9 Liebe in Zeiten des Terrors
– Charlotte –
Noch einmal scheint alles auf der Kippe zu stehen, als sie im Büro des Verlagschefs abgewiesen wird: Die Kaderleitung der Komintern habe angerufen, sie solle sich umgehend dort melden, erklärt ihr die sonnenblonde Vorzimmerdame mit unaufgeregter Stimme und nordischem Akzent.
Zum Glück stellt sich heraus, dass lediglich eine Unterschrift fehlt:
Hiermit verpflichte ich mich, die mir anvertrauten Geheimnisse … lebenslänglich bewahren … alle Absprachen … Personen …
Die Erleichterung steigt ihr zu Kopf. Aber sie muss wenigstens so lange auf den Text starren, bis die Mertens glaubt, sie habe ihn aufmerksam gelesen.
Mir ist bekannt, dass die Nichteinhaltung dieser Verpflichtung Verrat und Betrug an der Arbeiterklasse bedeutet und entsprechende Folgen und Konsequenzen haben wird.
Datum, Unterschrift, fertig. Die Mertens nickt ihr zu, wünscht ihr viel Erfolg an ihrem neuen Arbeitsplatz. Charlotte würde sie am liebsten umarmen, würde am liebsten juchzen, in die Luft springen, aber natürlich hält sie sich zurück. Erst
draußen vor der Tür atmet sie durch und schickt ein großes Dankeschön zu den sechzehn Sternen in ihrem Zimmer.
Als wäre ihr Glück nicht schon vollkommen, trifft sie im Komintern-Gebäude auch noch Hilde, die ihr verspricht, sich um Wilhelms Angelegenheit zu kümmern. Und wenn Hilde ihr natürlich keine konkreten Auskünfte über die ehemaligen Bewohner von Punkt Zwei geben darf, so kann sie Charlotte immerhin in Bezug auf Jill Greenwood beruhigen: Ihr gehe es gut. – Wie sollte es auch anders sein, da sie ja offenbar unter dem persönlichen Schutz von Melnikow steht. Vielleicht meldet sie sich ja doch mal? Jetzt, da sie, Charlotte, keine Unperson mehr darstellt.
Am nächsten Tag wird sie endlich vom Verlagschef empfangen. Schon im Vorzimmer schwindelt ihr, als sie die Bücherregale ringsum betrachtet, voll von Werken, die hier erschienen sind. Die VEGAAR
erscheint ihr als der bedeutendste internationale Verlag der Welt. Ein Dutzend Sektionen, dreihundert Mitarbeiter. Hier werden die fortschrittlichsten, die besten Werke der Weltliteratur publiziert, Übersetzungen und Originale, russische Klassiker, linke Avantgardisten. Fadejew, Feuchtwanger, Gorki kann sie von ihrem Stuhl aus entziffern, auf der anderen Seite Thälmann, Togliatti, Tretjakow der Autor der Tscheljuskin
…
Dass der Direktor dieser gewaltigen Institution sich nicht viel Zeit für eine kleine Volontärin nehmen kann, ist verständlich. Michail Kreps wirkt zerstreut, fragt in drei Minuten zwei Mal nach ihrem Namen und lässt sie dann von seiner sonnenblonden Sekretärin, die, wenn sie richtig verstanden hat, Wilhelmson heißt, in die deutsche Sektion bringen.
Das Büro des deutschen Sektionschefs ist etwas bescheidener als das von Kreps, seine Sekretärin ist eine missmutige Russin, die Charlotte ein wenig an die Kellnerin im Café Metropol erinnert, aber dafür begrüßt der Sektionschef selbst sie beinahe überschwänglich:
Otto Bork, stellt er sich vor, eine Haarsträhne aus dem Gesicht streichend. Wir kennen uns.
Tatsächlich erinnert sie sich an ihn, obwohl sie ihn nur zwei- oder dreimal flüchtig in Hamburg gesehen hat, zusammen mit irgendwelchen geheimnisvollen russischen Genossen. Unmöglich, sich an so jemanden nicht zu erinnern: ein schöner Mann, fast ein bisschen zu schön, zu blond, zu blauäugig. Aber die zehn oder zwölf Jahre haben ihm gutgetan, sein Gesicht ist markanter geworden und hat dennoch etwas Jungenhaftes, Verschmitztes bewahrt. Jedoch ist sie sicher, dass er damals nicht Bork hieß (allerdings hieß sie da auch noch nicht Germaine). Dass er sich umgekehrt an sie erinnert, findet sie erstaunlich, sie fühlt sich geehrt. Überhaupt tut die Herzlichkeit des Mannes ihr wohl. Seine offene Art steht in so vollkommenem Gegensatz zu der Vorsicht und dem Misstrauen, das sie aus der Sphäre der OMS
gewohnt ist.
Er erkundigt sich nach ihren Sprachkenntnissen, verfällt kurz ins Russische, lobt ihre wunderbare Intonation (wie lange hat sie kein Lob mehr gehört) und will dann noch wissen, ob sie sich perspektivisch
, wie er es ausdrückt, vorstellen könne, eine literarische Übersetzung zu versuchen – bis er sich schließlich erhebt und sie zu einer kleinen Führung durch die deutsche Sektion einlädt.
Sie nimmt kaum wahr, wie er sanft seine Hand auf ihre Taille legt, als er sie durch die Tür dirigiert, oder vielleicht bemerkt sie es doch, aber sie ist im Rausch, tapst wie
beschwipst durch den Flur, wüsste gar nicht wohin, wenn Bork sie nicht mit kleinen, sanften Berührungen durch dieses wunderbare Chaos leiten würde. Die meisten Türen stehen offen, überall freundliche Menschen, die mit interessanten Aufgaben beschäftigt sind; einige von ihnen kennt sie zumindest flüchtig aus ihrem Vorleben – vor
der Isolation und Geheimhaltung: Marta Globig, die auch einmal bei der OMS
angestellt war, aber nur bis kurz vor Charlottes Ankunft; Elsa Noffke, ihr Mann war der Nachfolger Alexander Emels als Leiter der Abteilung Propaganda der KPD
; natürlich kennt sie Julius Gebhard, Hildes Mann, der ihnen mit einem Klodeckel unterm Arm auf dem Flur begegnet. Lachend erklärt er Charlotte, dass der private Klodeckel seinen Protest gegen den Zustand der Toiletten im Verlag zum Ausdruck bringe. Zu ihrer Überraschung ist auch Alice Rund hier, die sie aus ihrer Zeit bei der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin kennt. Was macht Alice in der Verlagsgenossenschaft?
Manche kennt sie nur dem Namen nach: Johann Biefang, Autor der bekannten Broschüre Ruhrkumpel in Sowjetschächten
, ist ein kleiner Mann mit lustigem rheinländischen Dialekt. Auch der Name Kurt Sauerland ist ihr bekannt, wenngleich Charlotte gerade kein Werk mit ihm verbinden kann. Der dazugehörige Mensch erweist sich als behäbiger Bär; gedankenversunken erhebt er sich von seinem Schreibtisch, verbeugt sich artig, kleine Augen hinter zwei runden Vergrößerungsgläsern. Charlotte ist sicher, dass er ihren Namen im selben Augenblick wieder vergisst. Aber so geht es auch ihr mit vielen der ihr vorgestellten Personen, es geht alles zu schnell, es ist alles zu viel, ihr ist schwindlig vor Glück, sie fühlt sich von Wärme durchströmt, benebelt von der ernsten, arbeitsamen Atmosphäre, vom Zigarettenrauch, vom
Geruch der frischgedruckten Bücher, die in sauberen Stapeln auf Schreibtischen oder Anrichten liegen.
Arbeitet nicht auch Ernst Ottwalt in der Sektion?
Bork greift nach ihrer Hand, schüttelt unmerklich den Kopf. Sie staunt: Kann denn Ernst Ottwalt, der Mann, der zusammen mit Bertolt Brecht den berühmten Film Kuhle Wampe
schrieb, zur Unperson geworden sein?
Zum Schluss stellt Bork ihr die Redakteurin vor, der sie zuarbeiten wird. Sie heißt Inge Karst, ist mindestens fünf Jahre jünger als Charlotte, ein wenig abgehärmt, blass, überarbeitet. Sie teilt das Zimmer mit der ebenfalls noch sehr jungen Genossin Neumann, die aber nichts mit Heinz Neumann zu tun hat, wie sie merkwürdigerweise sogleich betont.
Außerdem ist gerade ein Genosse Nowikow oder – sie versteht nicht genau – Nowitschok im Zimmer. Er sitzt zusammen mit Inge Karst an einem viel zu kleinen Tisch voller Manuskriptseiten, und Charlotte wird gebeten, sich gleich dazuzusetzen und an der Diskussion teilzunehmen. Bork verabschiedet sich augenzwinkernd.
Die Manuskriptseiten gehören zu einem russischsprachigen Text, der ins Deutsche übersetzt werden soll. Gerade geht es um das russische Wort смычка – smytschka –, das so viel wie Zusammenfügung
oder Zusammenschluss
bedeutet, jedoch im aktuellen politischen Sprachgebrauch in der Sowjetunion immer den Zusammenschluss von Proletariat und Bauernschaft
meint, was der deutsche Leser kaum verstehen dürfte. Heißt das, man muss dem Wort Zusammenschluss
hinzufügen: von Proletariat und Bauernschaft?
Der Genosse Nowikow oder Nowitschok ist der Meinung, man dürfe das Original nicht verändern, die Genossin Karst hält dagegen: Übersetzen heiße, den Text dem deutschen Leser verständlich machen.
Ja, aber man dürfe dem Leser nicht sein eigenes Verständnis des Textes aufzwingen, meint der Genosse Nowikow oder Nowitschok.
Schließlich einigt man sich auf das russische Wort smytschka
und beschließt, eine Redaktionsbemerkung hinzuzunehmen: Zusammenschluss von Proletariat und Bauernschaft
.
Im Übrigen handelt es sich um eine Broschüre des Parteiverlags der KP
dSU
(B), sie heißt: Die rechten Spießgesellen der trotzkistischen Bande.
Der Genosse Nowikow oder Nowitschok soll sie übersetzen.
Wer denn der Autor sei, will Charlotte wissen.
Die beiden sehen sich kurz an, bevor Inge Karst antwortet: Der Autor sei, in dem Sinne, unbekannt.
Charlotte beschließt, sich nicht durch weitere Fragen zu blamieren.
In der kommenden Woche hat sie die Gelegenheit, die Broschüre, von der nur ein russisches Originalmanuskript verfügbar ist, zu lesen. Der in dem Sinne unbekannte Autor
beweist in dem kleinen Werk ausführlich, dass die rechten Abweichler Rykow (einstmals Vorsitzender des Rates der Volkskommissare), Tomski (einstmals Vorsitzender des Allrussischen Zentralrates der Gewerkschaften) und Bucharin (einstmals Liebling der Partei und, nach Lenin, ihr «wertvollster Theoretiker») schon immer rechte Abweichler waren, dass sie von jeher gegen die Lehren Lenins auftraten, sich gegen eine zügige Industrialisierung und gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft wandten, die Unmöglichkeit des Sozialismus in einem einzelnen Land beschworen, bevor
sie schließlich unter dem Deckmantel verlogener Reueerklärungen die verfluchte Waffe des niederträchtigsten Doppelzünglertums immer mehr schliffen und gemeinsam mit den trotzkistischen Banditen ihre gemeinsten Verbrechen gegen die Partei, gegen unsere Heimat begingen.
Ist das nicht irgendwie doppelt: dass sie die verfluchte Waffe des niederträchtigsten Doppelzünglertums
nicht einfach nur schliffen
, sondern dies auch noch taten unter dem Deckmantel verlogener Reueerklärungen?
Aber nein, das ist nicht ihre Sache. Übersetzen heißt, den Text dem deutschen Leser verständlich machen, hat Inge Karst gesagt. Und der Genosse Nowikow oder Nowitschok: Man dürfe dem Leser nicht sein eigenes Verständnis vom Text aufzwingen. Recht haben sie – beide.
Charlotte lernt einiges über Transkription und Absatzformate, Druckbögen und Grammatik. Sie verbessert ihre Fähigkeiten im Maschineschreiben auf russischer Tastatur, weil sie ein zweites Exemplar des Manuskripts herzustellen hat. Sie befördert die Rohrpost, wenn die Anlage wieder mal klemmt. Sie, die Zweiundvierzigjährige, ist sich nicht zu fein, für die beiden Jüngeren Tee zu kochen. Sie wäscht freiwillig die Gläser ab, die säumige Kollegen in der Teeküche stehenlassen. Es macht ihr nicht das Geringste aus, wenn sie für die Kollegen im Nebenzimmer mal rasch ein Manuskript in die Druckerei bringen soll. Noch immer ist sie wie im Rausch. Alles hat sich zum Guten gewendet. Sie ist gerettet. Sie arbeitet bei der Verlagsgenossenschaft Ausländischer Arbeiter!
Gewiss, sie ist Volontärin, sie steht auf der niedrigsten Stufe der Verlagshierarchie. Aber irgendwann, vielleicht bald, wird sie als Übersetzerin arbeiten. Und hat Bork nicht sogar angedeutet, dass sie literarische Übersetzerin werden könnte? Sie wird arbeiten, arbeiten. Sie wird keine Fehler
machen. Um nichts in der Welt wird sie den Platz, den das Schicksal ihr zugespielt hat, wieder aufgeben. Für nichts und für niemanden.
Einmal, beim Mittagessen, schnappt sie auf, wie jemand – sie bekommt nicht einmal mit, wer – den Namen Alichanow sagt. Einfach nur den Namen, ohne Kommentar. Sie weiß, so heißt der Chef der Kaderabteilung, einer der höchsten Funktionäre der Komintern. Und noch während sie dieser kryptischen Mitteilung nachhängt – klang das bitter, schwang leise Empörung mit? –, ist die Stimmung am Tisch schon wieder gekippt. Man frotzelt über den großen grünen Seidenschal von Hilda Angarowa. Man kichert darüber, wie Bork an der Essenausgabe seine Soße verkippt. Und bevor das Mittagessen vorbei ist, hat Charlotte den Vorfall vergessen.
Eine Woche später steckt Marta Globig den Kopf in die Tür und sagt: Sauerland. Nur dieses Wort. Inge Karst nickt. Der Genosse Nowikow oder Nowitschok nickt. Meint sie Kurt Sauerland? Den behäbigen Bär mit der Brille, der ihr noch vor wenigen Tagen so artig seine große Pfote gegeben hat? Sie entscheidet sich, nicht nachzufragen.
In der dritten Woche lässt Bork sie in sein Büro rufen und bittet sie, die Bibliothek in seinem Zimmer auf bestimmte Namen zu prüfen und die entsprechenden Bände aus dem Regal zu holen.
Er drückt ihr eine Liste in die Hand, auf der in kleiner, sauberer Schrift mehrere Namen stehen:
Kun, Béla
Pfeiffer, Max
Rabitsch, Rudolf
Sauerland, Kurt
Bork hilft ihr auf die Bücherleiter, behutsam. Bleibt sogar neben der Leiter stehen, hält sie fest. Dirigiert Charlottes Blick zu Béla Kun, oberste Reihe links. Sie muss sich ein bisschen strecken, um heranzukommen, als sie spürt, wie Bork ihre rechte Fessel umfasst.
Keine Sorge, ich halte Sie, sagt Bork.
Sie klemmt die Liste zwischen die Lippen, packt Die Zweite Internationale in der Auflösung
auf ihren Unterarm. Versucht, Borks Hand an ihrer Fessel zu ignorieren. Aber während sie Die brennendste Frage – Aktionseinheit
aus dem Regal nimmt, glaubt sie zu spüren, wie Borks Finger ein Stück weit ihre Wade hinauffahren. Bei Die Februarkämpfe in Österreich und ihre Lehren
ist er an der Kniekehle angelangt. Charlotte hört auf zu stapeln, die Liste fällt ihr aus dem Mund.
Das geht nicht, Genosse Bork.
Mit zitternder Stimme.
Bork lässt sofort ab, entschuldigt sich übertrieben. Er habe sich für einen Augenblick vergessen, angesichts einer, wie er es ausdrückt, so perfekten Anatomie
.
Darf ich Ihnen die Bücher abnehmen?
Charlotte reicht ihm die Béla-Kun-Bände. Beim Rest des Alphabets kommt es zu keinen Zwischenfällen mehr. Die aussortierten Bände trägt sie zusammen mit Borks Sekretärin in einen Kellerraum, in dem schon andere Bücher liegen:
Alles Altpapier, sagt die Sekretärin.
Natürlich erzählt sie niemandem von dem Vorfall, schon gar nicht Wilhelm. Ihm geht es nicht gut. Als Ende April die Nachricht über ihre Einstellung bei der VEGAAR
kam, war er für kurze Zeit in Hochstimmung, mit Mühe konnte
Charlotte ihn davon abhalten, auf ihre neue Arbeitsstelle anzustoßen, bevor der Vertrag unterschrieben war, in solchen Sachen ist sie abergläubisch.
Selbstverständlich hat Wilhelm erwartet, dass auch er nun bald entlastet wird, zumal er Emel inzwischen offenbar ganz als ihren
Bekannten ansieht. Bei aller Freude scheint er doch ein wenig gekränkt, dass man Charlottes Fall zuerst bearbeitet hat. Und dann vergeht eine Woche und noch eine und eine dritte ohne eine weitere Nachricht von der Komintern.
Sie versucht, ihn aufzumuntern. Sie bringt ihm Bücher mit: etwas von Egon Erwin Kisch und Maxim Gorki. Sie bekommt neuerdings Mitarbeiter-Rabatt. Es spielt keine Rolle, dass Bücher in der Sowjetunion ohnehin spottbillig sind, es ist einfach schön, Mitarbeiter-Rabatt
zu bekommen. Wilhelm liest die Bücher sogar, zumindest Kischs Reportagen China geheim
und Asien gründlich verändert
, seine Stimmung verbessert sich dadurch aber nicht, sondern wird, im Gegenteil, mit jedem Tag schlechter. Jeden Tag wächst seine Ungeduld. Er klagt, dass er sich kaum noch konzentrieren könne. Ständig rätselt er über die Gründe der Verzögerung, stellt immer dieselben Fragen, auf die Charlotte keine Antworten weiß.
Sie führt die Besuche im Restaurant Praga wieder ein, jeweils am Tag vor dem freien Tag. Sie ist gut zu ihm
. Wegen Provosts Anwesenheit im Nebenzimmer gehen sie etwas früher als üblich ins Restaurant, damit das Radioprogramm noch läuft, wenn sie wiederkommen. Dann tun sie es im Schutze der jeweiligen Sendung. Manchmal läuft Musik, manchmal senden sie Nachrichten oder die Weltpresseschau, einmal hört man sogar die Stimme Stalins. Seltsamerweise steigert diese Art der Heimlichkeit ihre Erregung, und nach dem seltsamen Vorfall mit Bork blitzen sogar hin und wieder kleine, abwegige Phantasien auf, die irgendwie davon
handeln, wie sie sich von den Fesseln her aufwärts erobern lässt. Natürlich würde sie nicht wagen, so etwas auszusprechen, dennoch befeuert es ihre Gefühle. Wohingegen Wilhelms Bedürfnisse immer mehr nachzulassen scheinen.
Hin und wieder speist Charlotte zusammen mit Alice Rund in der stolowaja
des Verlages, und man kommt rasch überein, sich einmal außerhalb der Arbeit zu treffen. Da sie nicht will, dass Provost ihr Treffen mithört, verabreden sie sich bei Alice zu Hause. Charlotte hofft, Wilhelm dadurch etwas Ablenkung zu verschaffen, auch wenn er sich zunächst sträubt. Aber sie lässt keine Ausrede gelten. Lange genug haben sie im Hotelzimmer herumgesessen und Kontakte gemieden, sie besteht darauf, endlich wieder unter Menschen zu gehen. Jetzt, wo sie sich nicht mehr als Unpersonen fühlen müssen.
Du
musst dich nicht mehr so fühlen, nörgelt Wilhelm. Gibt sich aber geschlagen.
Alice heißt nicht nur Rund, sie ist auch rund, eine hübsche Dicke, die schon schnauft, wenn sie eine Treppe zu Fuß gehen muss. Sie ist ein wenig älter als Charlotte, aber irgendwie vertut sich der Altersunterschied in ihren Pölsterchen. Eigentlich kennen sie sich nicht besonders gut. In der Handelsvertretung war Charlotte Korrespondentin
, wie es hochtrabend hieß, während Alice in der Abteilung tätig war, wo Arbeitsstellen in der Sowjetunion vermittelt wurden. Aber beide wohnten sie in Berlin-Britz. So kam es, dass sie hin und wieder auf dem Heimweg plauderten.
Bei Alice zu Hause war Charlotte nur ein einziges Mal, den Anlass hat sie vergessen, aber sie weiß noch, dass sie staunte, als ein Dienstmädchen mit Häubchen und weißer Schürze ihnen die Wohnungstür öffnete und ihre Mäntel entgegennahm. Die Wohnung war so groß, dass man sich darin verlaufen konnte, und sie stand voller Stilmöbel und teurer Vasen.
Es stellte sich heraus, dass Alices Vater eine kleine Fabrik besaß, wo irgendwelche Zahnarztgeräte hergestellt wurden. Die Tochter eines Kapitalisten, aber Mitglied der Kommunistischen Partei. Es hatte Charlotte ermutigt, dass es Parteimitglieder gab, deren Herkunft noch unreiner war als ihre eigene.
An Alices Berliner Wohnung muss sie denken, als sie nun die Treppe im Seitenflügel eines schäbigen Moskauer Mietshauses hochsteigen. Das Haus stammt schon aus sowjetischer Zeit, hier und da scheint noch etwas nicht ganz fertig, trotzdem beginnt es schon zu verfallen. Die Haustür klemmt, es fehlt eine Glasscheibe.
In der Wohnung riecht es nach Petroleum und irgendwas. Der Flur ist lang und dunkel. Eine Frau steht in der Gemeinschaftsküche und kocht Kohl (das ist, wonach es riecht). Charlotte grüßt sie im Vorbeigehen. Die Frau grüßt nicht zurück.
Alices Zimmer ist nicht klein, aber auch nicht groß. Auch hier hat sie es geschafft, ein paar antike Möbel aufzutreiben. Ein hübscher kleiner Schreibtisch steht am Fenster, Empire oder Biedermeier, Charlotte kennt sich da nicht aus. Die Schlafecke ist durch einen Vorhang abgeteilt. An der Wand hängen Reproduktionen avangardistischer Gemälde.
Es stellt sich heraus, dass Alice zusammen mit Ludwig hier wohnt, einem breitschultrigen, kompakten Mann mit eisernem Händedruck, der – ein in der Sowjetunion üblicher Zahnersatz – mehrere Edelstahlzähne im Frontbereich trägt. Nicht nur sein Händedruck ist eisern, sondern auch sein Lächeln. Aber sein Dialekt ist weich, er spricht mit gedämpfter Stimme, was besonders deswegen auffällt, weil es aus dem Nachbarzimmer gerade ziemlich schrill herüberschallt. Irgendein Streit ist im Gange (es geht um Geld, soweit
Charlotte versteht), dazu plärrt ein Kind. Im Hintergrund läuft das Radio.
Die Kroschkins, entschuldigt sich Alice. Eine fünfköpfige Familie, die in einem einzigen Zimmer wohnt, einfache Leute aus Kuban. Ihr wisst ja, wie es ist: Alle wollen nach Moskau.
Und Ludwig ergänzt: Neulich haben sie uns angezeigt, weil wir angeblich deutsches Radio hören. Dabei hatten wir bloß Besuch, der hat die ganze Zeit laut deklamiert …
Er lacht. Charlotte versucht ebenfalls, es lustig zu finden, aber in Wirklichkeit fühlt sie sich vom ersten Augenblick an unbehaglich, von der unsichtbaren Nachbarschaft bedrängt. Daran kann auch das köstliche Gebäck nichts ändern, das Alice zum Tee serviert: Von Jelissejew
, erklärt sie, dem berühmten Feinkostladen (der allerdings schon lange in Gastronom Nr. 1
umbenannt worden ist).
Zum Glück scheint Wilhelm an Ludwig Gefallen zu finden, weil sich herausstellt, dass er nicht nur aussieht, als wäre er aus Metall, sondern tatsächlich Metallarbeiter ist. Alice hat ihm seinerzeit eine Arbeitsstelle in der Sowjetunion verschafft, daher kennen sie sich wohl auch.
Wilhelm beginnt, Ludwig über seine Erfahrungen in der sozialistischen Produktion auszufragen, halb wohl auch, um zu prüfen, ob eine Arbeit in einer sowjetischen Fabrik für ihn in Frage käme. Das Gespräch beginnt harmlos, aber je tiefer Ludwig, von Wilhelms Fragen und Einwänden getrieben, in die Materie eindringt, desto problematischer wird es. Es geht um die äußerst wichtige Produktion von Kugellagern, für die man teure amerikanische Maschinen geordert hat, die aber nicht zum Einsatz kommen, weil die Deckenkonstruktion der Fabrik nicht ausreicht, wodurch es bereits zu einem schweren Unfall gekommen ist – woraufhin man den
Direktor verhaftet hat, obwohl gerade der vor der zu schwachen Deckenkonstruktion gewarnt hatte.
So bohrt sich das Gespräch in immer verfänglichere Bereiche. Wilhelms Stimmung verfinstert sich zusehends, ihm gehen die Argumente aus. Alice nestelt an ihrer Strickjacke herum, versucht mehrmals, das Thema zu wechseln. Schließlich, als zu allem Überfluss noch jemand im Nebenzimmer anfängt zu singen (unklar, ob zur Radiomusik oder gegen sie an), schlägt Charlotte vor, noch einen kleinen Spaziergang zu unternehmen.
Sie gehen einmal um eine große Baustelle herum, die Gespräche flachen ab, man macht kleine Scherze, wie um die Eindrücke der letzten Stunde zu verwischen, und verabschiedet sich freundlich. Aber Charlotte ist klar, dass dies der erste und letzte Besuch bei Alice Rund gewesen ist.
Sie unternimmt noch einen Versuch mit Julius Gebhard. Er war ihr immer schon sympathisch, ein kluger, witziger Mensch. Vielleicht ist sie ihm insgeheim auch dankbar, dass er die von Wilhelm verlassene Hilde sozusagen übernommen hat. Aber als sie vorschlägt, sich doch einmal zu treffen, und insbesondere, als sie hinzufügt, dass Hilde kürzlich bereits ihr Einverständnis gegeben habe, wirkt Julius verblüfft. Hilde habe derartig viel um die Ohren seit dem Wechsel …
Charlotte ist ihrerseits verblüfft: Was für ein Wechsel?
Ach, entschuldige, ich dachte, du wüsstest … Julius’ Gesicht nimmt einen erschrockenen Ausdruck an.
Nein, sie weiß nichts. Und sie will auch nichts wissen. Sie will niemanden mehr besuchen, vielleicht ist es wirklich das Beste. Sie will nichts zu tun haben mit irgendwelchen Problemen. Sie will mit nichts zu tun haben. Sie will arbeiten, nichts weiter. Nicht noch einmal vom Dienst suspendiert werden.
Nicht noch einmal die Hölle des Wartens. Dann lieber Manuskripte abtippen und Tee kochen ein Leben lang.
Aber dann wird Inge Karst zur Parteileitung beordert. Ihr ist kaum etwas anzumerken, als sie zurückkommt, sie macht ihre Arbeit weiter, ist scharfzüngig und penibel, behandelt Charlotte höflich und distanziert und führt zähe Diskussionen mit Nowikow (nicht Nowitschok). Sie raucht viel, ist bleich wie immer. Nur, dass ihr Gesicht plötzlich einen seltsamen, wächsernen Glanz bekommen hat. Charlotte braucht eine Weile, bis sie begreift, woher sie das kennt: von ihrem Vater. Auch er hatte diesen wächsernen Glanz im Gesicht – als er tot war.
Wenige Tage später wird Inge in Borks Büro gerufen. Als sie dieses Mal zurückkehrt, macht sie keinerlei Anstalten, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Stumm zündet sie sich eine Zigarette an, lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und schaut aus dem Fenster. Loni Neumann zündet sich ebenfalls eine Zigarette an. Nowikow entschuldigt sich und verlässt den Raum.
Eine Weile schweigen die Frauen, Charlotte getraut sich nicht, mit der Schreibmaschine zu klappern. Dann klingelt das Telefon, Loni nimmt ab und teilt Charlotte mit, dass Bork sie, Charlotte, in sein Büro bittet.
Sie hat Bork seit dem Leiter-Zwischenfall nur hin und wieder im Vorbeigehen gesehen. Er schien kaum noch Notiz von ihr zu nehmen, und Charlotte war nicht sicher, ob sie das als gutes oder schlechtes Zeichen werten solle. Nun empfängt er sie auffällig wortkarg, ja beinahe streng, sodass ihr angst und bange wird, obgleich ihr beim besten Willen nicht einfällt, was er ihr vorwerfen könnte.
Er erkundigt sich nach ihrem Befinden, fragt sogar nach Wilhelm, über den sie widerstrebend Auskunft gibt. Er will
wissen, wie sie mit ihrer Arbeit zurechtkommt, und erklärt ihr dann übergangslos, er schlage vor, dass sie die Fertigstellung der Rechten Spießgesellen
als verantwortliche Redakteurin übernehme, da die Genossin Karst, wie er es ausdrückt, ausfällt
.
Erscheinungstermin sei der 26. Juli, was bedeute, dass die Broschüre spätestens am – er blättert in seinem Kalender – 17. Juli in den Satz gehen muss. Noch Fragen?
Aber was ist denn mit der Genossin Karst?, rutscht es ihr heraus.
Bork überlegt einen Augenblick, bevor er mitteilt: Die Genossin Karst werde aus der Partei ausgeschlossen, weil sie biographische Angaben zu ihren Angehörigen beschönigt habe. Natürlich sei mit der Beförderung eine Gehaltserhöhung verbunden.
Mit welcher Beförderung?
Mit deiner
Beförderung, Genossin Germaine.
Sie tappt zurück Richtung Zimmer, aber auf halber Strecke biegt sie zur Toilette ab. Vollkommen unmöglich, Inge Karst vor die Augen zu treten, von deren Unglück sie gerade profitiert. Sie sucht sich die sauberste Kabine aus, setzt sich auf den geschlossenen Klodeckel. Es riecht schlecht, der Spülkasten rauscht, der Fußboden ist mit der Farbe bekleckert, mit der die Türen gestrichen worden sind. Ist sie eben zur Redakteurin befördert worden? Sie horcht in sich hinein, wo bleibt die Freude, der Jubelschrei? Stattdessen hallt in ihrem Kopf dieser dumme Satz nach … biographische Angaben zu ihren Angehörigen beschönigt
…
Charlotte muss an ihren eigenen Lebenslauf denken, und zwar komischerweise an ein völlig nebensächliches Detail, genauer gesagt, an ein Wort, nämlich an das Wort Königlich
. Das sie durch Staatlich
ersetzt hat. Es klang einfach nicht gut:
Vater Revisor der Königlichen
Porzellanmanufaktur. Aber war die Porzellanmanufaktur etwa nicht staatlich?
Nein, niemand wird sie deswegen aus der Partei ausschließen. Das wäre absurd! Falls es je einer bemerkt. Obwohl sie nicht sicher ist: Hat sie in ihrem Lebenslauf für den Parteieintritt schon dasselbe geschrieben? Und in all den Formularen, die sie für irgendwelche Überprüfungskommissionen ausfüllen musste?
Als sie ins Zimmer zurückkommt, packt Inge schon ihre Sachen. Charlotte weiß nicht recht, was sie ihr sagen soll, aber offenbar weiß Inge Bescheid. Ohne Umstände übergibt sie ihr die Arbeitsunterlagen, Manuskript und Übersetzung, soweit fertig. Das Blatt mit den Produktionsdetails: Art der Bindung, Anzahl der Bogen und Zeichen, Zahlen und Fachbegriffe, die Charlotte nicht alle versteht.
Impressum auf der letzten Seite unten, sagt Inge. Ich wünsche dir viel Erfolg.
Was wirst du jetzt machen?, fragt Loni Neumann.
Inge zuckt mit den Schultern. Sie umarmt Loni, gibt Charlotte die Hand. Entschließt sich dann doch zu einer Umarmung.
Pass auf dich auf, sagt sie.
Dann greift sie ihre Tasche und zieht los. Loni Neumann hat Tränen in den Augen. Es ist sehr still. Nur der Wind säuselt leise in den Fensterritzen.
Wilhelm versucht, Freude über ihre Beförderung zu zeigen, aber es fällt ihm sichtlich schwer. Natürlich hat sie nun noch mehr zu tun als vorher. Sie ackert täglich bis zum Abend und manchmal bis in die Nacht, und wenn sie morgens um halb
acht erwacht, kann sie es kaum erwarten, in den Verlag zu gehen, weil ihr schon wieder so viele Dinge durch den Kopf gehen. Sie muss sich regelrecht Mühe geben, nicht immer die Erste zu sein – während Wilhelm nicht weiß, wie er die Zeit herumkriegen soll. Zwar geht er noch immer täglich in die Bibliothek und liest die Deutsche Zentralzeitung
, aber seine Besuche scheinen immer kürzer zu werden; er berichtet immer weniger von neuen Erfolgen. Stattdessen sieht sie ihn eines Tages, als sie zur Druckerei unterwegs ist, auf einer Bank sitzen und Tauben füttern. Sie tut so, als würde sie ihn nicht bemerken.
Er will weder ins Kino noch ins Theater, weil er, auch wenn er es nicht zugibt, zu wenig versteht. Aber als Charlotte ihm vorschlägt, einen Russischkurs zu besuchen, auch um mal unter Leuten zu sein, redet er sich damit heraus, dass er, solange er nicht aus der OMS
entlassen ist, dafür die Zustimmung der Leitung benötigen würde. Aber könnte er, aufgrund der neuen Situation, nicht einfach mal bei Hilde anrufen und fragen?
Natürlich versteht Charlotte, dass er leidet. Zugleich beginnt ihr seine Untätigkeit auf die Nerven zu gehen. Die Stunden, die sie mit ihm verbringt, werden immer quälender. Er ist kaum aus dem Zimmer zu bekommen, in das nie ein Sonnenstrahl fällt und das, je heller der Himmel draußen wird, nur immer höhlenartiger zu werden scheint. Andererseits kann sie ihn auch nicht allein hier sitzen lassen, da sie ohnehin die meiste Zeit nicht zu Hause ist. Also verbringt sie den Feierabend in der Höhle und hört sich Wilhelms Wehklagen an. Und als sie es am freien Tag endlich einmal schafft, ihn zu einem Spaziergang zu überreden, schleicht er wie ein Schatten neben ihr her, und alles, was er sieht, scheint ihm Schmerzen zu verursachen. Der Kopf tut ihm weh von der
Sonne. Der Wind stört ihn plötzlich. Auf dem Roten Platz bleibt er alle naselang stehen, weil er Sand in den Augen hat.
Als Charlotte an einem hellen Juniabend nach Hause kommt, liegt Wilhelm wie tot auf dem Bett. Sie vermutet Magenschmerzen und schlägt vor, einen Tee zu kochen, aber Wilhelm schüttelt kaum merklich den Kopf: keine Magenschmerzen.
Sondern, was ist es dieses Mal?
Sie haben Abramow-Mirow verhaftet.
Seine Stimme klingt dünn und brüchig, wie aus einem Telefonapparat, wie aus einer fernen, vergangenen Welt. Abramow-Mirow, ja, sie erinnert sich. Aber was soll sie jetzt damit anfangen?
Plötzlich hat sie Lust, ihn anzuschreien: Warum erzählst du mir das?
Stumm wendet sie sich ab und macht sich daran, etwas zum Abendessen zu bereiten, obwohl sie schon weiß, dass Wilhelm nichts essen wird. Es ist ihr gleichgültig. Sie hat Hunger, sie will essen. Sie klappt das kleine Schweizer Messer auf und beginnt, Brot abzusäbeln. Abzumurksen. Sie ärgert sich: Wieso gibt es hier noch immer kein vernünftiges Messer? Und woher weiß er es überhaupt? Hat er mit Hilde telefoniert? Oder gibt es irgendwelche anderen Kanäle?
Wilhelms Geheimnisse, sie will gar nichts davon wissen. Sie hat es nie wissen wollen, und darum möchte sie auch jetzt bitte davon verschont bleiben. Bitte.
Und wenn etwas gegen ihn vorliegt? Plötzlich ist dieser Gedanke da. Charlotte hält inne. Was weiß sie denn von Wilhelm? Von seinen Aktionen und Tätigkeiten. Hamburg. Der Koffer mit den Dollarscheinen. Der Revolver. Was tut man mit einem Revolver? Im Auftrag von … Abramow-Mirow.
Dauert seine Angelegenheit deswegen so lange? Und auch das schießt ihr durch den Kopf: dass sie, im Grunde genommen, nicht verheiratet sind, nicht standesamtlich. Aber würde das helfen?
Sie stellt Brot, Butter und Wurst auf den Tisch. Dazu die eingelegten Tomaten, die es heute in der stolowaja
gab.
Guten Appetit.
Ich hab keinen Hunger, sagt Wilhelm.
Allerdings ist auch ihr der Appetit vergangen.
Mitte Juni findet die große Parteiversammlung statt. Charlotte hat schon eine kleinere erlebt, aber dieses Mal kommt der ganze Verlag zusammen, dreihundert Leute, man muss einen Saal dafür mieten. Es sieht aus wie beim Parteitag. Ein riesiges Stalin-Porträt hinter der Bühne, mit Blumen davor. Ein in roten Fahnenstoff gehülltes Rednerpult, an dem eine Genossin von der Parteileitung die Eröffnungsrede hält.
Die Genossin heißt Dzierżyńskaja. Es ist die Witwe des berühmten Geheimdienstmannes und Gründers der Tscheka, eine nicht mehr ganz junge, hausmütterlich wirkende Frau. Sie trägt eine altmodische Bluse, ein breites helles Tuch um Hals und Schultern. Auch ihr Tonfall ist der eine Mutter – einer Mutter, die ihre Kinder schilt, weil sie schon zum wiederholten Male dasselbe ausgefressen haben. Hat uns der Genosse Stalin nicht gemahnt? Hat nicht das Zentralkomitee schon anlässlich der ruchlosen Ermordung des Genossen Kirow vor politischer Gutmütigkeit und spießerhafter Duselei gewarnt? Waren wir nicht aufgefordert, unsere Wachsamkeit angesichts des sich verschärfenden Klassenkampfes weiter zu erhöhen? Wieso, fragt die Genossin Dzierżyńskaja,
gelingt es uns trotzdem nicht, die Volksfeinde in unseren Reihen rechtzeitig zu erkennen? Wie kann es sein, dass sie weiter mitten unter uns weilen, dass sie Parteimitglieder sind, dass sie auf verantwortungsvollen Posten sitzen und ihr schmarotzerhaftes Leben auf Kosten der arbeitenden Klasse führen? Wie kann es sein, dass es des NKWD
bedarf, um solche Verräter zu entlarven?
Die Genossin Dzierżyńskaja schlägt vor, Sondermaßnahmen zu erarbeiten, besondere Arbeitsmethoden, um den Verlag vor der Unterwanderung durch feindliche Agenten und vor der Gefahr der Doppelzüngelei zu schützen. Sie schlägt vor, dass sich jeder Genosse schriftlich verpflichte, noch besser auf seine Umgebung zu achten sowie die Parteiorganisation über jeglichen Verdacht zu informieren. Keine falsche Loyalität! Keine Rücksichtnahme aus alter Freundschaft! Macht eure Augen auf! Hört hin! Tut Kleinigkeiten nicht als Kleinigkeiten ab. Achtet auf die Wortwahl. Wer spricht abfällig über einen verdienten Genossen. Wer schweigt, wenn man reden müsste. Wer verhält sich zögerlich, wenn es darum geht, einen Verräter zu entlarven und zu verurteilen. Wer zeigt unzureichend Bereitschaft zur Selbstkritik.
Die Genossin Dzierżyńskaja schlägt außerdem vor, die folgenden Genossen nachträglich aus der Partei auszuschließen: Valentina Adler, Kurt Sauerland, Heinz Neumann, Erich Tacke (den Charlotte nicht kennt) und einen Japaner (dessen Namen sie nicht richtig versteht). Außerdem schlägt die Genossin Dshershinskaja vor, Inge Karst aus der Partei auszuschließen und zur Bewährung in die Produktion zu schicken.
Charlotte stimmt allem zu. Ohne zu zögern, ohne die Miene zu verziehen. Der Beschluss wird einstimmig angenommen. Es ertönt Beifall.
Spontan tritt der Genosse Brückmann von der Kaderleitung ans Rednerpult und schlägt vor, dem Volkskommissar für Innere Angelegenheiten, Genosse Jeshow, einen kollektiven Dank auszusprechen für die Mithilfe beim Auffinden der Todfeinde, Trotzkisten und Spione in unseren Reihen
.
Der Beschluss wird einstimmig angenommen. Beifall ertönt.
Nun tritt der Direktor vor, bedächtig, zerstreut, wie sie ihn in seinem Büro erlebt hat. Er braucht lange, um seine Papiere zu ordnen, seine Brille zurechtzurücken. Dann endlich räuspert er sich und fängt zu sprechen an. Kreps spricht leise, trotzdem ist jedes Wort zu verstehen, denn es ist plötzlich sehr still geworden im Saal. Er dankt der Genossin Dzierżyńskaja für ihren lehrreichen Beitrag. Charlotte erwartet, dass er als Direktor nun endlich zu den inhaltlichen Fragen der Verlagsarbeit kommen wird. Aber stattdessen beginnt Kreps, von Fehlern zu sprechen. Von seinen eigenen Fehlern: Michail Kreps übt Selbstkritik. Ein geschrumpfter Mensch in einem zerknitterten Anzug, der seine Schuld vor der Partei und jedem Mitarbeiter bekennt.
Er habe, sagt Kreps, den Warnungen des Zentralkomitees und besonders des Genossen Stalin nicht genügend Beachtung geschenkt. Er empfinde es als sein persönliches Versagen, dass in der Verlagsgenossenschaft unter seiner Direktion feindliche Elemente arbeiten und publizieren konnten. Er danke persönlich dem Genossen Brückmann für seinen großen Anteil bei der Aufklärung dieser Fälle. Er danke dem Genossen Jeshow und den Genossen vom NKWD
für ihre hervorragende Arbeit. Aber vor allem danke er dem Genossen Stalin: dessen Weitsicht und Unnachgiebigkeit uns vor den heimtückischen Angriffen des Klassenfeindes bewahren
.
Die Genossin Dzierżyńskaja klatscht, als der Genosse
Stalin erwähnt wird, und alle tun es ihr nach, auch Charlotte; allerdings fällt der Beifall verhalten aus. Es handelt sich schließlich um eine Selbstkritik; man will nicht die Fehler des Direktors beklatschen.
Man könnte einwenden, setzt Kreps seine Rede fort, dass er als Direktor nicht jeden einzelnen Genossen selbst prüfen könne – natürlich sei er auf Hilfen und Initiativen der Kaderleitung der Komintern und des Exekutivkomitees angewiesen. Ebenso rechne er mit der Unterstützung der Revisionskommission und überhaupt, wie die Genossin Dzierżyńskaja richtig ausgeführt habe, mit der aktiven Mitarbeit aller Beschäftigten des Verlags. Auch wolle er ausdrücklich darauf hinweisen, dass es für viele der inzwischen als feindlich entlarvten Publikationen seinerzeit Zustimmung oder sogar ausdrücklichen Beistand vonseiten der Parteileitung gegeben habe.
Ein leises Raunen geht durch den Saal.
Aber es gehe hier und heute nicht darum, seine Schuld zu mindern oder auf andere abzuschieben, ergänzt Kreps, sondern vor allem um seine eigenen Fehler.
Dann sprich davon, Genosse!, ruft jemand aus dem Saal.
Kreps blickt sich irritiert um. Er greift zum Wasserglas, trinkt, räuspert sich zum wiederholten Male und setzt seine Rede fort. Sein Blick klebt am Redemanuskript. Nur selten sieht er auf, um den Mitarbeitern sein schwitzendes, vor Anspannung zuckendes Gesicht zu zeigen.
Nun geht es um konkrete Publikationen, es fallen Namen, darunter der Name Ernst Ottwald, aber zu Charlottes Überraschung auch Alexander Emel: Kreps entschuldigt sich dafür, dass er einen überführten und verurteilten Volksfeind vor vier Jahren zur Mitarbeit zu verpflichten versucht habe – zu der es dann glücklicherweise nicht gekommen sei.
Wesentlich länger redet er über den Fall Radek, der, wie Charlotte erfährt, darin besteht, dass Karl Radeks Übersetzung der sogenannten Stalin’schen Verfassung
im letzten Jahr in der Verlagsgenossenschaft erschienen ist, obwohl eine alternative Übersetzung der Genossen der deutschen Sektion der Komintern vorlag. Er gestehe, sagt Kreps, dass er persönlich die Radek’sche Übersetzung aus rein subjektivistischen Gründen vorgezogen habe. Er habe sich vom äußerlichen Glanz und von der formalen Detailtreue blenden lassen, ohne hinter dieser Fassade den feindlichen Charakter der Übersetzung zu erkennen.
Aber wie erkennt man den feindlichen Charakter
einer Übersetzung, fragt sich Charlotte, während Kreps sich zum wiederholten Mal bei den Genossen der deutschen Sektion, bei den Mitarbeitern des Verlages und beim deutschsprachigen Leser für sein Vergehen entschuldigt. Und was heißt äußerlich glanzvoll
? Betrifft das den Stil, die Sprache? Ist sie selbst, Charlotte, in ihrem eifrigen Bemühen um stilistische und sprachliche Eleganz möglicherweise dabei, eine äußerlich glanzvolle
Übersetzung zu produzieren? Hat der Genosse Nowikow vielleicht recht, wenn er immer wieder für die weniger elegante, aber formal detailgetreue
Formulierung plädiert? Was einen, den Worten des Direktors zufolge, aber auch nicht davor schützt, eine feindliche Übersetzung herzustellen. Und wenn Charlotte bisher davon ausgegangen ist, dass eigentlich nur Autoren in irgendeiner Form der Feindlichkeit verdächtigt werden können, wird ihr, während Kreps irgendwelche Lehren aus seinem Fehlverhalten zieht, auf entsetzliche Weise bewusst, dass auch Übersetzer keineswegs vor der Verdammnis gefeit sind, egal ob sie formal detailgetreue
oder äußerlich glanzvolle
Texte abliefern.
Endlich, nachdem er sich noch einmal bei den
Mitarbeitern, bei der Partei und beim Genossen Stalin entschuldigt und versprochen hat, seine revolutionäre Wachsamkeit um hundert Prozent
zu erhöhen, tritt der Direktor ab, geräuschlos, klein und zerknittert. Und Bork tritt ans Rednerpult.
Nein, er tritt nicht, er springt. Bork federt vor lauter Spannkraft. Auch er bedankt sich kurz bei der Genossin Dzierżyńskaja und sogar beim Genossen Kreps, geht dann aber ohne weiteres zu inhaltlichen Themen über. Er skizziert die Veröffentlichungen der deutschen Sektion im ersten Halbjahr. Er berichtet über die Zusammenarbeit mit deutschsprachigen Verlagen im Ausland, über Vertriebswege, Export und Lizenzen. Er kritisiert Defizite bei der Herstellung antifaschistischer Propagandaliteratur, regt eine Serie dokumentarischer Berichtsformen über den Alltag der sozialistischen Produktion in der Sowjetunion an, schlägt die Bildung einer Arbeitsgruppe vor, die aktuelle Kernfragen des Marxismus in populärwissenschaftlicher Form behandeln soll. Schon mit den ersten Worten hat er die beklemmende Stimmung weggewischt. Ein Aufatmen geht durch den Saal.
Bork spricht frei, er orientiert sich lediglich an einem Kärtchen mit Stichpunkten. Seine blauen Augen blitzen. Ab und zu streicht er die blonde Haarsträhne zurück, die ihm immer wieder ins Gesicht fällt. Charlotte bewundert die Leichtigkeit, mit der er die Gedanken aus seinen Stichpunkten entwickelt, und sogar seine kleinen Denkpausen verfolgt sie mit Wohlbehagen. Zum Schluss kommt Bork überraschenderweise auf sie, auf Charlotte, zu sprechen, nämlich im Zusammenhang mit der neuen Schriftenreihe zu den wichtigsten und aktuellsten Fragen der sowjetischen Innenpolitik, deren nächstes Heft – Die rechten Spießgesellen der trotzkistischen Bande
– im nächsten Monat unter der Redaktion von
Charlotte Germaine erscheinen wird. Er lächelt sie vom Rednerpult aus an, Charlotte spürt, wie sie errötet.
Aber sosehr die Erwähnung sie ehrt, sie erhöht auch den Druck. Ohnehin ist Charlotte nervös. Die Arbeit ist zäher als erwartet, es gibt Hindernisse. Nowikow diskutiert alles bis zum Letzten und beruft sich ihr, dem Neuling, gegenüber ständig auf seine Erfahrung. Autorisierte Übersetzungen der vielen Stalin-Zitate müssen beschafft werden. In der Druckerei behandelt man sie wie eine Idiotin, weil sie den Unterschied zwischen Satzspiegel und Buchsatzspiegel nicht kennt oder die Anzahl der Zeichen pro Druckbogen nicht errechnen kann. Auch Loni Neumann behandelt sie auf einmal feindselig – als hätte sie persönlich Inge Karst angeschmiert.
Abends schläft sie schlecht ein, führt im Geiste die Diskussionen mit Nowikow weiter oder versucht, ein passendes Papierformat zu ermitteln. Nachts träumt sie von Zahlen: zweiundachtzig mal einhundertzehn, eins zu zweiunddreißig. Siebzehntausendeinhundert Exemplare sollen gedruckt werden, eine beängstigend hohe Auflage. Im Traum werden alle siebzehntausend Exemplare makuliert, weil in einem Stalin-Zitat ein Komma fehlt. Am Ende einer langen Druckmaschine steht Inge Karst, den wächsernen Glanz im Gesicht, und jammert. Charlotte erwacht, aber das Jammern ist immer noch zu hören. Es kommt von draußen, vom Hotelflur.
Es ist eine Frau. Eine Männerstimme versucht, sie zu beruhigen. Andere bellen dazwischen. Dann Stiefelgetrappel. Dann ist nur noch ein leises Winseln zu hören, das bis in den Morgen anhält.
Am nächsten Tag ist eins der beiden Zimmer der Familie Weger versiegelt. Es stellt sich heraus, dass das Politbüromitglied Jewgeni Weger verhaftet worden ist. Und von diesem Tag an sitzt seine Frau, jene junge schlanke Dame, die mit ihren Kindern Französisch spricht und an den Nachmittagen Klavier zu spielen pflegt, jede Nacht im Bojarensaal und weint. Vielleicht geht sie extra in den Bojarensaal, weil sie ihre Kinder verschonen will. Jedenfalls ist nun jede Nacht ihr Wimmern zu hören. Heulen, Jammern, manchmal einzelne Silben. Dann wieder Stille. Und Charlotte liegt mit offenen Augen im Bett und wartet darauf, dass es wieder anfängt …
Morgens geht sie unausgeschlafen zur Arbeit. Sie erleidet schon vormittags Müdigkeitsanfälle, die Augen fallen ihr zu. Dann wieder ist sie überdreht und nervös. Vergisst mitten im Gespräch mit Nowikow die nachts zurechtgelegten Argumente. Wenn sie nach Hause kommt, fällt sie in Kleidung aufs Bett und schläft zwei, drei Stunden, bis es im Bojarensaal wieder losgeht mit dem Gewimmer …
Charlotte zieht die Decke über den Kopf, wälzt sich herum, versucht, nicht hinzuhören. Manchmal spricht die Frau minutenlang mit sich selbst. Dann wieder verschleifen die Worte zu einem Winseln, wie das eines geprügelten Hundes. Wie viele Nächte kann das so gehen? Manchmal glaubt Charlotte, ein Lachen zu hören. Oder singt die Frau? Hoffentlich fängt sie nicht noch an, Klavier zu spielen … Der Erscheinungstermin rückt erbarmungslos heran, und Charlotte ist dabei, ihre große Chance zu vertun.
Aber dann passiert zweierlei:
Zuerst wird Frau Weger abgeholt. Man habe sie in die Nervenklinik gebracht, heißt es. Charlotte schämt sich für ihre Erleichterung.
Und dann bestellt Bork sie in sein Büro, um sich nach dem
Stand der Dinge zu erkundigen. Schnell stellt sich heraus, dass sie hoffnungslos im Verzug ist. Charlotte ist auf das Schlimmste gefasst, aber Bork hört sich ihre Probleme und Klagen gelassen an. Er greift zum Telefonhörer, lässt sich mit der Druckerei verbinden. Verlangt den Schichtleiter zu sprechen, über den sich Charlotte beschwert hat, und erklärt dem Mann mit fester Stimme, er erwarte von ihm, dass er die Genossin Germaine mit Rat und Tat unterstütze. Es handle sich bei der Broschüre um einen außerordentlich wichtigen Beitrag, den ein hochstehender, und zwar ein sehr
hochstehender Genosse verfasst habe. Sollte die Broschüre verspätet erscheinen oder mit Fehlern behaftet sein, werde er ihn, den Schichtleiter, persönlich dafür verantwortlich machen.
Dann erklärt er Charlotte den Unterschied zwischen Satzspiegel und Buchsatzspiegel. Gemeinsam rechnen sie die Anzahl der Zeichen pro Bogen aus (einundvierzigtausend) und legen das Papierformat und die Kartonstärke für den geprägten Umschlag fest. Kurz lässt sich Bork die wesentlichen inhaltlichen Streitpunkte zwischen ihr und Nowikow erläutern, stimmt Charlotte dann in allen Fällen zu und ermutigt sie, sich gegen Nowikow durchsetzen. Er werde ihr in jedem Fall den Rücken stärken.
Zum Schluss beauftragt er eine Archivarin des Verlags mit der Auffindung der exakten Übersetzungen der Stalin-Zitate, und Charlotte verlässt sein Büro erleichtert und befreit. Zweideutigkeiten oder Anspielungen hat es keine mehr gegeben, Borks Tonfalls war kameradschaftlich, aber distanziert.
Fast ein bisschen zu distanziert, findet Charlotte.
Die letzten Tage vor der Abgabe kommt sie noch mehrmals in sein Büro, um etwas zu erfragen oder Hilfe zu erbitten. Sie ertappt sich dabei, dass sie vorher auf der Toilette ihr Aussehen im Spiegel überprüft. Sie kleidet sich sorgfältiger als sonst. Sie beginnt wieder, Härchen an unwillkommenen Stellen auszuzupfen. Schließlich nimmt sie sogar den Lippenstift mit in den Verlag und trägt vorsichtig etwas Rot auf, aber nur wenig, fast nichts – als könnte das die Sündhaftigkeit mindern. Meist geht sie spät zu Bork, schon nach Feierabend. Gemeinsam lösen sie die letzten Probleme, wählen Schrifttyp und Umbruch für die lange Überschrift aus. Sie stellt sich einen Stuhl auf seine Seite des Schreibtischs, damit sie die Entwürfe beide aus derselben Perspektive betrachten können.
Bork hat das Jackett abgelegt, die Hemdsärmel aufgekrempelt. Seine gebräunten Unterarme sind blond behaart. Er riecht gut, und sei es bloß nach Rasierwasser. Ein Ring findet sich nicht an seiner Hand. Charlotte weiß, dass das nichts zu bedeuten hat.
Pünktlich zum 17. Juli bringt sie den satzfertigen Text in die Druckerei, klärt mit dem Schichtleiter die letzten Details. Nun gibt es nichts mehr mit Bork zu besprechen. Trotzdem geht sie noch einmal zurück in den Verlag. Eine Begründung findet sie auch: Es ist noch nicht Feierabend. Sie will noch ihren Schreibtisch aufräumen, der nächste Tag ist der freie Tag, und sie räumt immer am Tag vor dem freien Tag ihren Schreibtisch auf. Als sie kommt, packt Loni Neumann schon ihre Sachen. Im Verlag herrscht Feierabendstimmung, Türen klappen, auf dem Flur wird gelacht.
Charlotte räumt ein bisschen herum. Notizen und Skizzen gehen durch ihre Hände: Borks Handschrift, zackig, schnell, effektiv, so ganz anders als Wilhelms. Alles zum
Wegschmeißen, alles Müll, aber sie kann sich nicht entschließen. Vielleicht braucht sie es noch für die Korrektur der Fahnen.
Es wird still im Verlag, sie packt ihre Sachen, geht los. Aber erstaunlicherweise gehen ihre Füße in die falsche Richtung. Sie erklärt es sich damit, dass sie Bork noch einmal danken will. Und überhaupt, sollte sie ihm nicht die pünktliche Abgabe des Manuskripts melden? Kein Grund für Herzklopfen. Trotzdem geht sie an Borks Vorzimmer vorbei, prüft beiläufig, ob seine Sekretärin noch da ist, nein, ist sie nicht. Sie geht bis zum Ende des Flurs, spielt sich selbst vor, sie hätte aus lauter Zerstreutheit die Tür verpasst. Kehrt wieder um. Geht durchs Vorzimmer, zwingt sich, anzuklopfen, bevor sie es sich anders überlegt. Fast hofft sie jetzt, dass er nicht da sei, aber da ertönt auch schon ein helles Ja, bitte.
Als sie die Tür öffnet, steht Bork auf der Leiter vor dem Regal. Sie stottert ihre zurechtgelegten Sätze herunter, während Bork gemächlich herabsteigt. Er wartet die Verlegenheitspause ab, bevor er sagt:
Dann hätte ich heute leider keine Aufgabe mehr für dich, Genossin Germaine. Und er fügt hinzu: Ich kann ja eine vollwertige Redakteurin nicht bitten, mir beim Aussortieren von Büchern zu helfen.
Und Charlotte hört sich sagen: Es käme auf einen Versuch an …
Am Abend geht sie mit Wilhelm ins Praga, wie immer am Tag vor dem freien Tag. Aber da sie spät kommen, gibt es nur noch vorbestellte Plätze – und sie haben nicht vorbestellt. Sie gehen zurück, Charlotte entschuldigt sich noch einmal wortreich, dass sie nicht rechtzeitig zu Hause gewesen ist,
aber Wilhelm ist das alles egal. Er fühlt sich nicht wohl. Noch immer leidet er an einer Magenverstimmung. Nicht einmal ein Glas Sekt will er trinken auf die Abgabe des Manuskripts. An körperliche Dinge ist nicht zu denken, zum Glück.
Charlotte wartet, bis Wilhelm schläft, dann endlich ist sie imstande, sich zu erinnern. Und noch jetzt, allein im Bett, errötet sie vor Scham bei dem Gedanken daran, was sie getan hat auf dieser Leiter, und kann sich der wiederkehrenden Erregung nicht erwehren.
Natürlich darf so etwas nie wieder passieren. Sie nimmt sich fest vor, Bork nicht mehr in seinem Büro aufzusuchen. Außer wenn er sie riefe, dann bliebe ihr nichts anderes übrig.
Am ersten Tag der Woche macht sie etwas früher Feierabend, um endlich zum Friseur zu gehen, genug Überstunden hat sie ja. Am zweiten Tag kommen die Korrekturfahnen aus der Druckerei. Sie beherrscht die Korrekturzeichen noch nicht vollständig, aber auch das ist kein Grund, Bork aufzusuchen. Sie kann Loni Neumann fragen, auch Nowikow kennt sich aus.
Am fünften Tag liefert sie die korrigierten Fahnen ab. Und hat eine Woche ohne Bork überstanden.
Am dritten Tag der neuen Woche holt Charlotte endlich zehn Exemplare der frisch gedruckten Broschüre aus der Druckerei. Draußen ist es heiß, über Moskau steht ein träges kontinentales Hoch. Der Himmel ist blau, die Menschen auf den Straßen sind ausgelassen. Man trägt weiße Kleidung, Moskauer Sommermode. Die Kinder russischer Mütter, denen so gut wie alles erlaubt ist, rennen wie toll herum, aufgeheizt von der prallen Sonne, verlangen nach Eis, quengeln, schreien.
Charlotte stört es nicht. Sie bummelt ein bisschen herum,
gönnt sich selbst ein Eis: Plombier
, das beste Eis der Welt, davon ist sie überzeugt, seit sie in Moskau lebt. Sie setzt sich auf eine Bank, wischt sich, nachdem sie das Eis verzehrt hat, gründlich die Finger ab und holt die Broschüre aus der Tasche, blättert sie durch, liest hier und da ein paar Sätze. Betrachtet zufrieden den Titel, das Signet der Verlagsgenossenschaft: ein Kreis, in dem ein Arbeiter einen Hammer schwingt. Sie klappt die letzte Seite auf, wo über dem Impressum steht:
Übersetzer: E. Nowikow. Verlagsredakteur: Germaine.
Von einer Telefonzelle aus ruft sie Kurt an, um sich endlich mit ihm zu verabreden. Sie wird ihm ein Exemplar der Broschüre schenken, ist jetzt schon gespannt auf sein Gesicht. Sie überlegt, wem sie noch ein Exemplar schenken könnte, und amüsiert sich bei dem Gedanken, ihrer Mutter die Broschüre zu schicken (wobei sie die kaum noch schockieren könnte, nachdem sie sich schon hat scheiden lassen und mit einem Kommunisten nach Moskau gegangen ist).
Hat sie eigentlich angegeben, dass ihre Mutter Anhängerin der Deutschnationalen Volkspartei ist? Aber sie haben seit zehn Jahren keinen Kontakt mehr. Wer weiß, wen sie jetzt wählt … Darüber möchte Charlotte gar nicht nachdenken.
Sie könnte Werner ein Exemplar schenken, wenn sie zu Werner Kontakt hätte. Vielleicht ist es an der Zeit, ihn wieder einmal zu treffen. Wilhelm muss ja nichts davon erfahren.
Im Verlag interessiert sich niemand für ihre Broschüre. Nowikow ist nicht da. Loni Neumann nimmt das Heft nicht einmal in die Hand, obwohl Charlotte die Exemplare demonstrativ auf den Schreibtisch legt, sondern sagt bloß: Ach, da isses ja.
Beim Mittagessen hat man ohnehin andere Themen. Man diskutiert darüber, ob man sich als nichtsowjetischer Staatsbürger an der Verteidigungsanleihe beteiligen kann. Jemand hat den neuen SWD
-Radioempfänger irgendwo ergattert, mit dem man angeblich Sender der ganzen Welt hören kann. Nur, soll man das, darf man das? Jemand weiß, wo es gerade modische Sommerschuhe gibt. Und dann kommt Marta Globig und sagt:
Kreps.
Es wird einen Augenblick sehr still am Tisch. Alice hebt die Hände vors Gesicht.
Marta Globig fügt hinzu: Und die Wilhelmson gleich mit.
Noch am selben Nachmittag wird auf einer eilig einberufenen Versammlung verkündet, dass Michail Kreps verhaftet worden sei und dass der Chef der deutschen Sektion, Otto Bork, kommissarisch die Leitung der Verlagsgenossenschaft übernehme.
Wenige Tage später, zum Feierabend, ruft Bork sie in sein neues, pompöses Büro. Noch herrscht Unordnung, Bücher stapeln sich auf dem Fußboden, ein Vertiko steht quer, Borks Schreibtisch ist vollgestellt mit irgendwelchen kleinen Dingen. Auch er selbst ist ein bisschen durcheinander. Keineswegs ist ihm anzumerken, dass er gerade, wenn auch nur kommissarisch, Direktor eines mächtigen Verlags geworden ist.
Stattdessen wirkt er unruhig, nachdenklich, beinahe ein bisschen wehmütig – und auch das gefällt ihr plötzlich. Sie sträubt sich nicht, als er sie an sich zieht. Sie fühlt sich wie eine Filmfigur. Sie fühlt sich wie aus dem Leben geschnitten
und auf die Leinwand versetzt. Sie kann es nicht fassen, dass sie sich im Büro, in dem sie eben noch der große Michail Kreps empfing, auf dem Fußboden zwischen Bücherstapeln einem blonden Fremden hingibt. Denn nichts anderes ist Otto Unger, der sich nun Otto Bork nennt: ein Fremder, ein völlig Unbekannter, der sie mit irren Augen anstarrt und ihr unglaubliche Obszönitäten zuflüstert. Und im Spiegel seiner irren Augen wird sie selbst irre.
Er ruft sie wieder an, sie geht zu ihm. Sie erfährt, dass er verheiratet ist und zwei Söhne hat, und geht zu ihm. Tagsüber übersetzt sie eine neue Broschüre mit dem Titel Die Aufgaben der antireligiösen Propaganda
; nach Feierabend geht sie zu Bork. Sie macht Überstunden, sitzt noch bis um halb acht im Büro – und geht zu Bork. Sie übersetzt Sätze wie Nach Auffassung der Gläubigen sendet Gott die Krankheiten als Prüfung für die Menschen oder als Strafe für ihre Sünden.
Aber nicht sie wird krank, sondern Wilhelm. Er liegt im Hotelzimmer und fiebert, und sie geht zu Bork. Sie besorgt Wilhelm Tabletten. Sie kocht ihm Hühnerbrühe. Sie lügt, sie betrügt. Sie schämt sich – und geht zu Bork.
Nicht jeden Tag, nur wenn er anruft. Manchmal ruft er tagelang nicht an, und sie fürchtet schon, er habe sie fallengelassen. Dann erscheint ihr das Hotelzimmer noch elender, Wilhelm erscheint ihr noch kläglicher in seinem Krankenbett. Sie spürt, wie hilflos er ist, wie verloren. Wer wird sie beschützen?
Alice Rund wird verhaftet – sie geht zu Bork. Johann Biefang. Paul Dietrich, der einmal Sekretär von Ernst Thälmann gewesen ist. Zimmer stehen leer. Man sieht schwarze Lederjacken. Es wird geflüstert. Es wird gelacht. Es wird gegessen. Es wird gearbeitet. Die Broschüre über Die Aufgaben der antireligiösen Propaganda
soll im Oktober satzfertig sein.
Draußen schüttet es wie aus Eimern. Die Leute vergessen, die Fenster zu schließen. Papier fliegt im Flur herum. Irgendwo hat der Blitz eingeschlagen.
Eines Morgens ist das Hotelzimmer von Gustav Schock verplombt.
Der Oberste Sowjet beschließt das demokratischste Wahlrecht der Welt.
Das Komintern-Werk in Charkow stellt die fünftausendste Lokomotive her.
Die Kreml-Uhr schlägt. Wieder stellt ein sowjetischer Flieger einen neuen Weltrekord auf. Und Charlotte geht zu Bork.
Sie geht zu Bork, und sie tun unsagbare Dinge. Sie tun Dinge, für die sie keinen Namen hat. Sie tun es auf dem Fußboden. Sie tun es auf seinem unaufgeräumten Schreibtisch. Sie tun es auf der Leiter. Sie spielen das Spiel von den Füßen her aufwärts, sie versucht, sich zu konzentrieren: Tuchatschewski, Tschernomordik, Tretjakow … Moment, Tretjakow?
Was ist?, fragt Bork und lässt kurz von ihr ab.
Nichts, sagt Charlotte.
Am nächsten Morgen steckt sie Tretjakows Tscheljuskin
unter den Sommermantel, als sie das Zimmer verlässt. Sie versucht nicht etwa, das Buch in der Toilette zu versenken. An der Rezeption steht extra ein Schild, das vor verstopften Toiletten warnt (offenbar ist sie nicht die Einzige, die Schriftsachen loswerden will). Sie wird es auf dem Weg zur Arbeit erledigen. Der Weg ist kurz, besonders seit sie die Abkürzung entdeckt hat: von der Südseite des Hotels direkt durch die
alte Stadtmauer, an der Rückseite des Verlagsgebäudes vorbei, dann passiert man einen Durchgang und steht direkt auf der Straße des 25. Oktober.
Viele Möglichkeiten, das Buch zu entsorgen, gibt es hier nicht, allerdings erinnert sich Charlotte an die Mülltonnen, die an der Rückseite des Verlagsgebäudes stehen, ein paar Meter rechts vom Wege ab, wo sie das Buch unauffällig hineinwerfen kann.
Sie tut es. Wenige Schritte später fällt ihr die Widmung ein:
Für unsere deutsche Genossin Charlotte Germain
Sie macht auf dem Absatz kehrt, fischt das Buch mit Mühe und Not aus der Tonne, und als sie zurückgeht, stößt sie fast mit ihm zusammen: fleischiges Gesicht, Bärtchen, Militäruniform. Einen halben Schritt dahinter der Ledermantel.
Wassili Wassiljewitsch Ulrich bleibt stehen, überrascht von der seitlichen Attacke. Der Ledermantel tritt einen Schritt vor, als müsse er ihn beschützen. Ulrich betrachtet sie:
Haben Sie ein Anliegen, Bürgerin?
Ich arbeite hier, entschuldigt sie sich. Zeigt auf das Verlagsgebäude. Stottert etwas vom Hotel und von Anna Dawydowna, mit der sie, ihr fällt das passende Wort nicht ein, flüchtig bekannt … oder … die sie beim Frühstück … Ulrich winkt ab.
Wenn Sie ein Anliegen haben, kommen Sie in mein Büro …
Er sagt es mit überraschend hoher, fast weiblicher Stimme und setzt seinen Gang fort, schwer und müde. Nur der Ledermantel blickt sich noch einmal um.
Erst als sie ums Eck verschwunden sind, wagt Charlotte zu prüfen, welche Seite des Buches, das sie dummerweise
sichtbar in der Hand hält, nach vorn zeigt. Zum Glück ist es die Rückseite.
Hat er gesehen, wie sie das Buch aus der Mülltonne geholt hat? Ihre Atmung flattert, wie damals in Stockholm auf dem Bahnsteig. Jetzt nicht durchdrehen, Ruhe bewahren …
Sie steckt das Buch, obwohl es nach Müll stinkt, in ihre Tasche und hastet los, ohne zu wissen, wohin. Nicht in den Verlag jedenfalls. Warum hat sie nur gesagt, dass sie im Verlag arbeitet. Was, wenn er anruft, und dann stellt sich heraus, dass sie nicht auf Arbeit ist. Sie kehrt um, bleibt wieder stehen. Aber warum sollte er anrufen? Nein, sie muss weg hier. Das Buch muss weg, und vor allem: Sie muss die Seite mit der Widmung vernichten. Sie läuft zur Metro Ochotny rjad.
Verfolgt sie jemand? Im letzten Moment springt sie in die Bahn, fährt ein paar Stationen. Steigt, wieder im letzten Moment, aus, knapp bevor die brutalen Zugtüren zuschnappen. Kirowskaja,
die Treppen hoch, den Boulevardring entlang, Richtung Teiche: Tschistyje prudy.
Auch hier sind viele Menschen. Charlotte setzt sich ans Ufer, wartet einen günstigen Augenblick ab. Unauffällig reißt sie die Seite heraus und schiebt das Buch mit den Füßen ins Wasser, aber es schwimmt! Sie fischt es wieder heraus, steckt es tropfnass in die Handtasche, läuft los …
Die Seite mit der Widmung entsorgt sie unterwegs in einem öffentlichen Klo. Das Buch wirft sie am Denkmal für die im Russisch-Türkischen Krieg gefallenen Grenadiere in die Büsche.
Ende August kommt Wilhelm allmählich wieder auf die Beine. Am 24. besuchen sie zusammen die alljährlich stattfindende Flugschau in Tuschino, wo die Helden des Nonstop-Fluges U
dSSR
–USA
von Zehntausenden Zuschauern gefeiert werden, unter ihnen Waleri Tschkalow, der in einem kurzleibigen, einmotorigen Flugzeug irrwitzige Manöver fliegt.
Eine Polikarpow I-16, weiß Wilhelm.
Dann lässt der Sommer nach, das letzte große kontinentale Hoch erschöpft sich, auf der Stelle tretend. Die Tage werden kürzer, der Moskauer Sommerstaub scheint sich aufzulösen, die Luft wird klarer. Und eines Morgens spürt Charlotte den kühlen Hauch des Herbstes im Gesicht.
Die Treffen mit Bork haben sich eingespielt, haben eine merkwürdige Routine bekommen, wie Turnstunden. Jeweils am zweiten Wochentag um halb acht klopft Charlotte an seine Bürotür. Sie treffen sich niemals außerhalb. Sie sprechen nicht über die Verhaftungen, nicht über den neuesten Klatsch im Verlag. Allenfalls erkundigt sich Bork nach dem Fortschritt bei der neuen Broschüre, oder Charlotte berichtet freimütig über ihre Meinungsverschiedenheiten mit Elsa Noffke, die als Redakteurin der Broschüre fungiert, wohingegen Charlotte, ihrem Wunsch gemäß, die Übersetzung übernommen hat.
Die Übergänge vom Sachlichen zum Körperlichen sind abrupt. Manchmal wünscht sich Charlotte mehr Zärtlichkeit, um nicht zu sagen: Liebe. Aber Bork spricht nie von Liebe, deutet niemals an, dass ihre Beziehung auch über die Bürostunden hinaus Bedeutung haben könnte, und obwohl es Charlotte ein wenig kränkt, würde sie selbst nicht zu behaupten wagen, dass sie Bork liebt. Trotzdem sehnt sie die Treffen mit ihm herbei, wartet ungeduldig auf seine Anrufe.
Manchmal hat sie das Gefühl, die ganze Woche nur darauf hinzuleben. Alles andere scheint nicht real, eine verdünnte Wirklichkeit, in der sie nur halb existiert.
Aber auch die Stunden mit Bork sind unwirklich, rauschhaft, unfassbar, und wenn sie ihn in der stolowaja
sieht, kann sie kaum glauben, dass in seinem Büro tatsächlich diese Dinge geschehen. Manchmal denkt sie daran, den Spuk zu beenden, aber kaum dass sie seine Stimme am Telefon hört, sind solche Gedanken verflogen. Dann erhebt sie sich, wie ferngesteuert, schließt ihr Zimmer ab und macht sich auf den Weg zur Toilette, um etwas Lippenstift aufzutun. Das Leben ist besser, das Leben ist fröhlicher geworden!
Eines Tages, der Abgabetermin nähert sich bereits, entspinnt sich mit Elsa Noffke eine Diskussion über den Satz: Es entsprach nicht der Tatsache, dass die Hexenverbrennungen nur im finsteren Mittelalter vor sich gingen.
Und zwar geht es um die Frage, ob die merkwürdige grammatische Vergangenheit des russischen Originals – es entsprach nicht der Tatsache
– erhalten bleiben solle oder ob der Autor nicht im Grunde gemeint habe: Es entspricht nicht den Tatsachen
– wofür Elsa Noffke sich mit ungewohnter Vehemenz einsetzt.
Als Charlotte das Büro gegen acht Uhr abends verlässt, hat sie spontan die Idee, mit Bork darüber zu sprechen, um für den nächsten Tag gerüstet zu sein. Aber Bork ist offenbar nicht mehr da, sein Vorzimmer abgeschlossen. Als sie jedoch auf die Straße tritt, sieht sie Licht in seinem Fenster, Dämmerlicht, ähnlich wie bei ihren Stelldicheins, wenn sie ihre Bluse über Borks Schreibtischlampe legt.
Zwanzig Minuten lang spaziert Charlotte vor dem Verlagsgebäude auf und ab, von Ahnungen angefressen. Dann tritt Hilda Angarowa auf die Straße, mit geröteten Wangen und ihrem grünen Schal.
War das Dämmerlicht in Borks Zimmer nicht eben grünlich gewesen?
Natürlich nimmt Charlotte sich vor, die Affäre sofort zu beenden, reflexartig, ohne nachzudenken: Schluss, einfach Schluss. Fast ist es eine Erleichterung, endlich einen Anlass gefunden zu haben. Aber während sie zu Hause Brot und Wurst schneidet, tanzen vor ihren Augen Bilder von Bork und der Angarowa. Sie kriegt kaum einen Bissen runter, und als Wilhelm sich besorgt nach ihrem Befinden erkundigt, geht eine Welle der Scham durch sie hindurch.
Später liegt sie wach unter den sechzehn Sternen und prüft im Geist die Indizien. Was hat sie eigentlich gesehen? Dass das Dämmerlicht grünlich war, kann sie in Wahrheit nicht beschwören. In jedem Fall war es schwach. Aber ist das Licht von Borks Schreibtischlampe nicht ohnehin schwach? Leider hat sie versäumt, darauf zu achten, ob das Zimmer sich wieder aufhellte, als die Angarowa auf die Straße trat. Was, wenn sie sich irrt? Was, wenn Bork sich einfach eingeschlossen hat, um in Ruhe arbeiten zu können? Andererseits: Wie die Angarowa aus dem Verlag geflattert kam: wie ein aufgeschrecktes Huhn.
Ob sie selbst auch so aussieht, wenn sie von Bork kommt?
Sie nimmt sich vor, ihn zur Rede zu stellen. Natürlich hat sie keinerlei Anrecht auf Bork. Er hat ihr nie etwas versprochen, und es wäre seltsam, ihm vorzuwerfen, dass er sie betrügt: Sie ist selbst eine Betrügerin. Nein, sie wird ihm keine Szene machen. Sie wird sachlich bleiben, auf jeden Fall. Aber wenn es tatsächlich wahr ist, wird sie die Sache beenden.
Ist das kleinlich? Kleinbürgerlich? Ist es eitel? Warum ist es eigentlich so wichtig, die Einzige zu sein?
Ob er die Angarowa ebenfalls auf die Leiter schickt zum Bücher-Aussortieren?
Die Ungewissheit frisst an ihr, sie kann es kaum erwarten, dass Bork anruft. In den Mittagspausen versucht sie, einen Blick von ihm zu erhaschen, und beobachtet zugleich, ob die Angarowa vielleicht dasselbe tut. Am Abend prüft sie, wie hell das Licht in seinem Zimmer scheint (mit unklarem Ergebnis). Nachts malt sie sich aus, wie sie ihn fragen wird, führt hypothetische Gespräche, richtet sich auf alle möglichen Fälle ein – um sich am Ende dafür zu schelten, dass sie nicht davon lassen kann.
Fast vergisst sie darüber Wilhelms Geburtstag. Das ist der 1. Oktober, der Tag davor ist frei. Gerade noch fällt ihr ein, am letzten Wochentag eine Flasche Krimsekt zu beschaffen und ein bisschen Kaviar (den sie selber lieber isst als Wilhelm). Im UNIVERMAG
bekommt sie zufällig ein vernünftiges Brotmesser, das als Geschenk zu betrachten sie sich entschließt, sowie ein paar dürre Astern, die sie, eingewickelt in Blumenpapier, einen Tag lang in einem Eimer im Bad aufbewahrt.
Als sie ihre Geschenke am Morgen auf das Tischchen stellt, hat Wilhelm Tränen der Rührung in den Augen. Erst jetzt nimmt sie wahr, wie kläglich der Geburtstagstisch aussieht.
Erneut nimmt sie sich vor, mit Bork Schluss zu machen. Und erneut wartet sie am nächsten Tag – es ist der notorische zweite Wochentag – bis um halb neun ungeduldig auf seinen Anruf. Dann verlässt sie das Büro, um festzustellen, dass in Borks Zimmer kein Licht mehr brennt.
Aber dann, zwei Tage später, nachmittags gegen drei Uhr, ruft Bork an und bittet sie zu sich. Er klingt ein bisschen steif und offiziell am Telefon, aber das ist nichts Besonderes.
Merkwürdig ist die Uhrzeit. Charlotte zupft vor dem Toilettenspiegel ihr Haar zurecht, trägt kaum sichtbar Lippenstift auf und macht sich auf den Weg.
Wie befürchtet, steht seine ewig missgelaunte Sekretärin im Vorzimmer und meldet sie an. Einen Augenblick steht Charlotte im Raum und betrachtet die Regale im Vorzimmer: Fadejew, Feuchtwanger, Gorki, auf der anderen Seite Thälmann, Togliatti … Tretjakow fehlt. Sie hört Stimmen in Borks Zimmer, erwartet, dass gleich jemand herauskommen wird, aber es kommt niemand heraus. Stattdessen wird sie hineingerufen.
In Borks Zimmer befinden sich außer ihm noch zwei Personen, nämlich der Genosse Karpowitsch von der Parteileitung und die Genossin Dzierżyńskaja, die Charlotte ohne große Einleitung über ihr Verhältnis zu Hilde Tal zu befragen beginnt.
Hilde Tal? Ja, natürlich kennt sie Hilde Tal.
Aber die Genossin Dzierżyńskaja will es genau wissen: woher, seit wann, wie oft … Und noch bevor Charlotte imstande ist, den entsetzlichen Gedanken zu denken, beginnt sie instinktiv, ihr Verhältnis zu Hilde herunterzuspielen und die Anzahl ihrer Treffen nach unten abzurunden; ihre Bewunderung für Hilde verheimlicht sie, und ihre letzte Begegnung beschränkt sie auf den Fahrstuhl.
Am nächsten Morgen bestellt Bork sie zu sich und teilt ihr mit, sie sei mit sofortiger Wirkung gekündigt.