2 Traum und Wirklichkeit
– Charlotte –
Es ist etwas Seltsames um die Zeit. Je langsamer sie vergeht, desto mehr schrumpft sie im Rückblick. Zwei mal sechzehn sind zweiunddreißig – wo sind die Tage geblieben? Verblichen, versickert, verdampft. Jeden Tag dieselben Verrichtungen. Ihre Gespräche drehen sich im Kreis: Sie versichern einander, dass es nicht mehr lange dauern kann. Oder dass es vielleicht sogar ein gutes Zeichen ist, dass es so lange dauert. Ein beliebtes, oft wiederholtes Motiv: dass die Partei sie nicht in ein Nobel-Hotel stecken würde, wenn ihnen «ernsthafte Konsequenzen» drohten. Was sie unter ernsthaften Konsequenzen verstehen, wird nicht präzisiert.
So geht es jeden Abend, aber als Charlotte vorschlägt, Hilde vor dem Hotel Lux abzufangen und sich bei ihr zu erkundigen, ob sie irgendwas weiß, lehnt Wilhelm strikt ab, und daran merkt Charlotte, dass er sich mehr Sorgen macht, als er zugibt.
Immerhin lernt sie mit der Zeit einkaufen. Sie entdeckt Geschäfte in Nebenstraßen, bekommt heraus, wo es sich anzustellen lohnt. Sie begreift allmählich die Gesetze der Schlange. Eine der wichtigsten Erkenntnisse: wie man bei stundenlangem Anstehen mit kalten Füßen das Toilettenproblem löst. Man kann sich abmelden! Und den Nachfolger bitten, den Platz freizuhalten. Dabei lernt Charlotte auch diesen Teil der sowjetischen Wirklichkeit gründlich kennen: öffentliche Toiletten. Die es allerdings so gut wie nicht gibt. Manchmal klappt es in Kaufhäusern oder öffentlichen Gebäuden. Aber sogar die Toiletten der neuen Lenin-Bibliothek erweisen sich als stinkende Katakomben, in denen die Türen nicht schließen und wo man, wie in der Vorortbahn, hockend in ein Loch pieseln muss.
Im Übrigen gibt es sehr verschiedene Schlangen. Bei Brot oder Lebensmitteln steht man buchstäblich in einer Reihe. Aber es gibt auch ungeordnete, mitunter sogar sitzende Schlangen, bei denen man sich zu erkundigen hat, wer der jeweils Letzte ist. Charlotte lernt, die Frage akzentfrei auszusprechen. Manchmal muss man sich in eine Liste eintragen, die selbsternannte Helfer anfertigen, die sie, wenn sie selbst dran gewesen sind, an den nächsten selbsternannten Helfer weitergeben. Charlotte denkt sich russische Namen aus, die sie in die Listen eintragen lässt. Manche Schlangen sind stumm, andere sind gesprächig. Man spricht über Eishockey, über den neuesten Film. Jemand will erfahren haben, dass man auf der Twerskaja (korrekt: Gorkistraße) Häuser verschieben will, um die Straße zu verbreitern (was Charlotte für ein Gerücht hält). Jemand schimpft über die sogenannten Stachanow-Arbeiter, Bestarbeiter, die nur sechs Monate arbeiten, die Norm versauen und den Rest des Jahres von dem verdienten Geld auf der Krim Urlaub machen (was Charlotte ebenfalls für ein Gerücht hält). Jemand berichtet, dass sowjetische Wissenschaftler eine Methode entwickelt hätten, um aus Erdöl Schokolade zu machen (was Charlotte schon eher glaubt). Man spricht über andere Schlangen. Man erfährt, was es gerade an anderen Orten gibt oder gegeben hat oder angeblich geben wird. Im UNIVERMAG namens Feliks Dzierżyński, dem neuen Kaufhaus, hört Charlotte, gebe es amerikanische Schuhe.
Sie eilt dorthin und stellt sich in der Schuhschlange an. Und tatsächlich gelingt es ihr, Winterschuhe in ihrer Größe zu kaufen. Halbhoch, dunkles Leder. Sie ist glücklich. Sie schont ihre neuen Schuhe. Sie geht von nun an so wenig wie möglich zu Fuß, sondern benutzt stets die Bahn oder den Trolleybus, der vor dem Hotel abfährt: Bahnfahren ist billiger als Gehen, hat Isa Koigen einmal gesagt. Jetzt versteht sie es.
Einmal gelingt es ihr, nach nur zwei Stunden Anstehen Karten für das Bolschoitheater zu ergattern: Der stille Don , nach dem berühmten Roman. Der Platz vor dem Theater ist durch die Bauarbeiten an der neuen Metro-Linie aufgewühlt, man balanciert über hölzerne Trottoire am Rande. Aber die Menschen drängeln und stoßen, man tritt ihr auf die Füße. Irgendwann steht sie mit ihren schönen neuen Winterschuhen im Schlamm. Die ganze Oper über, während der Kosakentänze, die Stalin angeblich so liebt, und auch während der politisch und menschlich zerrissene Hauptheld seine Arien singt, muss sie an ihre Schuhe denken. Und als sie zu Hause die Krusten abkratzt und die Sohlen reinigt, macht sie eine entsetzliche Entdeckung. Die Sohlen sind nicht aus Leder, sie sind aus Pappmaché!
Sie fühlt sich betrogen. Vom UNIVERMAG . Vom Staat. Wie kann man den Leuten solche Schuhe verkaufen! Zweihundert Rubel, fast ihr ganzes Monatsgehalt (und, was sie nicht weiß, fast das dreifache Monatsgehalt eines einfachen Arbeiters).
Der Schneefall setzt ein, zögerlich zuerst. Tagsüber steigen die Temperaturen wieder über null Grad, die Tage des Matsches beginnen. Es genügen zwei solcher Tage, dann beginnen die Sohlen der neuen Schuhe, sich aufzulösen. Charlotte zieht wieder die Sommerschuhe mit Wollsocken an und sucht einen Schuster. Im Moskauer Telefonbuch stehen unzählige Werkstätten und Kooperativen, davon sogar einige im Umkreis des Hotels. Nicht alle existieren wirklich. Manche sind gerade wegen Inventur oder Krankheit oder remont geschlossen. Einer der Schuster verlangt Valuta. Ein anderer versichert, dass eine Besohlung dieser Schuhe mit Leder unmöglich sei. Ein dritter meint, dass sie sich nächsten Monat noch einmal melden solle, sofern es Material gebe …
Ihr bleibt nichts anderes übrig, als sich an einen der privaten Straßenschuster zu wenden, die es hin und wieder in Moskau noch gibt. Sie weiß nicht genau, ob diese Art der Handwerkstätigkeit vollständig legal ist. Sicherheitshalber fährt sie mit der Straßenbahn ein Stück hinaus: Basmanny rajon , hier ist sie noch nie gewesen. Verwahrloste Kinder betteln sie an, Isa hat sie gewarnt vor solchen Kindern. Unter ihnen gibt es gefährliche kleine Kriminelle, nicht umsonst wird man in der Sowjetunion ab dem zwölften Lebensjahr die Todesstrafe eingeführt haben (worüber Charlotte schockiert war). Dennoch fällt es ihr schwer, ungerührt vorbeizugehen. Sie sind arg zerlumpt, manche tragen Fußlappen. Drei kleine Jungen wärmen sich an einem Teerofen, mit dem Asphalt gekocht wird. Die Straßenarbeiter, die gerade ihre Mittagspause beenden, vertreiben sie mit bösen Flüchen.
Leute, die irgendetwas unter der Wattejacke tragen, sprechen sie an: Schwarzmarkt, begreift Charlotte. Sie hütet sich, auch nur hinzusehen.
Plötzlich vor einem Haus eine lange Schlange. Fast schon gewohnheitsmäßig fragt sie, was es hier gibt. Es stellt sich heraus, dass es ein Gefängnis ist. Stumm wenden die Frauen sich von ihr ab. Manche haben kleine Pakete dabei. Eine kommt gerade wieder aus dem Gebäude heraus, ihr Gesicht ist verheult. Ihr Paket trägt sie immer noch bei sich.
Dann endlich findet sie einen Schuster. Ein ausgemergelter alter Mann, er sitzt auf einem Mauervorsprung, seine gesamte «Werkstatt» hat er vor sich auf dem Boden ausgebreitet. Kichernd betrachtet er Charlottes Winterschuhe. Er bietet ihr das Kissen an, auf dem er sitzt: Sudarynja nennt er sie, seltsame Anrede. Charlotte bleibt tapfer stehen. Es ist kalt, sie tritt von einem Fuß auf den anderen. Der Mann überlegt lange, wendet den Schuh hin und her, bevor er ihn in eine Art Schraubstock einspannt und anfängt, die Sohle abzuschneiden.
Er erweist sich als ziemlich gesprächig. Erklärt, wie schwer es heutzutage für einen, wie er es nennt, selbständigen Handwerker sei. Zweihundert Rubel Steuern im Monat, den Platz müsse er auch bezahlen. Und dann die Materialbeschaffung! Alles gehe an die Staatlichen, behauptet der Mann, was Charlotte gleich doppelt verwirrt: Zum einen erscheint es ihr selbstverständlich, dass die Staatlichen im Sozialismus bevorzugt werden, was sonst? Zum anderen hat sie aber gerade feststellen müssen, dass die staatlichen Reparaturbetriebe eben kein Material hatten. Wieso hat dieser Mensch Material? Lügt er? Ist er ein Gauner?
Halb bereut sie, dass sie sich darauf eingelassen hat. Aber der Schuster hat bereits die Pappe von den Sohlen entfernt und redet weiter. Sie versteht ihn schlecht, was nicht nur daran liegt, dass ihm Zähne fehlen und seine Nase verstopft ist. Es liegt nicht nur an den aufgesprungenen Lippen und dem Dialekt oder an einzelnen, ihr unbekannten Worten. Es liegt daran, dass ihr das, was er erzählt, unbegreiflich ist. Es rauscht an ihr vorbei, bevor sie dazwischenkommt mit ihren Gedanken und Fragen. Dass er eigentlich Bauer sei, versteht sie. Er komme aus dem Kuban und sei nach der großen Hungersnot von dort weggegangen. Zuerst hätten sie die Hunde gefressen, erzählt er, und den Rest, sudarynja , erspare ich Ihnen. Dann habe er nach Leningrad gewollt, aber man habe ihn nach Murmansk geschickt, wo er sich eine Aufenthaltsgenehmigung habe verdienen sollen. Das sei praktisch ein Arbeitslager gewesen, behauptet der Mann, und Charlotte versteht schon wieder nicht: Arbeitslager? Hungersnot? Spricht der Mann jetzt von der Zeit vor der Revolution, vom Zarismus?
Zarismus? Da lacht der Mann. Er schüttelt sich vor Lachen. Sie sind aus dem Ausland, sudarynja . Im Zarismus, da war ich fast noch ein Kind, sagt der Mann, das macht dreihundert Rubel.
Ein Kind? Wie alt sind Sie denn?
Der Mann zählt blitzschnell die Rubel ab, die sie ihm in die Hand gedrückt hat, lässt sie in seiner abgerissenen Wattejacke verschwinden. Er blickt sich kurz um und fragt: Was schätzen Sie denn?
Mindestens fünfzig, schätzt Charlotte. Wenn sie ehrlich ist, sogar mehr. Laut sagt sie: Vierzig. Aus Höflichkeit. Aber der Mann lächelt sie durch seine Zahnlücke an:
Siebenundzwanzig, sudarynja .
Siebenundzwanzig … es dreht sich in ihrem Kopf. Sie packt ihre Schuhe ein, flieht. Mit klopfendem Herzen wartet sie an der Haltestelle. Erst in der Bahn merkt sie, wie durchgefroren sie ist. Ihre Füße sind wie aus Eis, trotzdem wagt sie nicht, die frisch besohlten Winterschuhe auszupacken. Im Hotelfoyer huscht sie rasch an Anna Dawydowna vorbei, aus Angst, dass diese zur Aufdringlichkeit neigende Frau in ihre Einkaufstasche gucken könnte. Erst mit Verzögerung registriert sie den uniformierten Mann an deren Seite, einen Fettwanst mit Hitlerbärtchen. Offenbar der vielbeschäftigte Wassja.
Wilhelm erzählt sie, wie wunderbar ihr der Schuster die Schuhe besohlt hat. Er glaubt es. Und natürlich glaubt er, sie sei bei einem staatlichen Schuster gewesen, wo sonst? Er begutachtet die Schuhe ausgiebig, lobt die ausgezeichnete Arbeit. Charlotte schämt sich. Nicht weil sie lügt, sondern weil es so leicht ist, ihn zu belügen. Sie nimmt sich vor, so etwas nie wieder zu tun. Ja, sie beginnt sogar heimlich zu hoffen, die Behörden würden diesen Mann von der Straße holen, ihm sein Handwerk verbieten, obwohl das nicht fair ist. Aber sie wünscht ihn weg. Wohin denn – weg? Sie versucht, ihn zu vergessen. Zu vergessen, was er gesagt hat. Ja, die Versorgungslage ist schwierig. Ja, es hat Brotkarten gegeben bis vor einiger Zeit. Aber Hunde gefressen? Den Rest, sudarynja , erspare ich Ihnen. Was soll das eigentlich heißen: sudarynja ?
Sie schlägt im Wörterbuch nach: Gnädige Frau . Wieso nennt ein Siebenundzwanzigjähriger sie sudarynja ? Jemand, der fast sein ganzes Leben in der Sowjetunion verbracht hat? Ein Lügner. Ein Irrer. Ein Konterrevolutionär.
Immerhin, die Schuhe sind gut: gute konterrevolutionäre Arbeit. Trockenen Fußes geht sie durch Moskau. Allmählich gelingt es ihr, nicht fünfzehn Mal am Tag an die Herkunft der Sohlen zu denken, während sie in der Schlange steht. Während sie ihre Beute nach Hause schleppt. Während die Henkel der Taschen ihr in die Finger schneiden. Während sie durch aufgeweichten Schnee tappt oder sich vor dem Hotel die Füße abtritt …
Und doch, sie kann es nicht ändern, hält sie Ausschau nach Hunden. Versucht, sich zu erinnern, wann sie in Moskau zum letzten Mal einen Hund gesehen hat.
Es ist verrückt! Es gibt jede Menge rationaler Erklärungen für den Mangel an Hunden in Moskau: kein Hundefutter, Gemeinschaftswohnungen, Tradition. Nicht jedes Volk hat, wie die Deutschen, ein Faible für Hunde. Und ist es nicht sogar angenehm, dass es hier keine Hunde gibt? Und wäre es angesichts der, zugegeben, noch immer schwierigen Versorgungslage nicht politisch verantwortungslos, sich einen Hund zu halten?
Trotzdem schaut Charlotte nach Hunden, wo sie auch geht. Sie schilt sich für diese Obsession. Manchmal macht sie absichtlich einen Schlenker durch eine der wenigen Grünanlagen im Zentrum. Sucht auf den noch nicht vom Schnee geräumten Wegen beiläufig nach gelblichen Marken, nach Hundekot. Es gibt keinen. Noch in der Nacht, wenn die goldenen Gipssterne über ihr kreisen, denkt sie darüber nach, muss sich immerzu vorzustellen, wie man in einer Gemeinschaftsküche einen Hund schlachtet. Alles scheint auf einmal davon abzuhängen, ob sie in Moskau einen Hund sieht.
Und dann, endlich, sieht sie ihn. Sie sieht einen Moskauer Hund! Sie sieht ihn nur kurz, in der Nähe des Hauses der Regierung, an der neuen Steinernen Brücke. Es ist ein langhaariger, gepflegter deutscher Schäferhund. Ein gutgekleideter Herr führt ihn an der Leine, verschwindet mit ihm im Hof des Gebäudes. Und was denkt sie?
Sie denkt nicht. Aber es denkt. Das andere, Schlechte in ihr. Es denkt: Es gibt keine Hunde in Moskau …
Aber du hast doch gerade einen gesehen!, denkt Charlotte.
Doch es denkt: Es gibt keine Hunde in Moskau.
Dann, plötzlich, ist es Dezember. Das Treffen mit Kurt lässt sich nicht länger aufschieben, das sieht sogar Wilhelm ein. Begleiten will er sie nicht, er habe zu tun. Charlotte denkt nicht daran zu widersprechen.
Tatsächlich hat Wilhelm inzwischen einen beinahe zwanghaften Aktionismus entwickelt. Täglich macht er eine halbe Stunde Gymnastikübungen nach Turnvater Jahn. Er hält sich lange im Bad auf, duscht kalt, bearbeitet seinen Körper ausgiebig mit seiner Wildschweinborsten-Kardätsche. Versucht, seine verbliebenen Haare in Form zu bringen, obgleich er hernach seinen Hut aufsetzt und ohne Rücksicht auf die Wetterlage zur Lenin-Bibliothek stapft, wo er die Deutsche Zentralzeitung und die Rundschau liest und sich Notizen macht, um Charlotte zu Hause die Meldungen vorzutragen. Nach dem Essen studiert er die Geschichte der KP d SU (B). Kurzer Lehrgang . Er tut dies sitzend, am Schreibtisch, mit einem Bleistift hinter dem Ohr, mit dem er das Wichtigste anstreicht (also fast alles) – unterbrochen allerdings von plötzlichen, unberechenbaren Phasen der Passivität. Dann kommt es vor, dass er zwei, drei Stunden lang auf dem Bett liegt und an die Decke starrt. Während solcher Ausfälle muss Charlotte mitunter an den seltsamen Scherz denken, der Wilhelm herausgerutscht war, nachdem er seinen Revolver abgegeben hatte:
Womit soll ich mich jetzt erschießen?
Sie ruft Kurt in der Uni an, wo er als Zeichner arbeitet, und verabredet sich mit ihm im Café Tschaika in Kitai-gorod , zwanzig Minuten zu Fuß entfernt. Kurt ist ihr jüngster Sohn. Er war gerade elf, als sie die Familie verließ, Werner nur zwei Jahre älter, und obwohl sie noch heute jede Menge Gründe und Rechtfertigungen für ihre damalige Entscheidung parat hat, bedrängt sie das schlechte Gewissen, besonders Kurt gegenüber, vielleicht, weil er der Jüngere ist, vielleicht aber auch, weil sie Werner insgeheim immer ein wenig bevorzugt hat. Werner ist groß, blond und schön, während Kurt, im Kohlrübenwinter geboren und früh an Rachitis erkrankt, schmächtig geblieben ist; obendrein hat er einen Augenfehler, der sich trotz ärztlicher Bemühungen mit jedem Jahr zu verstärken scheint: Er schielt nach außen, wofür sie sich immer ein wenig geschämt hat.
Fünf Jahre hatten die Jungs nach der Trennung noch beim Vater gewohnt, bevor sie 1933, inzwischen sechzehn und achtzehn, ein Visum für die Sowjetunion bekamen. Erwin gelang es erst ein Jahr später, und sie selbst, Charlotte, konnte den Jungen hier in Moskau kaum helfen. Aber zumindest hat sie ihnen – über Abramow-Mirow – ein Zimmer besorgt, unglaublich schwierige Angelegenheit. Aber nachdem Kurt, kopflos verliebt, einige Wochen bei einem Mädchen gewohnt hatte, holte Werner wiederum seine Freundin in das gemeinsame Zimmer und ließ Kurt nicht mehr rein.
So kam es zum Streit. Werner hatte kein Recht, fand Charlotte, nach Belieben über das Zimmer zu verfügen. Ein halbes Jahr später tauschte er es gar gegen ein anderes und heiratete eine deutsche Emigrantin, was ihn jedoch nicht daran hinderte, diese mit einer Russin zu betrügen, deren Mann gerade wegen Diebstahls verhaftet worden war. Er trank offensichtlich, betrog die Russin mit ihrer fast noch minderjährigen Tochter, trieb sich in zwielichtigen Kreisen herum und versäumte mehrmals die monatlichen Treffen mit Wilhelm und Charlotte. Inzwischen hat sie Werner schon drei Monate nicht gesehen.
Kurt dagegen ist ein zuverlässiger Mensch und ein guter Sohn. Pünktlich um vier Uhr betritt er das Café Tschaika. Seine schwarzen Locken sind buschiger geworden, er trägt weite Hosen mit Umschlag und ein grobes Barchenthemd unter der Wattejacke, was ihn wie einen Russen aussehen lässt. Sein Augenfehler ist auf die Entfernung nicht zu erkennen, aber die besondere, etwas umständliche Art, wie er sich nach ihr umschaut, macht ihr das kleine Handicap sofort bewusst. Sie spürt plötzlich den starken Wunsch, ihn in die Arme zu nehmen und zu drücken, aber allzu innige Umarmungen sind in der Familie nicht üblich. Sie küssen sich flüchtig links und rechts auf die Wangen, Charlotte drückt lediglich seine Hand etwas länger, etwas fester als sonst, was Kurt mit einem forschenden Blick quittiert.
Es ist das Vorrecht der Mutter, sich zuerst nach dem Befinden des Sohnes zu erkundigen, und Kurt erzählt ihr artig, aber merkwürdig teilnahmslos, dass er – dem das Direktstudium im letzten Jahr nicht bewilligt worden war – zum Fernstudium zugelassen sei. Charlotte ist hocherfreut und auch ein wenig erleichtert. Nicht, dass sie ernsthaft befürchtet hat, ihre Suspendierung könne Auswirkungen auf ihren Sohn haben, aber wer weiß.
Ob er sich denn gar nicht darüber freue, will sie wissen, während Kurt, ein wenig abwesend, die kleine Speisenkarte wendet, wie um zu prüfen, ob nicht noch etwas auf der Rückseite steht – und spätestens jetzt wäre der Moment gekommen, ihm zu erklären, warum sie sich nicht, wie üblich, im Café Puschkin treffen, wo sie bisher mit Valutaschecks bezahlt hat, sondern im vergleichsweise bescheidenen Tschaika.
Wilhelm hat darauf bestanden, dass sie nichts über ihre gegenwärtige Lage verlauten lässt – immerhin eine dienstliche, mithin geheime Angelegenheit –, sondern sich auf die Mitteilung beschränkt, dass sie nicht mehr über Valutaschecks verfüge. Was sie vor Kurt jetzt so darstellt, als handle es sich um eine allgemeine, sämtliche Mitarbeiter betreffende Verordnung. Es soll harmlos klingen, gerät jedoch zu einer umständlichen, bedeutsamen Erklärung.
Kurt scheint das alles nicht zu interessieren. Er bestellt sich eine Portion Pelmeni und ein Glas Tee, Charlotte dagegen nur ein Glas Tee. Und noch bevor die Kellnerin die Getränke bringt, kommt er auf das zu sprechen, was Charlotte am meisten fürchtet. Mit halblauter Stimme fragt er, natürlich auf Deutsch, was sie davon hält, dass man Alexander Emel erschossen hat.
Sie wusste, dass er sie danach fragen wird, und sie wusste auch, was sie sagen wird, nämlich die Wahrheit. Dass sie entsetzt sei über die unglaublichen Taten, an deren Vorbereitung dieser Mensch beteiligt war (sie vermeidet es, in der Öffentlichkeit seinen Namen zu nennen). Dass sie zuerst nicht habe glauben können, was in der Zeitung stand, dass sie aber gerade sein Leugnen in einzelnen Fragen als Beweis dafür ansehe, dass die anderen Vorwürfe berechtigt waren. Aber vor allem, erklärt sie, sei sie darüber schockiert, von diesem Menschen dermaßen hintergangen worden zu sein.
Das alles sagt sie, und Kurt nimmt es hin mit derselben Teilnahmslosigkeit, mit der er von seinem Fernstudium sprach. Er widerspricht nicht, er verzieht nicht das Gesicht. Nickt hin und wieder, den Empfang ihrer Worte quittierend, während er eine Teigtasche nach der anderen verspeist, jede einzelne auf dieselbe Weise: nachdem er sie gründlich in der selbst zusammengerührten Sahne-Senf-Soße gewendet hat. Hin und wieder blickt er vom Teller auf, schaut sie an mit seinen schiefen Augen, das heißt: mit dem einen, was, sie kann sich nicht helfen, besonders kritisch, besonders misstrauisch aussieht.
Ob sie glaube, dass diesem Prozess weitere folgen werden.
Eine Frage, die Charlotte sich noch nicht gestellt hat. Noch ein trotzkistisches Zentrum? Unmöglich, sagt sie. Vollkommen unmöglich. Und dieses Mal, findet sie, klingt sie sehr überzeugend. Und Kurt?
Kurt isst alles auf, faltet zerstreut die schon benutzte Serviette, schiebt sie unter den geleerten Teller, nimmt einen Schluck Tee, und erst nachdem er das alles erledigt hat, fragt er:
Und Isa? Was hältst du von ihrer Verhaftung?
Und obwohl sie sofort, ja, fast noch bevor er es ausspricht, weiß, dass es wahr ist, entgegnet Charlotte: Das kann nicht sein!
Kurt nickt, als würde er ihr zustimmen. Aber dann sagt er: Ich war da. Die Wohnung ist plombiert. Ich habe im Rundfunk angerufen. Dort sagte man mir, hier arbeite keine Isa Koigen.
Es schneit in Moskau. Alles ist weiß: die Zinnen der Kremlmauer, der Spasski-Turm, die Kuppeln der Basilius-Kathedrale. Alles ist weiß und schön, sogar die Lubjanka.
Sie sieht sie jeden Tag: die Lubjanka. Schon morgens, wenn sie aus dem Hotelportal tritt, sieht sie die Lubjanka – und denkt an Isa. Sie geht die Gorki-Straße entlang und denkt an Isa. Sie sieht das Puschkin-Denkmal und denkt an Isa. Sie stapft auf ihren konterrevolutionären Sohlen durch Moskau und denkt an Isa. Sie denkt daran, wie Isa ihr die Stadt gezeigt hat, ihre Stadt, mit welcher Liebe, mit welcher Begeisterung. Sie hat ihr die ersten Moskauer «Verhaltensregeln» beigebracht. Sie hat ihr gezeigt, wie man Metro fährt. Sie hat ihr erklärt, wieso die riesigen Stalinplakate politisch notwendig sind: Das russische Volk braucht ein Gesicht, kein Politbüro. Das hat sie sofort verstanden. Sie hat dieses russische Volk gesehen. Sie war schockiert über die orientalisch anmutende Horde, die vor dem Leningrader Bahnhof herumlungerte. Sie war befremdet von den kreuzschlagenden Mütterchen auf dem Roten Platz; von den betrunkenen Männern am Straßenrand; von der Rohheit der Frauen, die in der Straßenbahn drängelten; von den bettelnden Kindern. Und es war Isa, die sie beruhigt, die ihr Volk in Schutz genommen, die Charlotte über die ungeheuren Fortschritte aufgeklärt hat, die während der Sowjetmacht schon erreicht wurden. Isa ein Volksfeind?
Charlotte geht ihre Erinnerungen durch wie Karteikarten. Hat Isa jemals irgendetwas Verdächtiges gesagt? Hat sie jemals irgendwelche konterrevolutionären Ansichten geäußert? Andererseits: Wenn sie tatsächlich mit Emel unter einer Decke gesteckt hätte, würde sie dann konterrevolutionäre Ansichten geäußert haben?
Sie denkt an Isas offenes, gutmütiges Gesicht, ihr ansteckendes Lachen. Ihr Gefühl sagt, dass das alles nicht möglich ist. Aber ihr Gefühl hat sie schon einmal getrogen. Was sagt ihr Verstand? Ihr Verstand sagt: Wie kann jemand fünfzehn Jahre lang an der Seite eines Verbrechers leben, der schlimmste Gewalttaten plant, und nichts davon bemerken?
Am Mittag kommt Wilhelm mit vom Frost geröteten Ohren nach Hause (er trägt noch immer bloß einen Hut) und beginnt seine Presseschau. Über die bevorstehende Eröffnung der neuen Metrostation Ochotny rjad . Über die Ausrottung des Analphabetentums. Über die Sabotageakte der ehemaligen Leiter der Orenburger Eisenbahnlinie … Nicht zu fassen, sagt Wilhelm. Da muss man doch endlich mal durchgreifen!
Am dritten Abend nimmt Charlotte ihren Mut zusammen und spricht es aus: Sie haben Isa verhaftet.
Woher sie das wisse, fragt Wilhelm.
Von Kurt.
Und woher will der das wissen?
Sie ärgert sich über seinen verächtlichen Tonfall. Sie erzählt ihm, woher Kurt es weiß. Wilhelms Stimmung kippt. Fast klingt es triumphierend. Fast als würde er sich über Isas Verhaftung freuen:
Ich habe es gesagt! Ich habe dir gesagt, du sollst nicht mit Fainstein reden!
Wieso ist er so sicher, dass Isa tatsächlich schuldig ist?
Sie fragt nicht. Seinen Vorschlag, ins Praga zu gehen, lehnt sie ab mit der Begründung, dass heute ein gefährlicher Tag sei. Wilhelm glaubt ihr, obwohl es gelogen ist. Auch seinen Vorschlag, «einfach so» ins Praga zu gehen, lehnt sie ab: Es gehe ihr nicht gut. Das wiederum glaubt Wilhelm ihr nicht, obwohl es wahr ist.
Er trinkt zwei Flaschen Bier, stehend, eine Art vorsätzlicher Selbstbetäubung, ein leichter Vorwurf klingt mit. Aber kaum, dass er sich ins Bett gelegt hat, schnarcht er.
Vor dem Fenster rieselt der Schnee. Charlotte muss an die Christmette denken: Matthäuskirche in Steglitz, wo sie immer mit der Mutter waren. Der uralte Pfarrer Wuthenow, dessen Stimme wie ein großes, unheimliches Insekt in dem hohen Kirchenschiff umherschwirrte. Lange hatte sie geglaubt, Pfarrer Wuthenow sei so etwas wie Gott. Er kam immer aus der kleinen Tür rechts neben dem Altar. Und die kleine Tür links neben dem Altar? Das, so glaubte Charlotte, war die Hölle.
Ob sie den Schnee sieht? Ob sie ein Fenster hat, dort in ihrer Zelle? Sie stellt sich vor, wie man Isa die Treppe hinunterführt: linke Tür, Hölle. Ein winziger, feuchter Raum mit unverputzten Wänden. Der Boden schwarz von Blut …
Sie muss aufstehen, ins Bad gehen, das Licht anmachen. Sie setzt sich aufs Klo, will sich den Schweiß mit Toilettenpapier von der Stirn tupfen. Aber Toilettenpapier ist knapp. Sie wäscht ihr Gesicht mit warmem Wasser. Nach einer Weile hört sie die Uhr am Spasski-Turm schlagen: vier Uhr Moskauer Zeit.
Sie legt sich wieder hin. Der Lärm auf dem Teatralny projesd ist verhallt. Nur ein einzelnes Auto rollt von der Anhöhe der Lubjanka herab, wirft sein Licht an die Sternendecke, fährt vorbei, Richtung nirgendwo.
Am Morgen: Lubjanka. Ihr erster Gedanke: Bringt man sie zum Verhör?
Beim Schlangestehen: Wird man Isa auch über sie ausfragen?
Auf dem Heimweg: Wird man ihre Aussagen vergleichen?
Aber warum sollte man? Wer sollte sich für sie interessieren? Für Lotte aus Berlin-Steglitz. Trotzdem beginnt sie, ihre schriftliche Erklärung im Geiste zu prüfen. Ruft sich die Stellen in Erinnerung, wo sie ihre Bekanntschaft heruntergespielt, die Anzahl der Besuche gemindert oder Ereignisse überhaupt unterschlagen hat. Nebensächlichkeiten. Dinge, die man vergessen haben kann, die schwer zu beschreiben sind: die Umarmung beim Abschied, als Isa aus Deutschland abreiste; die Abende im Hotel Sojusnaja in Moskau. Oder dass Isa sie von ihrem Eis abbeißen ließ … Ist das politisch relevant? Hätte ich das angeben müssen?
Abends Klaviermusik im Bojarensaal – die neueste Art der Folter. Tanzkurse, immer am zweiten und vierten Tag der Woche. Unglücklicherweise liegt der Bojarensaal ihrem Zimmer direkt gegenüber. Ein Korepetitor klimpert unermüdlich denselben Tanz, bricht ab, setzt wieder ein. In den Zwischenräumen klimpern ihre Gedanken, reißen ab, setzen wieder ein. Sie merkt, wie das Fieber kommt. Sie wälzt sich von einer Seite auf die andere. Ihr Kopf ist heiß. Etwas pocht ihr von innen gegen die Schädelwände. Sie zieht die Decke über den Kopf, wärmt sich am eigenen Atem. Dann, endlich, setzt der Schüttelfrost ein.
Am nächsten Tag steigt das Fieber noch einmal an, trotz der Kompressen, die Wilhelm ihr macht, und Charlotte träumt jenen Traum, den sie jedes Mal träumt, wenn sie fiebert. Es ist ihr Krankheitstraum, ein wiederkehrender Albtraum. Er versetzt sie zurück in die Kindheit. Sonntag. Sie muss das kratzende weiße Wollkleid anziehen. Alles beißt und juckt, ihre Haut, ihr Gesicht. Und als der Kaiser kommt, muss sie niesen.
Das träumt sie nicht, so war es tatsächlich. Der Rotz läuft ihr zur Nase heraus. Dennoch verharrt sie pflichtschuldig in der Verbeugung, genauer gesagt: in dem tiefen Knicks, den ihre Mutter ihr anbefohlen hat. Bis der Kaiser vorbei ist. Dann verpasst die Mutter ihr eine saftige Ohrfeige für ihr, wie sie findet, unerhörtes Benehmen . Zu Hause sperrt sie Lotte zur Strafe in die fensterlose Kammer, die sie, angeblich um ihren Heuschnupfen zu mildern, mit selbstgesammelter falscher Kamille verpestet.
Von dieser Kammer träumt Charlotte. Sie trägt noch immer das kratzende weiße Kleid. Sie verglüht, sie erstickt. Mehr geschieht normalerweise nicht in ihrem Traum, nur dass sie vergeblich das kratzende Wollkleid loszuwerden versucht, das sich bedrohlich um ihren Körper schlingt. Sie ringt mit dem heißen Kleid, während ihr Bruder Carl-Gustav drüben in der Küche sitzt und Hausaufgaben macht. Oder, der Verdacht kommt ihr, an seinem Roman schreibt.
Aber wieso denn Roman ? Und warum spricht Isa ihn immerzu mit Herr Feuchtwanger an? Charlotte ärgert sich, dass Isa ihren Bruder mit dem berühmten Schriftsteller verwechselt: Herr Feuchtwanger, Herr Feuchtwanger! Sie will aufstehen, Isa aufklären, aber auf einmal befürchtet sie, es könnte wahr sein. Isa könnte, wie immer, mehr wissen als sie: Aus Carl-Gustav Schwarz könnte Lion Feuchtwanger geworden sein, Autor unzähliger bekannter Romane und Schriften. Der sich aber, wie jedermann weiß, im französischen Exil aufhält.
Der Gedanke erleichtert sie. Natürlich, sie träumt! Nur, seltsamerweise werden die Stimmen im Nebenraum immer lauter, die Worte klarer: Herr Feuchtwanger, verstehen Sie denn nicht, ich werde verfolgt, Sie müssen mir helfen, dieses Land zu verlassen . Und dazwischen eine helle, bellende Männerstimme: Ich bitte Sie! Verlassen Sie mein Zimmer … Ich müsste sonst in der Räzeption anrufen, und das wäre sicherlich sähr, sähr unangenähm …
Sie träumt nicht.
Sie befindet sich im Hotel Metropol. Die Stimmen kommen nicht aus einem Traum, sondern aus dem Nachbarzimmer.
Stimmen aus dem Nachbarzimmer? Feuchtwanger? Was soll das? Was hat Feuchtwanger hier zu suchen? Wieso hört eine Romanfigur, obendrein durch die Wand eines Moskauer Hotelzimmers, plötzlich die Stimme eines berühmten deutschen Schriftstellers?
Es gibt Fälle, da die Wahrheit gegen jede Wahrscheinlichkeit spielt. Dann hat dann Erzähler zwei Möglichkeiten: entweder die Wahrheit zu unterschlagen oder sie so zu verbiegen, dass sie der Wahrscheinlichkeit Genüge tun.
Oder sich mit einer Rechtfertigung zu Wort zu melden.
Ja, Lion Feuchtwanger hat von Dezember 1936 bis Februar 1937 im Hotel Metropol gewohnt.
Und ja, er hat im Dezember zumindest eine Zeitlang das Zimmer 478 belegt, welches, wie die historischen Grundrisse des Hotels beweisen, durch eine Zwischentür mit dem Zimmer 479 verbunden war, in dem wiederum, den Akten des Russischen Staatsarchivs zufolge, zur selben Zeit eine gewisse Lotte Germaine wohnte, die niemand anderes als meine Großmutter ist.
Mehr noch. Tatsächlich stürmte , wie es in einem Spitzelbericht des NKWD heißt, am Nachmittag des 15. Dezember eine weibliche Person das Zimmer des Schriftstellers, um ihn mit Bitten und Forderungen zu bedrängen, und wenngleich es sich natürlich nicht um Isa Koigen handelte, sondern, auch das steht im Bericht, um Zenzl Mühsam (die Witwe des im KZ Oranienburg ermordeten Anarchisten Erich Mühsam, die Feuchtwanger vergeblich um Hilfe ersuchte und wenige Jahre später in Moskau verhaftet und zu Lagerhaft verurteilt wurde) – wenngleich es sich also nicht um Isa Koigen handelte, ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass Lotte Germaine die späte Nachmittagsstunde dieses schon dunkelnden Moskauer Wintertages nicht auf der Straße, sondern in ihrem Hotelzimmer verbrachte und auf diese Weise Zeuge des oben geschilderten Wortwechsels geworden ist.
Charlottes Grippe ist, wiewohl sehr plausibel, erfunden.