimmige graue Herr mit gezwirbeltem Schnauzer und Lenin-Orden, der ein paar Zimmer weiter in Nummer 433 wohnt, ist niemand anders als Matwej Konstantinowitsch Muranow, ehemals Mitglied des Revolutionären Militärkomitees, ebenjenes Komitees, das – nach früherer Darstellung – die Oktoberrevolution organisiert hat. Dass ein Altbolschewik und Träger des Lenin-Ordens gleich nebenan wohnt, empfindet Charlotte als gutes Zeichen. Dass der Mann allerdings unmittelbar mit Trotzki bekannt war, welcher Vorsitzender jenes Komitees gewesen ist, scheint das Positive aufzuwiegen. Aber war nicht auch Hilde irgendwie mit Trotzki bekannt? Und Abramow-Mirow? Sogar Stalin war ja im Grunde mit Trotzki bekannt. Und eigentlich auch mit Sinowjew, mit Kamenew, mit Smirnow … Plötzlich ist ihr vollkommen schleierhaft, wieso ausgerechnet ihnen vorgeworfen wird, mit jemandem wie Alexander Emel bekannt gewesen zu sein.
Mehr als von dem grimmig-stummen Muranow wird das Leben in ihrem Flügel allerdings von der Großfamilie beherrscht, die hier anscheinend mehrere Zimmer belegt hat, mit Großeltern, Tanten und Kindern – sowie jenem stattlichen, knapp vierzigjährigen Mann von georgischem oder jedenfalls südlichem Äußeren, den Charlotte eines Abends mit seiner Aktentasche aus einem schwarzen Dienstwagen steigen sieht. Es handelt sich um das Politbüromitglied Jewgeni Iljitsch Weger. Ist es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen, dass jene schlanke, ganz unsowjetisch aussehende
Schönheit zu ihm gehört, die ihren Kindern hin und wieder französische Worte zuwirft?
Und noch jemand wohnt auf der Etage. Eines Morgens entdeckt Charlotte auf dem Flur den Genossen Fainstein, einst Vorgesetzter von Isa Koigen in der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin. Er steht, sie traut ihren Augen kaum, mit einem halbvollen Nachttopf vor der Gemeinschaftstoilette, wo um diese Zeit reger Betrieb herrscht. Tatsächlich scheint es hier auch Zimmer ohne
Bad zu geben. Dass ausgerechnet Fainstein, ein alter, verdienter Genosse, ein solches bewohnt, ist verwirrend. Einerseits wird die Tatsache, dass sie und Wilhelm ein Zimmer mit
Bad bewohnen, umso bedeutsamer; andererseits wäre es Charlotte höchst unangenehm, dies vor dem alten Genossen einzugestehen. Peinlich auch die Situation, in der sie ihn antrifft. Zum Glück sieht er sie nicht oder erkennt sie nicht, jedenfalls beschließt sie, ihn bei einer anderen Gelegenheit anzusprechen.
Doch als sie Wilhelm von der Sache erzählt, untersagt er ihr strengstens jeden Kontakt: Ein Vertrauter von Isa Koigen!
Charlotte ist irritiert. Ob er etwa glaube, dass Isa in irgendeiner Weise verwickelt sei?
Nein, das glaube er nicht unbedingt
, sagt Wilhelm. Dennoch bestehe er darauf, dass sie sich vorerst mit Kontakten zurückhalte, solange ihre Sache
, wie er sich ausdrückt, nicht entschieden ist.
Also hält Charlotte sich mit Kontakten zurück. Verkneift es sich, Isa anzurufen. Unterlässt es auch, einen kurzen Brief an Jilly zu schreiben, die eigentlich versprochen hatte, sich bald im Hotel zu melden. Sie lässt sich sogar davon überzeugen, das monatliche Treffen mit ihrem Sohn Kurt, das schon im Oktober ausfallen musste, ein weiteres Mal zu verschieben. Zu Werner hat sie ohnehin gerade keinen Kontakt.
Inzwischen verbringt sie ihre Zeit mit der Beschaffung von Nahrungsmitteln. Erst allmählich wird Charlotte bewusst, was es heißt, nicht über Talons oder Sonderbezugsscheine zu verfügen, keinen Zugang zu den Läden irgendwelcher Ministerien oder Kommissariate zu haben. Es ist nicht nur demütigend, dass sie im Kreise der mehr oder weniger prominenten Metropol-Bewohner offenbar die einzigen sind, die zu keinem Sonderversorgungssystem gehören, beunruhigend ist auch der Gedanke, dass täglich Tausende und Abertausende Russen, anstatt an dem gigantischen Industrialisierungsprojekt mitzuwirken, ihre Zeit beim Anstehen nach dem Allernötigsten vertrödeln.
Zumeist sind es Frauen, unförmige Geschöpfe in Wattejacken und Fellwesten, mit Kopftüchern oder Pelzmützen, die in der Kälte stehen, geduldig wie Kühe. Und sie mittendrin, ein Teil davon. Ob es an dem geflickten Wintermantel liegt oder an den Socken, die aus ihren Sommerschuhen hervorlugen? Oder daran, dass ihr Gesicht den stumpfen Ausdruck einer Wartenden angenommen hat? Jedenfalls wird sie nicht mehr als Ausländerin wahrgenommen. Aber sie ist Ausländerin, hier und überall. Die deutsche Staatsbürgerschaft ist ihr aberkannt worden. Die sowjetische besitzt sie noch nicht. Sie ist staatenlos, eine falsche Schweizerin, nichts weiter. Sie ist die Einzige in dieser Schlange, die unecht ist. Sie ist vermutlich die Einzige, deren Rücken vom Stehen weh tut. Ihre kleinen Zehen werden vor Kälte allmählich taub. Jetzt steht sie schon eine halbe Stunde und kann noch nicht einmal das Geschäft sehen, in dem es angeblich Kartoffeln und Trockenpilze und Sauerkraut gibt. Was, wenn sie dringend auf die Toilette muss? Und wer weiß, ob überhaupt noch was übrig ist, wenn sie drankommt.
Was macht Wilhelm inzwischen? Beim Anstehen kann
Charlotte ihn nicht gebrauchen. Sie hat ihn in die Bibliothek geschickt, Zeitung lesen, und nachdem er festgestellt hat, dass er im Lesesaal der Leninbibliothek außer der deutschsprachigen Zentralzeitung
auch die wöchentlich erscheinende Komintern-Zeitung Baseler Rundschau
bekommt, hat er sich rasch angewöhnt, seinen Vormittag dort zu verbringen. Er liest jeden Artikel, macht sich sogar Notizen, die er Charlotte «zu Hause» vorliest.
Über die sowjetische Wirtschaft: dass die Schwerindustrie schon im September den Jahresplan, der eine Steigerung der Produktion von sechsundzwanzig Prozent festlegte, übererfüllt hat.
Über die bevorstehende Volkszählung: dass allein im letzten Jahrzehnt und nur auf dem Gebiet der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik sechshundert neue Städte entstanden sind, darunter Magnitogorsk mit über zweihunderttausend Einwohnern, Karaganda mit einhundertachtzehntausendneunhundert Einwohnern und Komsomolsk mit etwa fünfundzwanzigtausend Einwohnern.
Über den Entwurf der neuen, sogenannten Stalin’schen Verfassung der U
dSSR
: dass die Bürger der U
dSSR
ein Anrecht auf Arbeit haben; dass die Bürger der U
dSSR
ein Anrecht auf Erholung haben, ein Anrecht auf materielle Versorgung im Alter, ein Anrecht auf Bildung, welches gesichert werde durch unentgeltliche Schul- und Hochschulbildung, durch staatliche Stipendien für die überwiegende Mehrheit der Studenten, durch Schulunterricht in der Muttersprache, durch die Bereitstellung unentgeltlichen technischen und agronomischen Fachunterrichts in Betrieben, Sowjetwirtschaften, Maschinen- und Traktorenstationen und Kollektivwirtschaften.
Charlotte ergattert Kartoffeln, Trockenpilze und
Sauerkraut, dazu ein Glas eingelegte Tomaten und sogar ein paar Knacker. Die Freude ist so groß, dass sie die Mühsal des Anstehens sofort vergisst. Sie spürt weder Füße noch Rücken, und erst zu Hause, nachdem der erste Freudentaumel abgeklungen ist, fällt ihr ein, dass sie die Kartoffeln ja gar nicht kochen kann, und sie geht noch einmal los, um im neuen UNIVERMAG
– fast ohne Anstehen – einen Tauchsieder zu erstehen, mit dem sie das Problem zu lösen hofft. Allerdings ist Wilhelm gegen die Benutzung des Geräts: Keine Regelverstöße. Es ist verboten, in den Zimmern zu kochen oder eigene Heizgeräte zu benutzen, daran halten wir uns, basta.
Zwei Mal gehen sie ins Kino, sie sehen den amerikanischen Film Der letzte Mohikaner
und eine ziemlich flache sowjetische Komödie mit dem auch Charlotte nicht ganz verständlichen Titel Tri kalatscha i odna baranka
– natürlich alles auf Russisch, was Wilhelm, der zwar behauptet, im Großen und Ganzen alles zu verstehen, mit der Zeit so zermürbt, dass er sich weiteren Kinobesuchen verweigert.
Ein Höhepunkt: der 19. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution. Kurz zuvor hat der Frost eingesetzt. Charlotte muss in Sommerschuhen zur Parade. Gigantische Marschkolonnen ziehen am Lenin-Mausoleum vorbei. Es gibt Darstellungen des Panzerkreuzers Potjomkin und des Sturms auf das Winterpalais. Matrosen, Arbeiter und Soldaten führen auf fahrenden Plattformen mit Holzgewehren den Sturz der Kerenski-Regierung vor und hissen die rote Fahne der Revolution gerade in dem Augenblick, als sie Stalins Tribüne passieren.
Das alles sehen sie nur in Ansätzen, denn es stellt sich heraus, dass es unmöglich ist, auf den Roten Platz zu gelangen. Für die Tribünen links und rechts des Mausoleums braucht
man Billetts, und die gibt es nur für Auserwählte. Immerhin können sie die Marschkolonnen sehen, die sich auf dem Platz der Revolution formieren. Allerdings herrschen hier noch Hektik und Durcheinander, Ordner treiben die Leute an, um die Kette der Aufmärsche nicht abreißen zu lassen, schreien, stoßen, fuchteln mit den Armen. Menschen in historischen Kostümen oder mit gewaltigen Transparenten hasten erschrocken umher. Jemand stolpert, stürzt, jemand wird angefahren. Charlotte steht wie versteinert, wagt kaum, Wilhelm in die Augen zu sehen. Aber er scheint das Geschehen gelassen zur Kenntnis zu nehmen.
Überhaupt geht es ihm besser. Seine täglichen Spaziergänge zur Bibliothek bekommen ihm gut. Dass er sichtbar zunähme, kann man zwar nicht behaupten, aber er sieht nicht mehr so klapprig aus wie nach der Krankheit, eher drahtig, wie früher, und auch seine Manneskraft scheint allmählich wiederzukehren. An einem fünften Wochentag, eine Art Samstag in der sowjetischen Sechstagewoche, schlägt er verschämt vor, ins Restaurant Praga essen zu gehen, und natürlich versteht Charlotte, was gemeint ist. Als sie noch im Punkt Zwei wohnten, sind sie oft, immer am fünften Tag der Woche, nach Moskau gefahren und haben im Praga gegessen, und nicht selten war es auch dieser fünfte Tag, an dem Charlotte es
Wilhelm gewährte: an dem sie gut zu ihm war. Zwar ist ihr im Augenblick nicht sonderlich danach zumute, aber das letzte Mal haben sie es in Jalta getan, und auch wenn Wilhelm sehr viel bescheidenere Ansprüche hat als einst Erwin, bleibt er ein Mann, und es käme nach so langer Zeit einem Affront gleich, sich ihm zu verweigern. Zudem mag sie die behutsame Art, wie Wilhelm sein Verlangen signalisiert, sie genießt seine Bewunderung und, ja, seine Abhängigkeit, denn obgleich Wilhelm sonst in ihrer Beziehung zweifellos
den Ton angibt, verwandelt er sich bei Liebesdingen umgehend in einen Bittsteller.
Charlotte rechnet kurz nach, es ist knapp vor ihrer Periode, und stimmt zu, ins Praga zu gehen.
Sie essen Wels mit einer Senf-Meerrettich-Sahne-Soße, und da Wilhelm nicht gelernt hat, über Liebesdinge zu reden, bleibt er die ganze Zeit stumm. Kaum dass sie wieder zu Hause sind, bekommt sein Blick den Ausdruck eines bettelnden Hundes. Als er geduscht und – sie muss es ihm einmal sagen – ein wenig zu stark nach Rasierwasser duftend wiederkommt, beginnt er ihren Körper mit Küssen zu umkreisen, soweit dies der Anstand erlaubt, bis Charlotte durch kleine Geräusche und Gesten zu verstehen gibt, dass es so weit ist, und Wilhelm in sie eindringt. Aber kaum dass Charlotte in Wallung kommt, bäumt sich Wilhelm, dessen Anlaufzeit sich durch lange Enthaltsamkeit noch verkürzt hat, mit einem Keuchen auf und bricht über ihr zusammen.
Sein magerer Körper ist auf einmal unerhört schwer, irgendein hervorstehender Knochen drückt sie, aber es gehört zum Ritual, dass Wilhelm noch eine Weile so auf ihr liegen bleibt. Draußen ist eine Krankenwagensirene zu hören, und plötzlich hat Charlotte die Vorstellung, sie hätten einen Unfall gehabt und nicht Wilhelm liege auf ihr, sondern die BMW
R 32. Langsam, viel zu langsam entfernt sich die Sirene.
Dann liegt sie unter den goldenen Sternen. Wilhelm schnarcht leise drüben in seinem Bett. Sie ist wieder das Lottchen. Sechzehn Tage sind um. Es wird doch nicht sechzehn Wochen dauern? Sie denkt an ihre Kammer in Steglitz: Stubenarrest. Wofür? Weil ihre Mutter glaubte, sie hätte den Füllfederhalter ihres Bruders benutzt. Oder weil sie sich geweigert hatte, das kratzende Wollkleid anzuziehen, das sie
immer tragen musste, wenn ihre Mutter mit ihr in den Tiergarten ging, um dem Kaiser ihre, wie sie es nannte, Aufwartung
zu machen.
Ein Auto fährt vorbei, sechzehn Sternschnuppen glimmen auf. Sie wünscht sich nur eins: dass sie hier rauskommt. Einfach nur raus aus diesem Luxusgefängnis, denkt sie. Denkt es in ihr. Das andere, das Schlechte. Das Tier, das sie sofort wieder in seine Höhle zurückprügelt.