3 Der Mitbewohner
– Charlotte –
1917, im Jahr des Roten Oktober, führten die Bolschewiki den Revolutionskalender ein: die Fünftagewoche mit einem komplizierten System von arbeitsfreien Tagen für jeweils bestimmte Gruppen von Werktätigen. Man hatte gehofft, dadurch Stoßzeiten zu minimieren und die Arbeitsproduktivität zu erhöhen. Vor allem aber sollte der biblische Zeitplan endgültig verbannt werden aus dem Leben des jungen Staates, der alles, aber auch wirklich alles
zu ändern gedachte. Ja, der im Grunde geschaffen worden war, um sich selbst abzuschaffen, nämlich dann, wenn die Arbeiter die ihnen gehörenden Fabriken selbst verwalteten; wenn es keine Ausbeuter mehr gab, vor denen er, der Staat, die Ausgebeuteten schützen musste. Und das hieß: Kommunismus.
Inzwischen hat Stalin die Fünftagewoche wieder abgeschafft und sie (mit großer Zustimmung der Bevölkerung) durch die Schestjorka
ersetzt – die Sechstagewoche mit einheitlichen freien Tagen jeweils am 6., 12., 18., 24. und 30. des Monats. Selbstverständlich bleibt das Weihnachtsfest aus dem Kalender verbannt, aber auch hier ist der Steuermann der Weltrevolution einen Schritt zurückgewichen vor den unausrottbaren rituellen Bedürfnissen des Volkes und hat zum Ersatz das Jolka
-Fest eingeführt: das Tannenfest. Plötzlich, am letzten Tag des Jahres, tauchen überall Weihnachtsbäume auf, sehr zum Unbehagen Wilhelms, der das Grünzeug für religiösen Spuk hält. Sogar im großen Restaurant
des Metropol steht ein kunstvoll geschmückter Baum, und das Personal bereitet sich auf den Großen feierlichen Ball
zum Jahresabschluss vor.
Schon im Oktober wurden Karten für den Ball verkauft. Damals wagte Charlotte nicht, sich vorzustellen, dass sie Silvester hier verbringen würden. Aber nun ist das Jahr allen Ernstes zu Ende, und die Karten sind ausverkauft.
Sie empfangen das neue Jahr auf dem Roten Platz. Erst spät gehen sie hinaus, um nicht zu lange in der Kälte zu stehen. Der Platz ist schon voller Leute. Je mehr sie sich dem Spasski-Turm nähern, desto voller wird es. Irgendwann geben sie es auf, bleiben im Gedränge stecken. Über den Köpfen steht der dampfende Atem der Menge. Die Stimmung ist erregt, die Stimmen brodeln, die Menschen haben Schampanskoje
und Wodka dabei. Alle scheinen das neue Jahr mit Ungeduld herbeizusehnen, alle wollen das alte loswerden, dieses schreckliche, dumme, unglückliche Jahr 1936. Und auch Charlotte erwartet den Glockenschlag wie eine Erlösung und kann sich nicht ihrer zähen, alten Neigung zum Aberglauben erwehren, die ihr einflüstert, dass es kein Zufall sei, wenn der Glockenschlag, den sie erwarten, ausgerechnet vom Spasski-Turm – vom Erlöserturm – kommt.
Dann ist es so weit: viermal der Viertelstundenschlag, der sich, offengestanden, ein wenig so anhört, als würde ein Schraubenschlüssel ins Uhrwerk fallen. Umso strenger klingt nach diesem Geklirre der erste Stundenschlag, allerdings gar nicht nach Erlösung, sondern als hämmerte ein unerbittlicher Gott gegen den gefrorenen Nachthimmel. Der Rest geht im Jubel unter. Vor der rot leuchtenden Kremlmauer ein irres Schattenspiel: Sektkorken knallen. Hände recken sich, Mützen werden in die Luft geworfen, fraglich, ob sie je wieder zu den Köpfen ihrer Besitzer zurückfinden. Auf einmal
scheinen sich alle zu kennen. Man prostet sich zu, die Leute reichen einander die Flaschen, umarmen sich. Charlotte schließt die Augen, lehnt sich an Wilhelms sperrige Schulter. Sein Mantel riecht nach Nässe und ein wenig nach Naphthalin. Von fern, durch den abklingenden Jubel hindurch, hört sie das Glockenspiel des Spasski-Turms die Internationale
klimpern. Hier und da grummeln ein paar Leute mit, und sie hört auf dem rechten Ohr, wie auch Wilhelm leise und falsch und traurig in den verstreuten Chor einfällt:
Wacht auf, Verdammte dieser Erde
die stets man noch zum Hungern zwingt
Das Recht, wie Glut im Kraterherde
nun mit Macht zum Durchbruch dringt …
Und dann ist es da, das ersehnte Jahr 1937. Die Moskauer zünden die Kerzen ihrer Tannenbäume an. Die Kinder zerschlagen Tassen mit der Aufschrift 1936. Der Schnee fällt. Die Menschen stehen Schlange. Sie stehen an nach Brot, nach Gemüse, nach Fleisch, nach Schuhen, nach Toilettenpapier, nach Seife, nach Anzügen, nach Unterwäsche, nach Gebäck, nach Konfekt, nach Wäscheklammern, nach Radios, nach Kronleuchtern, nach Badehosen, nach Fahrkarten, nach Kopierstiften, nach Büchern oder nach Rodelschlitten. Wilhelm geht noch immer jeden Tag zur Bibliothek.
Überall wird jetzt Schnee geräumt. Man verbrennt ihn, schafft ihn in die unterirdische Neglinka. Die Prawda
schreibt über die gewaltige politische und wirtschaftliche Bedeutung der Statistik. Kleine orthodoxe Kirchen sind plötzlich von Hunderten Menschen umringt, die sich in atemberaubender Geschwindigkeit bekreuzigen: Weihnachten nach dem alten Kalender (als wäre es eine Glaubensfrage, wann die Nacht am
kürzesten ist). In einem Brief an das Zentralkomitee versprechen Stachanow-Arbeiter, auch im letzten Jahr des zweiten Fünfjahrplans Höchstleistungen zu vollbringen. Und auf der Titelseite der Prawda
erscheint ein Foto von Lion Feuchtwanger – neben Stalin.
Einen Tag später, am 10. Januar, sagt der Schriftsteller in Radio Moskau
über seinen Gesprächspartner die folgenden Sätze, die Charlotte sehr bald auch in der Prawda
und Wilhelm in der Baseler Rundschau
lesen werden:
Sie fragen mich schließlich, welchen Eindruck eine Begegnung mit Stalin auf mich gemacht hat.
Der erste, unmittelbarste Eindruck ist der einer ungewöhnlichen Einfachheit. Im Laufe eines mehrstündigen Gespräches habe ich an Stalin auch nicht eine Geste wahrnehmen können, die man als Pose ausdeuten könnte. Stalin ist in seinen Worten klar bis zur Schroffheit. Er ist streitbar, ein guter Debattierer, der, was er sagt, zäh verteidigt. Er ist nicht übermäßig höflich, aber er ist auch nicht empfindlich, wenn ihn der Gesprächspartner angreift.
Er spricht mit einem Freimut, der Eindruck macht, dabei ist er nicht ohne eine gewisse, fast gutmütige Verschlagenheit. Er hat Humor und ist empfänglich für Humor. Man begreift schnell, warum die Massen ihn nicht nur verehren, sondern lieben. Er ist ein Teil von ihnen, herausgewachsen aus ihnen, der wirkliche Repräsentant der 160 Millionen dieser Sowjetunion, wie ihn sich der Dichter nicht würdiger ausdenken könnte. Er hat dabei offensichtlich innere Widersprüche, und Menschliches ist ihm nicht fremd. Stalin, wie er einem im Gespräch entgegentritt, ist nicht nur ein großer Staatsmann, Sozialist, Organisator: Er ist in erster Linie ein Mensch.
Feuchtwanger ist inzwischen in ein helleres und leiseres Zimmer im Westflügel umgezogen. Unzufrieden scheint er dennoch zu sein, Charlotte sieht ihn an der Rezeption, wie er seiner Übersetzerin verschiedene Beschwerden diktiert: über die unbrauchbare Leselampe, die Qualität des Wassers, über die Mäuse, den Naphthalingeruch im Kleiderschrank, über die schlampige Zustellung der Post, die lauwarme Heizung.
Dennoch, die Anwesenheit des berühmten Schriftstellers empfindet Charlotte als beruhigend und hoffnungsvoll. In gewisser Weise machen ihr gerade seine bürgerlichen Allüren Mut. Feuchtwanger ist reich und berühmt. Er ist weder Sowjetbürger noch Parteimitglied. Weder bittet er um Asyl, noch hat er sonst irgendeine Hilfe vom Sowjetstaat nötig. Er ist ein bürgerlicher, wenn auch gewiss linker oder wenigstens linksliberaler Schriftsteller, dem hier niemand befehlen, niemand drohen kann. Das, was er über Stalin sagt, kann nichts anderes sein als seine aufrichtige Meinung.
Und der Traum? Die Frau, die gewiss nicht Isa Koigen gewesen ist? Aber wird Lion Feuchtwanger nicht Gründe gehabt haben, als er ihr die Tür wies? Man wird einem Schriftsteller, einem Intellektuellen, einem selbst von den Nazis Verfolgten doch nicht unterstellen, dass er ein fühlloser Unmensch sei. Oder blind. Oder feige.
Dazu kommen die zahlreichen Prominenten, die Feuchtwangers Anwesenheit ins Hotel Metropol zieht. Lauter Leute, deren Berühmtheit man ihnen selbst dann ansieht, wenn man sie nicht erkennt. Sie haben einfach das Auftreten von Berühmtheiten, sie sprechen, sie gehen, sie lachen wie Berühmtheiten. Sie tragen tadellose Anzüge und helle Schuhe. Sie lassen sich mit dem Auto vorfahren, durchschreiten, umgeben von Sekretären und Schranzen, die Lobby.
Charlotte stößt Wilhelm an: War das nicht eben Isaak
Babel? Ist das Sergej Eisenstein? Das jedenfalls ist Michail Kolzow, der sowjetische Medienzar, der, wie es heißt, gut mit Stalin bekannt sei. Auch Nilsen, der Kameramann des Films Zirkus
(den sie immer noch nicht gesehen haben), gehört zum Kreis Feuchtwangers. Und eines Tages erkennt Charlotte den langgesichtigen Sergej Tretjakow, Autor der Tscheljuskin
, die Charlotte in ihrer Tasche stets bei sich trägt für den Fall, dass sich beim Anstehen die Gelegenheit zum Lesen ergibt.
Geistesgegenwärtig bittet sie den Meister um ein Autogramm, das dieser ihr freundlich gewährt. Mehr noch: Er errät aus ihrem Akzent, dass sie Deutsche ist, und schreibt ihr ins Buch:
Für unsere deutsche Genossin Charlotte Germain
Das fehlende «e» in Germaine
ist nicht das Problem. Aber hätte sie ihm, dem Außenstehenden, gegenüber vorgeben müssen, dass sie – als Charlotte Germaine – Schweizerin sei? Schwamm drüber, niemand wird sich darum kümmern.
Und es gibt noch eine erfreuliche Nachricht. Kaum dass Wilhelm den Einsatz des Tauchsieders stillschweigend akzeptiert hat, sodass Charlotte sogar schon anfing, darüber nachzudenken, ob sie eine Kochplatte im Bad aufstellt, wird ihnen von der Hoteldirektion mitgeteilt, dass die Versorgung mit Mittagessen von nun an durch das Restaurant des Metropol gewährleistet werde. Entsprechende Talons würden ihnen an der Rezeption ausgehändigt.
Zwar erweisen sich die Mahlzeiten als schlicht (offenbar handelt es sich um das Personalsessen, das ihnen um halb vier Uhr, nachdem der Mittagsbetrieb abgeebbt ist, mit unterschwelliger Verachtung von einer Kellnerin, die wahrscheinlich lieber selbst Mittag machen würde, im hinteren
Teil des Restaurants serviert wird); die Getränke sind extra zu zahlen. Es ist ein wenig demütigend, dass sie – zusammen mit Muranow, dem alten Fainstein, den Charlotte nicht grüßen darf, und einigen Unbekannten – nun eindeutig zu den Hotelgästen zweiter Klasse zählen, wohingegen die geschwätzige Russin und ihr Wassja sowie die junge französische Frau des Politbüromitglieds Weger bereits um zwei Uhr in der vorderen Restauranthälfte speisen, zu schweigen von Feuchtwanger und seiner Entourage, die oft genug noch um halb vier lachend und lärmend vor ihren abgefressenen Menüs sitzen, welche selbst in abgefressenem Zustand noch verlockender scheinen als das Talon-Essen, das man Charlotte und Wilhelm vorsetzt … Dennoch ist allein die Tatsache, dass man sie nicht vergessen hat, dass man sich um sie kümmert, ein gutes Zeichen, und Charlotte schilt sich für den aufkeimenden Neid gegenüber den Bessergestellten.
Wilhelm begegnet alldem mit Stoizismus. Er isst, was man ihm vorsetzt. Er beschwert sich niemals. Noch immer marschiert er bei jeder Temperatur in die Bibliothek und kommt mit Erfolgsmeldungen von der Produktionsfront wieder. Nur als Charlotte krank gewesen ist, hat er die Routine gelegentlich unterbrochen und sich nach Lebensmitteln angestellt – nur hat er gerade mal ein paar rote Rüben ergattert und zwei Gläser saure Gurken, die er allerdings ausgiebig lobt.
Neu ist, dass er an den Nachmittagen begonnen hat, einen Brief zu schreiben: an Müller-Melnikow. Er schreibt mit der Hand, denn natürlich haben sie hier keine Schreibmaschine. Zunächst verfasst er Entwürfe mit Bleistift, den er sorgfältig spitzt. Manchmal kommt es Charlotte so vor, als ob er die meiste Zeit mit dem Spitzen des Bleistifts verbringt. Er hat schon den halben Stift weggespitzt, hat schon beachtliche Mengen wertvollen Papiers verschwendet (man bekommt
Schreibpapier nur mit einem Nachweis, dass man es beruflich benötige). Aber immer wieder fällt ihm eine Änderung ein, noch eine Verbesserung, die, wie Charlotte klar erkennt, nichts zur Sache tut, und er fängt noch einmal von vorn an. Noch einmal und noch einmal. Und zwar jedes Mal mit der Grußformel, als müsse er auch die üben.
Charlotte versucht, die Tscheljuskin
weiterzulesen, notiert pflichtbewusst die unbekannten Vokabeln. Seltsamerweise ist sie auch im Buch gerade im Januar angekommen. Es ist so kalt, dass das Öl in den Leitungen gefriert. Längst ist die Tscheljuskin
vom Eis eingeschlossen und driftet erbarmungslos weiter nach Norden. Im Vergleich dazu sind die Temperaturen in Moskau moderat, dennoch bleibt man lieber zu Hause. Nur hin und wieder, vor allem an den Tagen, wenn gegenüber der Tanzkurs läuft, gehen sie – zumeist «einfach so» – ins Praga oder ins Kino Udarnik, wo sie nach einem wunderbaren Konzert-Vorprogramm endlich den Film Zirkus
sehen, eine rührende Geschichte über eine schöne amerikanische Artistin, die mit einer Flug-zum-Mond-Nummer durch die Sowjetunion tourt und sich hier in einen russischen Künstler verliebt.
Ein wenig stört es Charlotte, dass der Böse im Film ausgerechnet Deutscher ist. Es ist der Erfinder der Flug zum Mond
-Nummer, der die Frau erpresst, weil sie ein uneheliches Kind von einem Schwarzen hat. Aber es stellt sich heraus, dass das uneheliche Kind kein Hindernis für den verliebten russischen Künstler darstellt. Die Artistin beschließt, in der Sowjetunion zu bleiben, und Charlotte wischt sich verschämt die Tränen aus den Augen.
Leider bleibt die Klaviermusik im Bojarensaal nicht auf zwei Tage beschränkt. An nicht vorhersagbaren Nachmittagen nutzt die schlanke, unsowjetisch aussehende Ehefrau
des Politbüromitglieds Weger das neu aufgestellte Klavier, um irgendwelche entsetzlichen, atonalen Sonaten zu üben, Protest unmöglich. Aber auch dafür findet Charlotte schließlich ein Lösung: Sie verkrümelt sich ins Café Metropol, das zumeist relativ leer ist, weil die Außenstehenden es für ein Valuta-Café halten. Hier bestellt sie sich einen schwarzen Tee und liest die ausliegende Prawda
, was ihr schon nach zwei, drei Besuchen zu einer lieben Gewohnheit wird, die sich obendrein vor Wilhelm rechtfertigen lässt: Auch sie hat Anspruch, sich zu informieren.
Sie liest, offengestanden, nicht alles. Genau genommen, liest sie nichts, sondern überfliegt nur die wichtigsten Artikel. Liest die Überschriften. Versucht, die Gewichtung der Themen zu verstehen und die Stimmung einzuschätzen. Und ganz beiläufig tasten ihre Augen die Textspalten ab nach dem Namen Isa
Koigen
.
Sie findet ihn nicht. Dafür findet sie eines Tages einen Fettwanst mit Hitlerbart, eingezwängt in eine Militäruniform, und wenn sie noch einen Augenblick zweifelt, dann ist ihr spätestens bei der Bildunterschrift klar, um wen es sich handelt:
Generaloberst Wassili Wassiljewitsch Ulrich, Vorsitzender des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der U
dSSR
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Der Mann, der Alexander Emel zum Tode verurteilt hat. Der vielbeschäftigte Wassja. Und bald, in wenigen Tagen, wird Charlotte auch erfahren, wieso der arme Wassja so beschäftigt ist. Die Kampagne hat schon begonnen. Die Kampagne um den neuen Prozess: den Prozess gegen das sowjetfeindliche trotzkistische Zentrum
.