7 Verhoffte Wendung
– Charlotte –
Die Kälte hat nachgelassen, der April ist da. Zwar blühen in Moskau noch immer nicht die Weidenkätzchen, aber man spürt überall, wie der Klammergriff des Winters nachlässt. Man räumt die schmutzigen Schneegebirge fort, die der März an den Straßenrändern hinterlassen hat. Man reinigt die Trottoire von den Sedimenten des Winters, die an den Schuhen kleben. Im Hotel werden seit Tagen immerzu die Flure geputzt, die Angestellten fluchen leise, aber gutmütig. Insgeheim frohlocken auch sie über das nahende Ende des Winters.
Aber vor allem: Man kann wieder raus aus dem Luxusgefängnis
, wie Charlotte es insgeheim nennt. Raus aus diesem irren Theaterstück, von dem niemand weiß, wie es endet. In dem niemand weiß, welche Rolle er eigentlich spielt. Wie viele tote Stunden hat sie sich in der Lobby und auf den Fluren herumgedrückt, ja sogar schon im Bojarensaal beim Schachturnier zugeschaut, obwohl sie nicht einmal richtig weiß, wie die Figuren gesetzt werden. Sogar den Gedanken, sich beim Tanzkurs anzumelden, hat sie schon gehabt (allerdings ist Li Chang schon vor ihr auf die Idee gekommen, und keinesfalls möchte sie Foxtrott mit Li Chang üben). Wie viele Stunden haben Wilhelm und sie sich angeschwiegen, und wie viele Stunden hat sie mit ihrem aufgeschlagenen Buch in der Hand auf dem Bett gelegen und mit dem Schlechten in sich gerungen: mit der Ratte des Zweifels, die an ihren Eingeweiden nagt.
Aber auch draußen unter freiem Himmel, wo niemand hinter der Tür lauscht, wo niemand sie vom Nebentisch aus beobachtet, setzt es sich fort: das beredte Schweigen zwischen ihnen. Ihre Gespräche bleiben steif und unverfänglich, während sie die Tschistye prudy,
die Sauberen Teiche, umkreisen. Selbst an den abgelegensten Stellen des Parks vermag sie nicht, etwas von all dem Ungesagten, Aufgestauten auszusprechen, das sie bewegt, sondern trägt die Ratte des Zweifels weiter in ihrem Bauch mit sich herum wie das Kind eines fremden Mannes.
Als Wilhelm mit wichtiger Miene verkündet, dass Genrich Jagoda, der ehemalige Chefs des NKWD
, verhaftet worden sei, zuckt sie nur mit den Schultern. Offenbar hält Wilhelm das für eine gute Nachricht. Aber Jagoda war schon nach dem ersten Prozess durch Jeshow ersetzt worden, und die Verhaftungen hörten nicht auf. Ja, es wurden sogar noch mehr. Die eigentliche Frage wäre: Was soll man nun von den Untersuchungen gegen Alexander Emel und die anderen fünfzehn halten, die auf Jagodas Anordnung geführt worden sind? Was soll man überhaupt von einem Geheimdienst halten, an dessen Spitze ein Volksfeind steht? Stellt sich demnächst vielleicht heraus, dass auch Jeshow ein Volksfeind ist?
Volksfeinde an der Spitze der wichtigsten Organe.
Fast noch schlimmer sind die kleinen Anwandlungen, die sie plagen: Wenn sie beim Anblick der eisgrauen, mit Müll übersäten Sauberen Teiche
plötzlich von einer heimtückischen Sehnsucht angefallen wird. Nach dem Flieder am Teltowkanal, fast glaubt sie, ihn zu riechen. Irgendeine Ausflugsgaststätte in Königs Wusterhausen, heißes Wasser für einen Groschen, um den mitgebrachten Kaffee aufzubrühen. Und der plattfüßige Kellner, der sie ständig mit schöne Frau
anredet.
Natürlich ist das politisch fragwürdig. Sie hat die sowjetische Staatsbürgerschaft beantragt und wird von Heimweh geplagt. Obendrein ist es dumm: In Deutschland herrschen die Nazis. Dort wird sie mit Haftbefehl gesucht, weil man sie als ehemalige Stadtbezirksverordnete der KPD
für einen Fememord des Rotfrontkämpferbundes in einem Neuköllner Lokal mitverantwortlich macht. Obwohl sie damit nun wirklich nicht das Geringste zu tun hatte.
Ein anderer dummer Gedanke: Sie erinnert sich an Wassili Wassiljewitsch Ulrich, wie er durch die Lobby walzt, und fragt sich, wie ein so hässlicher, fetter, unsympathischer Mensch Oberster Richter werden kann. Aber muss denn ein Richter sympathisch sein? Oder gar gutaussehend und schlank?
Aber im Grunde sind es nicht diese Anwandlungen und Fragen, die sie anfechten. Das sind nur Erscheinungen, Symptome. Sie kann gar nicht sagen, wie tief ihre Zweifel sitzen. Sobald sie ihre Gedanken dorthin richtet, verspürt sie Angst. Das Eigentliche, das, worum es geht, bleibt unbestimmt, unförmig, unklar. Selbst wenn sie es mitteilen wollte, könnte sie es nicht, weil es nicht möglich ist, hinter die Angst zu denken.
Wilhelm scheint es zu riechen. Klasseninstinkt? Sobald sie das Hotel verlassen haben, verändert sich sein Tonfall kaum merklich. Im Zimmer klingt er jovial, draußen jedoch dreht seine Rede ins Appellhafte. Egal, worüber er spricht, immer hat Charlotte das Gefühl, er wolle sie von etwas überzeugen. Dass letztlich doch alles gut und richtig sei. Dass hier, in der Sowjetunion, der Sozialismus aufgebaut werde, allen Widrigkeiten und Rückschlägen zum Trotz. Und seine Beweise sind durchaus überzeugend, denn es sind nicht nur Zeitungsartikel, nicht nur Berichte über gigantische Stahlwerke oder Autofabriken irgendwo draußen im Land und nicht nur
Meldungen einsamer Rekorde in der Schifffahrt oder im Flugwesen – sondern man sieht es auf Schritt und Tritt. Die Baustellen der Hauptstadt sind aus dem Winterschlaf erwacht. Plötzlich fiebert die Stadt vor Schaffensdrang. Der Moskauer Frühling duftet nicht nach Flieder und Weißdorn, sondern nach Erde und Zement.
Ungeheure Steintürme wachsen in den Himmel. Achtspurige Magistralen fressen sich durch die Stadt. Was stört, wird weggeräumt. Die Abrissbirnen hämmern. Kein Privatbesitz steht hier den Interessen der Öffentlichkeit entgegen. Der Metro-Bau! Eben noch eine Stadt aus schwarzen Holzhäusern, wird Moskau morgen die modernste Metro der Welt besitzen. Fast im Wochentakt werden neue Stationen eröffnet. Stadien, Schwimmbäder, Erholungsparks wachsen aus dem Nichts, und alles geschieht gleichzeitig und mit einer Geschwindigkeit, die es einem mitunter schwer macht, sich überhaupt noch zu orientieren: Straßenbahnlinien brechen plötzlich ab. Riesige Löcher klaffen in den Straßen. Das Café Tschaika, in dem sie sich wieder zum monatlichen Treffen mit Kurt verabredet hat, ist auf einmal so gründlich verschwunden, dass Charlotte nicht einmal mehr begreift, wo es eigentlich gestanden hat. Sie finden einander nicht und müssen sich neu verabreden.
Und doch: welche Behutsamkeit bei dem gigantischen Vorhaben! In der Gorkistraße sollen tatsächlich die besonders wertvollen Häuser versetzt werden, heißt es, damit die Straße verbreitert werden kann. Auf der Moskwa-Insel kann man sehen, wie ein mehrstöckiges Wohnhaus schon mal probehalber verschoben wird, um einer neuen Brücke Platz zu machen. Häuser versetzen – eine nie da gewesene Technik.
Und auch vor der Natur macht der Umgestaltungswille nicht halt. An einem bedeckten Tag Ende April stehen sie
zusammen mit Tausenden Moskauern am Ufer der Moskwa und beobachten, wie allmählich das Wasser steigt: Aus dem Rinnsal wird ein Fluss! Seltsamerweise beeindruckt Charlotte das mehr als alles andere – sogar mehr als die Pläne für den gigantischen Palast der Sowjets
, der mit vierhundertfünfzehn Metern das höchste Gebäude der Welt werden soll.
Und doch hilft das alles nicht gegen ihre Krankheit, im Gegenteil. Die Begeisterung, die überall zu spüren ist, macht ihr nur stärker bewusst, wie ausgeschlossen sie ist. Verstohlen sieht sie sich unter den Menschen um, die am Ufer der Moskwa stehen. Sie betrachtet die rauchenden jungen Männer, die auf die steigenden Wasser hinabsehen, als hätten sie das Wunder selber vollbracht – und vielleicht haben sie das ja?
Sie schaut die für das Wetter zu leicht bekleideten jungen Frauen an, deren pralle Brüste vor lauter Stolz die Blusen sprengen wollen. Wen stört es, dass sie blaue Schuhe und hässliche Socken tragen?
Sie sieht einen alten Mann mit einer Narbe im Gesicht und Lenin-Schirmmütze auf dem grauen Haarschopf, der seinem staunenden Enkel raunend den ungeheuren Vorgang im Flussbett erklärt. Hat er in den Oktobertagen an der Seite der Bolschewiki gekämpft? Hat er die Narbe im Bürgerkrieg davongetragen?
Sie, Charlotte, hat keine Wunder vollbracht, sie hat nicht gekämpft. Stattdessen trägt sie heimlich in sich die Ratte des Zweifels. Neidisch blickt sie jungen Leuten nach, die in Zweierreihen zum Subbotnik marschieren, und weiß, dass sie niemals so sein kann wie sie. Nie wird sie eine echte Sowjetbürgerin werden, selbst wenn ihr Antrag tatsächlich irgendwann genehmigt werden sollte. Sie ist einfach nicht stark und, ja, vielleicht auch nicht jung genug. Diese
marschierenden Komsomolzen interessieren sich vermutlich einen Dreck dafür, ob die Aussage von Karl Radek mit der von Grigori Sinowjew identisch ist. Oder ob ein Alexander Emel sich tatsächlich an einem Mordkomplott gegen Stalin beteiligt hat. Wahrscheinlich kennen sie diese Leute kaum oder nur als Angeklagte aus der Zeitung. Schnee von gestern! Diese Jungen werden ein gigantisches Werk errichten, und sie wird danebenstehen, neidvoll, verstockt, beschämt. Es liegt an ihr, nicht an ihnen. Und da begreift sie, warum die Partei nicht weiß, was sie mit ihr anfangen soll.
Täglich zur Mittagszeit spielt sie ihre Rolle in dem absurden Theaterstück. Beobachtet das stumme Gerangel um die Tischordnung. Immer wieder versucht die Kellnerin, Tische einzusparen, die Gruppe zusammenzuhalten. Zuletzt werden nur noch bestimmte Tische eingedeckt. Trotzdem gelingt es Schock und Nowosielski schließlich, sich abzuspalten. Li Chang und Murray bleiben an einem Tisch sitzen. Provost fängt an, mit Clara, der Übersetzerin, zu flirten. Die spanische Fraktion bleibt von alledem unberührt, selbst ihre Heiterkeit scheint echt zu sein. Auch Li Chang kichert über Murray, der plötzlich anfängt, mit spitzen Fingern die Suppe zu löffeln und sie mit ausgefallenen Lobesworten in seiner Muttersprache zu bedenken: Delectable! Enchantingly! Superb!
Schock und Nowosielski geben sich aufgeräumt zuversichtlich, allerdings wortkarg.
Während Wilhelm für seine Verhältnisse unerhört viel erzählt. Anscheinend hebt er sich alle guten Nachrichten des Tages für das Mittagessen auf. Charlottes Part besteht darin, ein interessiertes Gesicht zu machen und hin und wieder eine kleine Frage zu stellen, was ihr immer schwerer fällt. Da die meisten Anwesenden kein Deutsch verstehen, scheint Wilhelm es für nötig zu halten, hin und wieder etwas
einzufügen, das auch den anderen zeigt, dass er keineswegs bloß über das Wetter redet, und meistens sind das die Worte: der Genosse Stalin …
Wenn sie auf ihr Zimmer zurückkehren, kann sie ihre von lauter Optimismus strapazierte Gesichtsmuskulatur spüren. Sie ist kaum noch imstande, Wilhelms Stimme zu ertragen, jedes weitere Wort sticht ihr wie eine Schere in den Kopf.
Zum Glück hat Wilhelm sich dann weitgehend leer geredet. Meist sinkt er nach dem späten Mittagessen erschöpft auf sein Bett, schaltet das Radio ein, wo es um diese Zeit Sendungen über Haushaltsführung oder Hygiene gibt, was Charlotte zum Anlass nimmt, sich ohne weitere Erklärung aus dem Zimmer zu stehlen. Was sie über die Tage rettet, ist die Tscheljuskin
. Seltsamerweise ist sie plötzlich in der Lage zu lesen, mehr noch: Auf einmal empfindet sie das Buch als eine Fluchtmöglichkeit, als Tür zu einer anderen Welt.
Auch hat sie ein geeignetes Plätzchen zum Lesen gefunden, nämlich in der zweiten Etage, an einem jener Schachtische, die sie damals mit Isa zusammen gesehen hat. Dort, ganz am Ende jenes Flurs, wo einstmals Bucharins Zimmer gewesen sein soll (Nummer 205, glaubt sie sich zu erinnern, und tatsächlich trägt das letzte Zimmer rechts diese Nummer) – dort befindet sich eine geräumige Nische mit einer Palme, darunter ein Tisch, der niemals besetzt ist. Hier liest sie in nur fünf oder sechs Abenden den Rest der Geschichte. Zuerst fremdelt sie ein wenig mit der Umgebung, rechnet jeden Augenblick damit, dass irgendeine Diensthabende sie von dort vertreibt. Aber es kommt keine Diensthabende, und nach ein, zwei Stunden hat sie sich festgelesen, ist ganz in jener anderen Welt, bei den im Eis Eingeschlossenen, und fiebert mit, als ginge es um ihre eigene Rettung. Dabei weiß sie ja, wie die Geschichte ausgeht. Sie erinnert sich an den
triumphalen Empfang der Besatzung und ihrer Retter in Moskau. Aber beim Lesen scheint alles wieder offen, alles möglich zu sein.
Vier Tage lang bangt sie bei jedem Rettungsflug, macht alle Dramen durch, die sich auf dem Eis und in der Luft abspielen. Sie liest von vereisten Tragflächen, von gebrochenen Kufen, von geborstenen Flugzeugen und Notlandungen im Nirgendwo. Sie liest von einem Piloten, der stundenlang mit der Hand Benzin pumpt, weil irgendeine Leitung geborsten ist; von einem anderen, der die vom Eis erblindete Frontscheibe seiner Maschine einschlägt, um sehen zu können. Ihre Finger zittern beim Umblättern der Seiten, als die letzten Besatzungsmitglieder an Bord der letzten Maschine gehen. Und als der Pilot beschließt, auch die verbliebenen acht Schlittenhunde noch mit Netzen aus Fallschirmseide unter die Tragflächen seines schwer beladenen Flugzeugs zu hängen, rollen ihre Tränen.
Dann liest sie das Zitat, das eine beflissene Bibliothekarin hinten in den Buchdeckel eingeklebt hat:
Nur in der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken sind solche glänzenden Siege der revolutionär organisierten menschlichen Energie über die Naturgewalten möglich. Nur bei uns, wo der Krieg um die Befreiung der werktätigen Menschheit begonnen hat und unermüdlich weitergeführt wird, können Helden geboren werden, deren erstaunliche Energie selbst unseren Feinden Bewunderung abringt.
Maxim Gorki
Am nächsten Tag winkt ihr eines der Fräuleins an der Rezeption zu. Offenbar erinnert sie sich, dass Charlotte oft vergeblich nach Post gefragt hat.
Ich habe etwas für Sie! Zimmer 479, nicht wahr?
Zuerst liest Charlotte den Absender. KI
, Mochowaja uliza 36
– die Komintern. Dann erst schaut sie auf die Vorderseite. Der Brief ist an sie adressiert. Nicht an Wilhelm, noch nicht einmal an sie beide.
Sie reißt den Umschlag auf, ihre Hände zittern. Sie muss drei Mal lesen, bevor sie glaubt, was da steht.
Ist alles in Ordnung?, fragt die junge Frau.