6 Talon-Esser
– Charlotte –
Der März kommt. In Deutschland gehen die Weidenkätzchen auf. Aber hier, in Moskau, werden die zusammengeschobenen Schneeberge nur immer schmutziger und fester. Hin und wieder lugt die Sonne hervor, bringt kurzzeitig den Schnee auf den Dächern zum Schmelzen und formt daraus Eiszapfen von tödlicher Größe.
In der Prawda erscheint das Schlusswort des Genossen Stalin zum laufenden Plenum. Auf einmal spricht Stalin von der Herzlosigkeit mancher Parteibürokraten. Er kritisiert, dass man Menschen aus der Partei ausschließt, bloß weil sie ein- oder zweimal zur Parteiversammlung zu spät gekommen sind oder die Beiträge nicht pünktlich entrichtet haben. Er spricht warm und freundlich, fordert mehr Nachsicht und Aufmerksamkeit. Charlotte muss an Jilly denken, wie sie vor Stalins Geburtshaus stand: Jetzt verstehe ich, warum sie ihn lieben.
Von Jilly noch immer kein Wort, keine Spur. Dafür taucht plötzlich Provost auf.
Gaston Provost? Jedenfalls glaubt Charlotte, ihn zu sehen, ein Phantom hinter der Glastür. Selbstverständlich muss das ein Irrtum sein. Was soll Provost im Hotel Metropol?
Obwohl der Mann ihm ähnlich sieht. Und zwar sehr ähnlich. Um nicht zu sagen, er sieht genau aus wie er .
Jetzt wirst du irre, denkt Charlotte. Ihr Blick begegnet seinem, und während sie noch zögert, reißt der falsche Provost die Tür auf und verharrt in einer angedeuteten Verbeugung, um in dem Augenblick, da Charlotte sich in Bewegung setzt, ein halblautes Madame! hervorzubringen.
Merci, entgegnet sie unwillkürlich und spürt im Nacken den Lufthauch der zufallenden Tür.
Von der Begegnung erzählt sie Wilhelm nichts, zumal sie nachher nicht mehr sicher ist, ob er es tatsächlich war: Provost. Zwei Tage später ist sie sicher, aber da muss sie es ihm nicht mehr erzählen. Um die Mittagszeit – die Zeit für die Talon-Esser – erscheint Gaston Provost im Restaurant. Er tappt genauso unsicher herein wie sie am ersten Tag, schaut mit derselben Ehrfurcht hoch zur gläsernen Decke, zögert einen Augenblick, ob er weitergehen oder auf die Kellnerin warten soll, und benimmt sich überhaupt genau so, wie sie sich in den ersten Tagen im Metropol benommen haben.
Kaum hat er sich entschlossen, an einem Tisch im vorderen Teil Platz zu nehmen, hat er eine Kellnerin am Hals, die ihn in die hintere Restaurant-Hälfte dirigiert, dorthin, wo die Talon-Esser sitzen.
Den kennen wir nicht, raunt Wilhelm ihr zu.
Auch Provost nimmt von ihnen keine Notiz. Er setzt sich möglichst weit weg, erkennbar darum bemüht, sich routiniert und normal zu verhalten – was auch Charlotte versucht. Erst oben im Zimmer wird der Fall diskutiert. Er wohnt hier, so viel ist klar. Ist er ebenfalls vom Dienst suspendiert? Ein Leidensgefährte?
Am einfachsten wäre es, ihn zu fragen, aber Wilhelm argumentiert:
Entweder er hat sich etwas zuschulden kommen lassen, dann wollen wir nichts mit ihm zu tun haben. Oder er hat sich nichts zuschulden kommen lassen, dann will er nichts mit uns zu tun haben.
Das klingt logisch. Zumal Provost auch nicht mit ihnen redet.
Am 8. März kommt Wilhelm mit einem Blumenstrauß nach Hause: Frauentag. Obendrein hat er Plätze im Restaurant Praga reserviert. Charlotte bleibt nichts übrig, als zuzustimmen. An einem solchen Tag ist es schwierig, abweisend zu sein.
Nachdem die Temperaturen zu Monatsbeginn noch einmal auf minus fünfundzwanzig Grad herabgefallen waren, ist es jetzt wärmer geworden. Es schneit. Frisches Weiß bedeckt für kurze Zeit das abgetragene Grau des Winters. Draußen sind auffällig viele Leute unterwegs, erstaunlicherweise sind schon am frühen Abend viele betrunken. Ein mushik , der Charlotte an ihren konterrevolutionären Schuster erinnert, will sie zu einem Schluck aus seiner Flasche nötigen, wobei er andauernd masleniza, masleniza schreit – die Butterwoche, begreift Charlotte. Ein reaktionärer Brauch, die mushiks feiern das Ende des Winters. Aber es gibt Betrunkene auch auf der Seite des Fortschritts, sogar Frauen mit Blumensträußen, Brigaden, die den Frauentag begehen.
Vor dem Praga streitet eine solche Gruppe gerade mit dem Personal um irgendwelche Tische, die angeblich reserviert, aber nicht besetzt sind. Eine der Frauen fängt plötzlich an, das Personal in unflätigster Weise zu beschimpfen, eine vierschrötige Person, die eine Wattejacke über einem entsetzlich gescheckten Kleid trägt. Aber nicht die Beschimpfungen schockieren Charlotte, sondern der Satz, der halbe Satz, den die Frau herauspresst, nachdem sie mit Müh und Not davon abgebracht worden ist, das Restaurant zu stürmen:
Danke, Sowjetmacht!
Mascha, nun beruhige dich, mahnt eine Jüngere. Dann ziehen sie los, fünf oder sechs sowjetische Frauen, mit Blumen im Arm und viel zu dünnen Sommerschuhchen an den Füßen. Singend auf einmal, wie um die Bemerkung der Vierschrötigen zu übertönen.
Charlotte bestellt ein sündhaft teures Beef Stroganoff, wird aber während des Essens die ganze Zeit von der zwanghaften Vorstellung geplagt, sie verspeise Hundefleisch. Auf dem Heimweg ist Wilhelm auffällig schweigsam und bekommt den bettelnden Blick. Charlotte kann nicht entscheiden, ob sie sich seiner erbarmen oder nach einer Ausrede suchen soll, falls es dafür nicht schon zu spät ist: Gewöhnlich signalisiert sie Wilhelm frühzeitig, wenn sie nicht willens oder imstande ist, damit er sich darauf einstellt. Dann aber löst sich das Problem von selbst:
Plötzlich stehen sie zusammen mit Provost im Fahrstuhl. Der dicke uniformierte Fahrstuhlführer fragt ihn, in welche Etage er wolle – Charlotte und Wilhelm hat er längst aufgehört zu fragen, er quittiert ihr Eintreten lediglich mit einem wissenden Nicken. Provost jedoch, Charlotte ahnt es, will ebenfalls in die vierte Etage.
Als der Fahrstuhl hält, lässt er ihnen galant den Vortritt, folgt ihnen dann nicht besonders eilig, rechtsherum, an der Diensthabenden vorbei, noch einmal rechts, den langen Flur entlang, durch die Glastür, an der sie sich begegnet sind, und noch einmal rechts – er folgt ihnen noch immer. Der Abstand hat sich etwas vergrößert, als sie ihre Tür aufschließen, ist Provost noch ungefähr zwanzig Schritte entfernt, aber kaum dass sie ihre Tür geschlossen haben, hören sie unmittelbar neben sich die Riegel schnappen. Der Nachbarraum. Der Raum, in dem Feuchtwanger gewohnt hat.
Wilhelm ist sofort mit dem Ohr an der Zwischentür, verharrt dort eine Minute, zwei. Stille – bis Provost auf einmal anfängt zu singen, offenbar direkt hinter der Tür, jedenfalls laut genug, dass Charlotte jedes Wort verstehen kann:
Plaisir d’amour ne dure qu’un moment.
Chagrin d’amour dure toute la vie …
Wilhelm schaut sie an mit einem Blick, für den Charlotte kein anderes Wort einfällt als: bedeppert.
Überflüssig zu sagen, dass sich Liebeshandlungen unter solchen Umständen erledigt haben. Auch Wilhelm scheint es vergangen zu sein. Charlotte hört noch lange, wie er sich schlaflos drüben in seinem Bett wälzt, vielleicht mit ähnlichen Fragen beschäftigt: Was bedeutet das nun wieder? Soll Provost sie aushorchen? Oder ist es reiner Zufall, dass er im Nebenzimmer wohnt? Was weiß er? Was will er? Ist er freiwillig hier?
Auf der Straße Gelächter. Getrappel von Pferden. Ein Betrunkener beteuert quäkend, dass er nicht betrunken sei. Hin und wieder leuchten die Sterne über ihr auf. Nun sind sechzehn Wochen vorbei. Ist Provost das große Ereignis, auf das sie sechzehn Wochen lang gewartet hat? Ist er die Lösung des großen Rätsels? Provost, dieser Hampelmann. Sie ist nicht bereit, das zu glauben.
In den folgenden Tagen verfällt Charlotte unwillkürlich in einen halblauten Tonfall, während Wilhelm, so scheint es, anfängt, besonders laut und deutlich zu sprechen. Er betont mehrmals, wie optimistisch er sei: Wir wissen ja, dass wir uns nichts vorzuwerfen haben . Verliest seine Pressenotizen, stolziert wie unabsichtlich an der Zwischentür vorbei und bleibt sogar stehen, damit es auf keinen Fall falsch verstanden wird, wenn er – zum endgültigen Beweis für den faschistischen Charakter des Trotzkismus – die Rundschau zitiert, die wiederum den Völkischen Beobachter zitiert, der wiederum Trotzki zitiert, der sich irgendwo über die Entartung des Sozialismus in der Sowjetunion auslässt. Charlotte sieht ihm zu wie einem Fremden.
Wenn sie leise spricht, sagt er: Du brauchst nicht zu flüstern, wir haben nichts zu verbergen.
Aber Charlotte möchte sich auch über Alltägliches nicht in Überzimmerlautstärke unterhalten. Weder will sie vor den Ohren von Provost ausdiskutieren, ob sie die weggeworfenen Briefseiten als Klopapier verwenden darf (denn natürlich ist Klopapier eine Mangelware, die ihnen, wie sich herausgestellt hat, nicht vom Hotel zur Verfügung gestellt wird), noch will sie Wilhelm auf ein hervorstehendes Nasenhaar hinweisen. Schon gar nicht will sie über Kurt oder gar über Werner sprechen. Oder über Ljuba Löwenstein, von der sie Wilhelm bisher nicht berichtet hat, weil sie, so ihre Ausrede, Ljubas Verhalten nicht deuten konnte. Also verstummt Charlotte, redet so gut wie gar nicht mehr. Wilhelm scheint es kaum zu bemerken.
Dafür dreht er das Radio auf. Zuerst glaubt sie, er wolle ihr unter dem Geräuschpegel des Radios hindurch etwas mitteilen, was Provost nicht hören soll. Aber er teilt ihr nichts mit. Macht einfach das Radio an und lässt eine dreistündige Rede Molotows über sich ergehen. Von der er kein Wort versteht. Allerdings versteht auch Charlotte die Rede kaum, denn die Übertragungsqualität lässt stark zu wünschen übrig, was Wilhelm jedoch energisch bestreitet.
Zwei Tage später liest Charlotte in der Prawda , dass Schädlinge und Saboteure die Übertragung von Molotows Rede absichtlich gestört hätten.
Aber es kommt noch schlimmer. Kurz nach dem Radio-Vorfall taucht ein weiterer Mitarbeiter von Punkt Zwei im Hotel auf: John Murray, der seltsame Signaltechniker aus England. Mit mürrischer Miene betritt er das Restaurant und setzt sich, als er die anderen sieht, fernab – in die erste Klasse, von wo ihn die Kellnerin prompt vertreibt.
Am nächsten Tag stehen drei weitere OMS -Leute im Restaurant, drei junge spanische Kommunisten: Carmen Silva, Luisa Diego und Pedro Marchisto. Pedro hat den Kursanten beigebracht, wie man ein Funkgerät aus Einzelteilen zusammenbaut und einsatzbereit macht, die Aufgaben der beiden Frauen sind Charlotte unbekannt. Was ist da passiert? Es können doch nicht alle auf einen Schlag suspendiert worden sein.
Nach dem Essen versucht Charlotte, Wilhelm davon zu überzeugen, dass man doch wenigstens zu den Spaniern Kontakt aufnehmen könne:
Wir sitzen doch alle im selben Boot!
Wir sitzen in keinem Boot, raunt Wilhelm.
Am ersten Tag sind die drei Neuankömmlinge noch scheu, schauen sich schüchtern um. Aber nach wenigen Tagen fangen sie an, sich lebhaft zu unterhalten, zu dritt bilden sie eine Übermacht. Gaston Provost bemüht sich ebenfalls, heiter zu erscheinen, versucht kleine Scherze mit der Kellnerin, welche den falschen Franzosen erstaunlicherweise nicht abblitzen lässt, sondern noch mit Sonderhappen belohnt.
Und nun beginnt auf einmal eine Art Wettbewerb in guter Laune und Unbefangenheit. Auch Wilhelm fängt unversehens an zu plaudern, stößt sie unter dem Tisch an: Mach nicht so ein Gesicht! Charlotte bemüht sich, freundlich und interessiert dreinzuschauen, während Wilhelm – lauter als nötig – von der vorzeitigen Erfüllung des Rohbaumwollplanes oder der Rekordfahrt der neuen sowjetischen Lokomotive SO  17–3 berichtet. Nur Murray an seinem Tisch blickt mürrisch in die Runde, hin und wieder scheint ein rätselhafter Impuls durch sein verrücktes Gehirn zu gehen, und es entfährt ihm ein leises Lachen.
Lacht er sie aus?
Zu allem Überfluss taucht wenig später auch noch Li Chang auf. Er versucht gar nicht erst, sich in den vorderen Teil zu setzen, sondern wählt einen freien Tisch im Talon-Bereich. Aber offenbar werden der Kellnerin die Einzeltische allmählich zu viel. Provost darf sitzen bleiben, aber Chang wird an Murrays Tisch dirigiert. Er lässt es widerstandslos geschehen, begrüßt Murray mit einer förmlichen Verbeugung – und Murray ahmt Changs Verbeugung nach, so gut das im Sitzen geht. Absurdes Theater.
Obendrein stellt sich heraus, dass sie alle in der vierten Etage untergebracht sind. Ziemlich pünktlich um halb vier tritt die komplette Mannschaft zum Mittagessen heraus, sodass sich gemeinsame Fahrten im Aufzug kaum vermeiden lassen – und nachdem sie mehrmals starr neben ihren frohgemuten Genossen gestanden hat, beschließt Charlotte, die Treppe zu nehmen, obwohl Wilhelm weiterhin den Aufzug nutzen will. Aber Charlotte geht einfach los, und Wilhelm bleibt, sofern er Einigkeit vortäuschen will, nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
Während sie gemeinsam die Stufen hinabgehen, faucht er sie von der Seite an: Dreh jetzt nicht wieder durch!
Charlotte merkt, wie das Blut ihr in die Schläfen steigt: Durchdrehen  – das Wort.
Ich drehe durch? Sie versucht zu flüstern, aber ihre Stimme kippt, fängt an zu quietschen: Ihr dreht doch hier alle durch!
Wilhelm packt sie am Handgelenk, aber in diesem Augenblick rauscht der Fahrstuhl heran, der berühmte gläserne Fahrstuhl des Metropol, und Wilhelm lässt sie sofort wieder los, sie erstarren für einen Augenblick in einer unnatürlichen, operettenhaften Pose, während die neugierigen Gesichter von Provost und Murray vorbeigleiten. Es vergehen ein, zwei Sekunden, ehe Wilhelm sagt:
Es reicht. Du hast mir schon genug eingebrockt mit deinen … Er sucht das passende Wort … Marotten.
Das Wort passt nicht, trotzdem weiß Charlotte sofort, worauf er anspielt: die alte Geschichte. Stockholm.
Es stimmt, damals hat sie die Nerven verloren, hatte auf dem Bahnsteig einen Heulkrampf bekommen, in aller Öffentlichkeit, und wer weiß, was sie noch alles getan hat, so genau erinnert sie sich nicht daran, wohl aber an den Anlass. Dort auf dem Bahnhof, beim Umsteigen, hatte sie festgestellt, dass in den Stempeln der gefälschten Visaeinlagen ihrer gefälschten Pässe das «S» im Deutschen Reich fehlte: Deutches Reich! Sie hatten noch die Grenzen zu Dänemark, zu Deutschland, zu Frankreich zu überwinden und retour. Ein irrsinniges Unternehmen, ein Himmelfahrtskommando.
Wilhelm war trotzdem gefahren, mit seinem Deutches Reich -Stempel im Pass. Und er ist, kaum zu glauben, zurückgekehrt.
Charlotte hat man seitdem nicht wieder bei konspirativen Aktionen eingesetzt, und auch Wilhelm ist immer seltener als Kurier ins Ausland gefahren, zu seinem Bedauern. Aus ihr unbegreiflichen Gründen hat er solche Unternehmungen geliebt. Aber sind denn im Laufe der Zeit nicht immer mehr Kuriere hochgegangen? Ist sich Wilhelm nicht darüber bewusst, dass sie ihn möglicherweise vor der Gestapo-Haft bewahrt hat? Vor Verhaftung, Folter, Tod?
Bisher hat sie Wilhelms Schweigen zu der Angelegenheit immer als Zeichen dafür interpretiert, dass sich sein Ärger und seine Erleichterung zumindest die Waage hielten. Und nun: Du hast mir schon genug eingebrockt mit deinen Marotten.
Wilhelm geht weiter, bleibt noch einmal auf dem Absatz stehen, blickt ungeduldig zu ihr zurück. Ihre Knie zittern, es dauert einen Moment, bevor sie den Fuß auf die nächste Stufe setzen kann. Wilhelm hält ihr den Arm hin, sie ergreift ihn – wie die Haltestange einer Straßenbahn. Vorbei an der Diensthabenden. Vorbei an der Rezeption. Spießrutenlauf durch das Restaurant, sie versucht zu lächeln. Nein, vor diesen Leuten will sie sich keine Blöße geben.
An der Suppe erkennt sie, dass Montag ist: ein undefinierbares Gemisch aus Resten, das sie hier Soljanka nennen. solj heißt Salz, und die Suppe macht ihrem Namen alle Ehre.
Hervorragend, sagt Wilhelm.
Findet er das wirklich? Charlotte schaut sich um: Alle löffeln brav ihre Suppe, nur der verrückte Murray verzieht das Gesicht und kippt das ganze Schälchen saure Sahne hinein.
Ja, sagt Charlotte, ganz hervorragend, diese versalzene Suppe.
Mitte März sinken die Temperaturen noch einmal auf minus sechzehn Grad, und Gustav Schock, der vormalige Administrator von Punkt Zwei, zieht ins Metropol ein. Ein paar Tage später kommt noch Nowosielski dazu, Leiter der Funkerschule, sowie eine der Übersetzerinnen, Clara Sondermann, die sich zu Provost setzt.
Abgesehen von den Kursanten – insgeheim hat Charlotte gehofft, dass auch Jill Greenwood irgendwann einträfe – ist nun die halbe Funkerschule im Metropol versammelt. Werden die Leute denn nicht mehr gebraucht? Gerade jetzt, wo die Nazis in Deutschland erstarken. Wo in Spanien der Krieg gegen Franco tobt. Wo von England Gefahr droht und auch von Japan. Braucht die OMS keine Funker mehr? Hat die Komintern aufgehört, Kundschafter auszubilden?
Da soll es ja von Volksfeinden nur so wimmeln  – der Satz fällt ihr ein. Damals hat sie gemeint, nur eine toupierte Pute mit gelackten Fingernägeln könne eine solche Dummheit daherschwätzen. Die Komintern! Das Schwert der Weltrevolution! Aber inzwischen weiß sie, wer die toupierte Pute ist. Sollte Wassili Wassiljewitsch Ulrich ebenfalls glauben, in der Komintern wimmle es von Volksfeinden?
Endlich drehen die Außentemperaturen ins Plus, allerdings fängt es an, barbarisch zu regnen. Märzregen, schlimmer als Schnee, die feuchte Kälte kriecht einem in die Glieder, selbst unter dem Schirm wird man nass. Absurderweise enden die Moskauer Dachrinnen nicht in der Kanalisation, wie sie es aus Deutschland kennt, sondern einen halben Meter über der Erde, sodass sich Ströme Regen- und Schmelzwassers über die Gehwege ergießen. Überall stehen Pfützen, alles ist überschwemmt. Nach zwanzig Minuten sind Schuhe und Kleidung so nass, dass sie bis zum nächsten Morgen trocknen müssen.
Unglücklicherweise entfällt auch das Café Metropol als Aufenthaltsort, denn dort sitzt neuerdings Provost. Offenbar hat er entdeckt, dass man hier preiswert Tee trinken und die Prawda lesen kann. Innerhalb weniger Tage ist es ihm gelungen, auch hier die Kellnerin zu bezirzen. Sie toleriert nicht nur seine dauernde Anwesenheit, sie lebt geradezu auf, schreitet hüftschwingend durch das Café und beugt sich, man glaubt es nicht, beim Abrechnen so tief hinunter, dass er ihr in den Ausschnitt stieren kann.
Charlotte verspürt wenig Lust, Provost dabei zuzusehen, wie er demonstrativ die Prawda studiert, schon gar nicht möchte sie einen stummen Wettbewerb darum eröffnen, wer die Prawda länger und gründlicher studiert – zumal es nur ein Exemplar gibt, um das man konkurrieren müsste.
Also geht sie während der Regentage in den Hotelfluren spazieren. Dabei entdeckt sie in der ersten Etage einen Friseur. Ihr fällt ein, dass sie bald Geburtstag hat – als bedürfte es einer Begründung, um zum Friseur zu gehen. Sie ist froh um die lange Wartezeit, setzt sich still in die Ecke und blättert in einer Moskau-Broschüre, die für die Hotelgäste ausliegt, seltsamerweise nur auf Russisch: Stadtgeschichte, Architektur, Errungenschaften des Sozialismus.
Es gibt ein Foto von einer gigantischen Sportparade auf dem Roten Platz. Der schon zu dessen Lebzeiten nach Gorki benannte Park für Kultur und Erholung wird in den höchsten Tönen gepriesen. Es folgt seitenlang Werbung: für die Buffets, die es an jeder Metro-Station gibt; für das zentrale UNIVERMAG , in dem man Damen- und Herrenbekleidung, Sportartikel, Kosmetik, Fotoapparate, Operngläser, Musikinstrumente und sogar Jagdwaffen kaufen kann; für ein Schuhgeschäft mit allen nur erdenklichen Angeboten; für das Kino Udarnik, wo es vor jeder Filmaufführung ein Konzert gibt; für ein Muster-Milchcafé mit einer großen Auswahl an frischen Milch- und Konditoreiprodukten; für das Restaurant Praga (mit Jazz, Zigeunerchor und Dachgarten im Sommer); für das Staatliche Historische Museum am Roten Platz; für den Botanischen Garten; für die Tretjakow-Galerie (in der Charlotte natürlich schon einmal gewesen ist, die sie aber erneut zu besuchen beschließt).
Das Leben ist besser, das Leben ist fröhlicher geworden . Wenn man das alles liest, könnte man’s glauben.
Manchmal drückt sie sich in der Hotellobby herum, tut so, als wartete sie – was ja auch stimmt.
Sie sieht zu, wie die Marmorfußböden gewischt werden.
Amerikanische Touristen reisen an.
Die Kinder der Dauerbewohner stürmen kreischend die Treppen hinunter und werden sanft von einer Hotelangestellten ermahnt.
Madame Weger kommt mit dem Fahrstuhl nach und verschwindet im Restaurant.
Der alte Fainstein beschwert sich an der Rezeption über irgendwas, diskutiert mit einer Angestellten, dann mit dem Chef, resigniert schließlich und lässt sich vom dicken Fahrstuhlführer wieder nach oben befördern.
Und dann kommt er . Das runde, aufgequollene Gesicht. Die Augen darin nur Schlitze, als würde der Platz für mehr nicht reichen. Er geht wie blind, ein blindes, großes Tier, obwohl er im Grunde nicht groß ist, nur massig. Trägt das nasskalte Wetter mit sich durch die Lobby. Er grüßt niemanden, wendet den Blick nicht nach links, nicht nach rechts. Er gibt dem Mann im Ledermantel, der ihn begleitet, einen kaum merklichen Wink, worauf dieser auf der Stelle kehrtmacht und zum Ausgang marschiert. Charlotte sieht ihn draußen einen großen schwarzen Regenschirm aufspannen. Während Wassili Wassiljewitsch Ulrich schon im gläsernen Fahrstuhl nach oben fährt.
Geburtstag. Nein, Wilhelm hat die Blumen nicht vergessen. Er hat schlicht keine bekommen. Er ist betrübt. Er habe alles versucht. Er sei gestern den ganzen Tag wegen der Blumen unterwegs gewesen statt in der Bibliothek. Er habe sich zwei Mal vergeblich angestellt. Offenbar seien die Blumen am 8. März ausverkauft worden. Dafür hat er ihr eine Flasche Krimsekt mitgebracht und eine Schachtel Pralinen.
Als sie die erste Praline anbeißt, ist eine Made drin. Eine tote Made, gewiss, aber eine Made. Wilhelm schneidet alle Pralinen auf und prüft sie auf Madenfraß.
Es gibt keinen, man könnte die Pralinen essen.
Sie trinken ein Glas Sekt zum Frühstück und essen jeder eine halbe. Wilhelm, um zu beweisen, dass man sie essen kann. Charlotte, um Wilhelms Trübsal zu lindern. Er hat es gut gemeint. Er meint es immer gut. Und was haben wir nun davon? Dass wir Schokolade mit Maden essen. Sie versucht, nicht daran zu denken, während sie die halbe Praline kaut, im Mund zergehen lässt, die geschmolzenen Reste mit der Zunge am Gaumen zerdrückt. Versucht, nicht zu denken: Da ist der Wurm drin. Spült mit Sekt nach.
Um an diesem Abend nicht mit Wilhelm allein im Zimmer sitzen und politisch unverfängliche Gespräche führen zu müssen, hat sie alles darangesetzt, Karten für das Bolschoi-Ballett zu bekommen, leider vergeblich. Dafür hat sie Karten für den gerade erst angelaufenen Film Es blinkt ein einsam Segel gekauft. Unwillkürlich hat sie den Titel in Verbindung gebracht mit dem Giebel-Mosaik des Metropol, auf dem ein Schiff mit weißem Segel zu sehen ist. Isa hatte ihr erklärt, es handele sich um eine Szene aus einem französischen Drama. Es geht um einen Prinzen, der sich in eine Prinzessin verliebt, die er nie gesehen hat. So viel weiß sie noch. Sie hat sich gewundert über diese merkwürdige Idee: Wie kann man sich in jemanden verlieben, den man nicht kennt?
Allerdings hat dieser Film mit Liebe nichts zu tun. Auch geht es nur am Rande ums Segeln, sondern vielmehr um zwei Schuljungen, die den Aufständischen während der Revolution im Jahre 1905 im Schulranzen Patronen bringen. Der Film ist gut, die Handlung spannend. Das Drehbuch stammt von dem bekannten Schriftsteller Valentin Katajew. Und mit ein paar Hinweisen kann auch Wilhelm der Geschichte im Großen und Ganzen folgen. Auf dem Heimweg ist er fast schon so weit, Charlotte den Film zu erklären.
Sie versuchen, ein Taxi zu bekommen, erwischen aber nur eine Droschke. Der Regen weht unter das Verdeck, nass und verfroren kommen sie zu Hause an. Charlotte fragt an der Rezeption nach Post, in der Hoffnung, es könnte ein Geburtstagsgruß – etwa von Jilly – angekommen sein. Auch Hilde weiß, dass sie Geburtstag hat (und dass sie hier sind). Aber das Einzige, was angekommen ist, ist ein Geburtstagstelegramm von Kurt.
Wilhelm ist irritiert: Woher weiß denn Kurt die Adresse?
Ich habe sie ihm gesagt.
Sie steckt das Telegramm in die Tasche, hastet los. Wilhelm will noch mehr wissen, aber weder im Fahrstuhl noch auf dem Flur, schon gar nicht im Zimmer kann er frei reden.
Wir hatten was anderes vereinbart, zischt er, während er sich die Schuhe auszieht.
Was hatten wir denn vereinbart?, fragt Charlotte, absichtlich laut, und empfindet eine bösartige Freude.
Regen prasselt gegen Fenster und Bleche. Eine Straßenbahn rumpelt um die Kurve, die Räder stoßen gegen die Schienen, wollen lieber geradeaus. Charlotte wartet darauf, dass Wilhelm einschläft. Sie weiß schon, dass sein Schnarchen sie stören wird. Trotzdem wünscht sie sich, dass er endlich schläft, endlich fort ist. Endlich, am Ende des Tages, will sie mit sich allein sein.
Aber Wilhelm schläft nicht, sie hört es an seinem Atem. Schaut er die Sterne an? Wünscht er sich was? Was könnte Wilhelm sich wünschen? Was denkt dieser Mensch? Zweifelt er nie? Würde er zweifeln, wenn sie ihn eines Tages abholten?
Entsetzliche Entdeckung: dass sie, wenn auch nur in einem blitzartigen, schattenhaften Anflug, imstande ist, sich das zu wünschen. Nicht sie, das andere, das Schlechte in ihr. Das dumme Tier, das die einfachsten Dinge nicht begreift: Wenn Wilhelm abgeholt wird, werde auch ich abgeholt. Aber warum, um Himmels willen, sollten sie Wilhelm abholen?
Dann, endlich, ist von drüben, aus dem anderen Bett, sein unkontrollierter, fiepender Atem zu hören. Wilhelm ist fort, unerreichbar. Jetzt schämt sie sich. Versucht, gerecht zu sein. Erwin hat ihr niemals Blumen zum Geburtstag geschenkt. Zu ihrem Fünfundzwanzigsten hat sie einen Staubsauger bekommen – mit Handpumpe. Sie muss leise lachen bei der Erinnerung. Wie Erwin ins Schwitzen kam, als er beweisen wollte, dass man keinen von diesen neumodischen elektrischen Staubsaugern braucht. Und wenn sie an ihre Kindheit zurückdenkt: Gab es da überhaupt so etwas wie Geburtstag? Niemals hatte sie auch nur einen Geburtstagsgast. Auch an Geschenke kann sie sich nicht erinnern – außer an eine karierte Jacke, die aus einem abgelegten Mantel ihres Bruders genäht worden war, und dabei war der schon gebraucht gekauft. An den Rührkuchen mit Kerze, der zum Geburtstag morgens auf dem Küchentisch stand – das war alles. Und, ja, an die kleinen Papiertiere, die ihr Vater mit der Schere ausschnitt und am Fuße so knickte, dass man sie aufstellen konnte: Elefant, Fisch und Esel fallen ihr ein.
Und bei der Erinnerung an diese selbstgezeichneten, selbstausgeschnittenen Tiere, die der Vater ihr neben den Rührkuchen stellte, zerfließen auf einmal die Sterne vor ihren Augen. Sie bemüht sich erst gar nicht, die Tränen zurückzuhalten.