1 Fieber
– Hilde –
Das Fieber ist nicht sehr hoch, aber die Kopfschmerzen sind schlimm. Drei Tage lang ist sie nicht in der Lage, überhaupt einen Gedanken zu fassen, nur einzelne, sinnlose Worte steigen hin und wieder an die Oberfläche, stoßen dröhnend an ihren Schädel: Partei … Vaterland … Teller … Kasbek … Volksfeind … Nirgendwohin …
Irgendwann sieht sie Steinbrüche. Von den Innenseiten ihres Kopfes wird ständig Gestein abgesprengt und stürzt hinab, ihre Schädeldecke wird immer dünner, befürchtet Hilde. Aber seltsamerweise ist da immer neues Gestein, als würde es nachwachsen. Dann wieder hat sie das Gefühl, die vielen Schmerz- und Schlaftabletten würden Gänge und Röhren in ihr Hirn ätzen, durch die die Flüssigkeit versickert. Alles trocknet aus, und übrig bleiben, hart und knochentrocken, die Verse von Alexander Sergejewitsch Puschkin.
Gib Gott, dass mich nicht Wahnsinn packt.
Nein, lieber alt und arm und nackt;
Nein, lieber Müh und Leid
Nicht, weil ich, auf mein Denken stolz,
Von ihm nicht lassen könnt; ich wollt’s,
Ich wär dazu bereit
Aber wie geht es weiter? Sie kommt nicht drauf, es ist zum Wahnsinnigwerden. Ist sie schon wahnsinnig? Haben die
Tabletten ihr Gehirn aufgefressen? Irgendwann, das weiß sie noch, kommt eine Strophe, die fängt an mit Jedoch
… Jedoch, was?
Sie rappelt sich auf, angelt den Puschkin-Band aus dem Regal. Blättert … Findet nicht … Schläft vor Erschöpfung ein.
Julius kommt nach Hause und schimpft mit ihr. Der Arzt hat gesagt: Bettruhe, Hühnerbrühe, keine Anstrengung! Nicht lesen! Insbesondere die Zeitung hat Julius ihr verboten, er achtet gewissenhaft darauf, dass nicht irgendwo eine herumliegt.
Die dritte Nacht schläft sie durch, traumlos, wie tot. Am Morgen ist das Fieber weg. Sie überredet Julius, ihr einen Kaffee zu kochen. Nach dem Kaffee geht es ihr besser. Das Tageslicht tut nicht mehr weh, im Gegenteil, es ist wohltuend. Die Welt hat sich erneuert, alles ist sauber und hell. Auch ihr Kopf ist gereinigt. Ihre Gedanken sind schlicht und klar wie schon lange nicht mehr.
Sie bleibt im Bett liegen, hält sich an die ärztliche Verordnung und denkt nach. Sie fühlt sich wie in einem Kokon: das Zimmer jetzt eine Ausweitung ihres Gehirns. Sie denkt nach, aber sie weiß von Anfang an, dass sie einer großen Wahrheit auf der Spur ist. Sie muss es nur alles zusammenkriegen. Es muss alles passen – und es passt.
Sie erinnert sich, wie Alichanow in der Küche saß: Ich bin sicher, wenn Stalin davon wüsste, würde er manch andere Ungerechtigkeit ebenfalls korrigieren.
Kurze Zeit später: verhaftet.
Heinz Neumann, die Stimme Stalins
, verhaftet.
Julia Annenkowa, die einem mit ihrer Stalin-Verehrung auf die Nerven gehen konnte, verhaftet.
Ja, natürlich gibt es Schädlinge und Volksfeinde. Natürlich
ist es denkbar, dass es im Komintern-Apparat Maulwürfe gibt. Aber doch nicht die halbe Komintern! Melnikow mag sein, wie er will, aber ein Volksfeind? Für Berta Zimmermann würde sie ihre Hand ins Feuer legen. Nicht zu reden von Abramow-Mirow.
Gustav Schock haben sie auch verhaftet. Sie schließen Punkt Zwei. Sie machen die OMS
kaputt. Wem nützt das?
Die entscheidende Frage: Wem nützt es?
Wem nützt es, wenn Menschen in Schlüsselpositionen der sowjetischen Wirtschaft verhaftet werden? Wem nützt die Verhaftung der wichtigsten Marschälle der Sowjetunion, wenn der Krieg vor der Tür steht? Man muss nur denken, logisch denken.
Sie kocht sich noch einen Kaffee. Sie braucht ihn nicht dringend, aber sie muss noch einmal innehalten, bevor sie zum letzten Schluss abhebt. Die Vorfreude springt ihr schon in den Hals. Sie muss beinahe kichern darüber, dass sie es durchschaut hat. Sie inszenieren
Massenverhaftungen! Denn: Würde man nur die Besten und Treuesten verhaften, müsste es jedem ins Auge springen. Sehr schlau, sehr geschickt. Man nutzt die Parteisäuberungen, um eine unkontrollierbare Hetzjagd zu entfachen. Man verhaftet Hunderte, ja vielleicht Tausende, damit die entscheidenden Schläge in der Masse der Verhaftungen untergehen. Und wer ist verantwortlich für das Ganze?
Sie verkrümelt sich mit ihrem Kaffee ins Bett, bevor sie den Gedanken auf die Spitze treibt, auf sein logisches, konsequentes Ende zu: Es ist das NKWD
. Es ist nicht Jeshow, nicht Jagoda. Es ist keine Einzelperson. Wozu hat sie siebzehn Jahre lang in einem Nachrichtendienst gearbeitet? Niemals könnte eine Einzelperson das alles bewerkstelligen. Dazu gehört ein ganzer Apparat. Dazu gehört ein Netzwerk. Ein umfassendes, konspiratives System.
Das NKWD
ist infiltriert, unterwandert. Es ist in der Hand des Klassenfeinds.
Der nächste Schluss ergibt sich von selbst: Sie muss ihn anrufen. Es gibt keinen anderen Weg. Wenn sie es nicht tut, wird das NKWD
noch den letzten ehrlichen Genossen verhaften, den letzten fähigen General, den letzten Betriebsdirektor, der etwas von seiner Sache versteht. Deutsche Panzer werden die Sowjetunion überrollen. Und wenn sie bis dahin nicht selbst vom NKWD
verhaftet worden ist, werden die Deutschen sie an die Wand stellen und ihre Familie gleich mit.
Seine Telefonnummer kennt sie auswendig.
Sie wird ihn anrufen, und er wird es verstehen. Denn es liegt auf der Hand. Ihre Argumente sind absolut klar. Die einzige Frage ist, wie sie es einrichtet, dass sie eine Weile ungestört mit ihm sprechen kann. Dass er ihr zuhört: Stalin.
Natürlich kann sie nicht damit beginnen, dass sie das NKWD
für eine feindliche Organisation hält. Andererseits muss sie sich kurzfassen, denn natürlich wird Stalin ungeduldig, womöglich ungehalten werden, wenn sich herausstellt, dass nicht Anvelt ihn sprechen will, sondern bloß dessen Sekretärin. Das muss wohlüberlegt sein, da kommt es auf jedes Wort an, auf jede Silbe.
Sie denkt tagelang nach. Sie macht keine Notizen. Sie spricht nicht mit Julius darüber. Alles findet in ihrem Kopf statt. Allmählich schwillt das Gespräch mit seinen möglichen Verläufen und Varianten zu einem monströsen Gebilde an, aber noch immer findet sie diesen oder jenen Schlupfwinkel, diese oder jene unklare Stelle. Immer wieder spielt sie mögliche Überraschungen durch. Immer weiter strafft sie ihre Beispiele und Argumente, stellt um, bereitet sich auf Nachfragen vor.
Vor dem Einschlafen formuliert sie Sätze neu, beim Erwachen verwirft sie sie wieder. Lange denkt sie über den Anfang nach. Ist es unbescheiden, mit der eigenen Biographie zu beginnen? Andererseits muss sie ihm klarmachen, wer da spricht. Dass sie nicht irgendeine Vorzimmerdame ist, die wegen ein paar Verhaftungen die Nerven verliert.
Mein Name ist Hilde Tal, geboren 1895 in Riga. Mein Vater war Arbeiter, meine Mutter Tagelöhnerin – oder ist das schon zu viel? Ich bin Mitglied der Kommunistischen Partei Lettlands seit der Gründung. Ich habe mit der Waffe in der Hand am Aufstand teilgenommen. Ich war Mitglied des Revolutionären Komitees. Ich arbeite für den Geheimapparat der Komintern seit seiner Gründung. Ich habe beim Hamburger Aufstand mitgekämpft … Nein, alles zu viel. Alles blutleer.
Ich habe für die Revolution getötet. Ich habe für die Revolution gestohlen, gemordet, entführt. Ich habe im Gefängnis gesessen – obwohl sie das lieber weglassen sollte, denn sonst müsste sie erklären, wie sie da wieder rausgekommen ist, ohne zur Verräterin zu werden. Kurz und bündig: Ich habe getötet. Mit den eigenen Händen. Ich habe Menschen exekutiert. Ich begreife sehr wohl, dass die Revolution kein Spaziergang ist. Ich habe kein Mitleid mit Verrätern. Ich befürworte vorbehaltlos die Säuberung der Partei. Das genügt.
Obwohl sie die Gründung der OMS
ruhig erwähnen könnte, denn von dort kann sie zu Abramow-Mirow überleiten: Ich kenne ihn seit 1920, seit er das europäische Hauptquartier der OMS
in Berlin geleitet hat. Abramow-Mirow hat den Apparat in Deutschland und Europa aufgebaut. Er hat Unvorstellbares geleistet für die Revolution. Er war stets hart, konsequent und unbeirrbar. Ich habe Hunderte Einsätze in
seinem Auftrag durchgeführt. Sie werden einwenden, dass ich nicht jeden Tag, nicht jede Handlung Abramow-Mirows seit 1920 kontrollieren konnte. Das stimmt, aber seit 1933 bin ich seine persönliche Sekretärin. Bis zu seiner Versetzung kannte ich praktisch jeden seiner Schritte. Jeden Termin, jeden Brief, ich weiß, wen er angerufen, mit wem er sich getroffen hat. Ich kann jede Dienstreise bis ins Detail nachvollziehen. Ich kenne seinen privaten Kalender, soweit nach zwölf oder vierzehn Arbeitsstunden täglich überhaupt noch Privates möglich ist. Ich habe seine Schuhe besohlen lassen und ihm Theaterkarten bestellt. Ich habe ihn an den Geburtstag seiner Frau erinnert. Und glauben Sie mir, Josif Wissarionowitsch, in der ganzen Zeit gab es nicht einen einzigen Hinweis, nicht ein einziges Indiz dafür, dass Abramow-Mirow irgendetwas getan hätte, was unserem Staat oder unserer Partei zum Schaden gereicht.
Wir werden sehen, was die Genossen des NKWD
zutage fördern, hört sie Stalin sagen.
Was die Genossen des NKWD
zutage fördern, ist immer ein Geständnis, Genosse Stalin. Auch Abramow-Mirow wird gestehen. Und wenn er nicht gesteht, wird man Ihnen sagen, dass er gestanden hätte. Man mag ihn erschießen, es geht nicht um ihn. Er hat keine Angst vor dem Tod, und ich auch nicht. Es geht nicht um eine Person, es geht nicht darum, einen Einzelnen zu retten. Es geht darum, dass das NKWD
unseren Staat, unsere Wirtschaft, unser Militär, unsere Abwehr zu zerstören beginnt. Es geht darum, dass es dem Klassenfeind gelungen ist, das NKWD
zu unterwandern. Jagoda war nicht der einzige Verräter dort. Meine siebzehnjährige Erfahrung im Nachrichtendienst, mein Instinkt, mein Kopf – alles sagt mir, dass die große Verschwörung, von der wir täglich reden, die wir vergeblich einzudämmen
versuchen, dass die Urheber dieser Verschwörung im NKWD
zu finden sind.
Längst fühlt sie sich nicht mehr krank. Trotzdem bleibt sie noch eine ganze Woche im Bett, wie vom Arzt verordnet. In ihrem Kokon. In dem Zimmer, das mitdenkt. Sie rekapituliert ihre Erfahrungen mit Heinz Neumann, denkt über Berta Zimmermann nach, um für Fragen aller Art gewappnet zu sein. Sie lernt ganze Passagen auswendig, bis sie merkt, dass sie beim Sprechen nur noch mit dem Erinnern des Wortlauts beschäftigt ist und zu stocken anfängt, sobald er ihr nicht gleich einfällt. Dann versucht sie, den genauen Wortlaut wieder zu vergessen, erlegt sich Pausen auf, kocht Kaffee. Sie raucht heimlich oder nimmt eine Tablette und versucht, ein wenig zu schlafen.
Einmal holt sie den Puschkin aus dem Regal und findet endlich das Gedicht und die nämliche Strophe. Sie lautet:
Jedoch: wenn dich dein Geist verlässt,
Wirst du, entsetzlich wie die Pest,
Mit Ketten angepflockt.
Man schließt den Riegel hinter dir
Und reizt durch Gitter wie ein Tier.
Den Irren, der da hockt.
Sie ist erleichtert. Nein, sie ist nicht verrückt. Im Gegenteil.
Dann, endlich, ihr erster Arbeitstag nach der Krankheit. Es ist sonnig und windstill, aber als sie auf die Straße tritt, treibt die Luft ihr ein kleines Frösteln über die Haut: Ach ja, der Herbst, sie erinnert sich.
Die Linden auf dem Boulevard-Ring haben die ersten gelben Blätter bekommen. Vom Strastnoi-Kloster ist nichts mehr zu sehen. Puschkin blickt auf die Bulldozer nieder, die das Gelände planieren. Es heißt, er solle auf die andere Straßenseite versetzt werden. Aber noch steht er da, nachdenklich, den Kopf gesenkt. Mein Gott, wie jung er war! Mit achtunddreißig ist er gestorben, vier Jahre jünger als sie. Seltsam, dass heute keine Taube auf seinen Kopf scheißt.
Hilde geht noch einmal die taktischen Fragen durch. Sie weiß, dass Stalin nie vor halb zwölf arbeitet. Das Problem ist, dass Anvelt um diese Zeit meist schon da ist. Allerdings geht Anvelt gewöhnlich gegen halb zwei mittagessen, während Stalin erst gegen drei zu speisen pflegt. Sie wird anrufen, sobald Anvelt sein Zimmer verlässt. Vermutlich wird sich Poskrjobyschew, Stalins Sekretär, am Telefon melden, und sie wird vorgeben, der Genosse Anvelt wolle Stalin sprechen, und zwar dringend. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass Stalin nicht gleich ans Telefon geht. Schon aus Sicherheitsgründen pflegt der Kreml zurückzurufen. Sie wird die besondere Dringlichkeit betonen, in der Hoffnung, dass der Rückruf schon bald erfolgt.
Aber was, wenn Stalin erst zurückruft, nachdem Anvelt vom Essen zurück ist? Oder schlimmer noch: Was, wenn er ihn direkt anruft, auf dem anderen Apparat?
Am Herzen-Haus hat sie sich warm gelaufen. Auch ihr Kopf ist warm, es läuft bestens, sie hat ein gutes Gefühl. Sie findet auf alles eine Antwort: Sie wird den Stecker der Direktleitung lösen. Sie wird darum bitten, dass der Rückruf an ihre Nummer erfolgt, weil die andere Leitung gestört sei. Sie wird, falls Stalin in einem ungünstigen Moment anruft, behaupten, Anvelt sei gerade nicht am Platz … Es ist alles ganz einfach, man muss nur entschlossen sein, entschlossen handeln …
Puh, nun merkt sie doch, dass sie lange das Bett gehütet hat. Sie setzt sich auf die Bank, auf der sie mit Jule oft gesessen hat, verschnauft eine Minute.
Ihr fällt auf, wie still die Vögel sind. Sie erinnert sich an einen verregneten Tag im Frühling. Genauer gesagt, an den Tag danach. Die Pfützen standen noch auf den Wegen, aber die Vögel spektakelten aufgeregt in den Ästen, sandten ihre dringlichen Mitteilungen in die Stadt. War nicht gerade Radek verhaftet worden? Auch er im Grunde ein treuer Gefolgsmann Stalins. Kurz zuvor hatte er noch für die Iswestija
einen Artikel verfasst. Ihr fällt sogar die Überschrift ein: Die trotzkistisch-sinowjewistische Faschistenbande und ihr Einpeitscher Trotzki
– oder so ähnlich. Und dann die Verhaftung …
Ja, sie hat begriffen. Alles hat sie begriffen, alles hat sich gefügt. Wie klar die Luft ist im Herbst. Wie durchsichtig. Liegt es am Licht? Oder ist es eine chemische Frage?
Das nächste Zeitfenster öffnet sich nach fünf Uhr abends, denn obwohl Anvelt anfangs Witze gemacht hat über die Scharen von Nachtarbeitern, die landesweit wachen für den Fall, dass Stalin mitten in der Nacht eine Frage hat, macht er inzwischen selbst Nachtschicht. Und das heißt, dass er sich nachmittags zu Hause ausschläft, um erst gegen Abend wiederzukommen. In der Zwischenzeit, denkt Hilde, wird sie ein zweites Mal im Kreml anrufen, und da ihre Rufnummer bereits durch den Rückruf geprüft worden ist, wird man sie durchstellen. Und wenn auch das nicht klappt, wird sie sich, wenn Stalin anruft, einfach in ihrem Zimmer einschließen und reden … Variante eins, Variante zwei, Variante drei A …
Ein bisschen aufgeregt ist sie doch. Nicht schlimm: Lampenfieber, wie vor dem Einsatz. Hol’s der Teufel. Was sie
schon alles überstanden hat. Sie erinnert sich an den Überfall der Nazis auf die Laubenkolonie, wo sie sich versteckt hatten: dreißig Tote. An die Polizeieinsätze in Hamburg nach der verlorenen Schlacht. Wie sie damals über die Dächer geflohen ist, über ein Baugerüst in eine fremde Wohnung … Eine Katze hat sieben Leben, sagt man. Da hatte sie schon ein paar mehr.
An der Ecke Nikitskaja
verkaufen sie immer noch Eis, eigentlich ist es nicht mehr die Jahreszeit dafür, aber sie ist so erhitzt, dass sie sich dennoch eins genehmigt: Eskimo
. Wenn du Plombier
verlangst, wird deine Tür plombiert. Jetzt fang nicht an zu spinnen! Die Schokoladenkruste knackt zwischen ihren Zähnen. Das Eis tut gut. Hoffentlich geht der Fahrstuhl.
Und tatsächlich – er geht! Gutes Omen. Aber an Omen glaubt sie nicht. Nein, sie glaubt an Menschen. Sie glaubt an die Tatkraft. Sie glaubt an den Plan. Sie glaubt an den ewigen Diensthabenden, der in der vierten Etage an seinem Tisch sitzt und mit steinerner Miene ihren propusk
entgegennimmt. Unabwendbares Ritual, ihr würde etwas fehlen.
Sie schreitet den langen Flur ab, eine Schreibmaschine klappert. Zu ihrer Überraschung kommt das Klappern aus ihrem Zimmer. Dort sitzt die Kurotschkowa an ihrem Schreibtisch. Nanu, Vertretung? Aber wie sollte die Kurotschkowa sie vertreten, die hat keine Ahnung von nichts.
Ich bin wieder da, sagt Hilde und erwartet, dass die Kurotschkowa aufsteht und ihren Platz räumt. Stattdessen teilt die Kurotschkowa ihr mit, dass der Genosse Anvelt sie in seinem Büro erwarte.
Anvelt springt von seinem Stuhl auf, als wäre sie ein Staatsgast. Er bestellt Tee bei der Kurotschkowa, bittet Hilde, Platz zu nehmen, bietet ihr sogar Gebäck an und beginnt,
irgendwas zu erklären, so gewunden und wirr, dass Hilde für einen Moment meint, er sei verrückt geworden.
Sie zündet sich eine Papirossa an, bietet auch Anvelt eine an – aber der lehnt ab. Anvelt lehnt ab!
Geht es dir nicht gut?, fragt Hilde.
Anvelt lacht seltsam und fängt sofort wieder an, davon zu sprechen, dass es ihm leidtue, dass er nichts machen könne, es sei nicht seine Entscheidung gewesen …
Ja, was denn?
Die Entlassung.
Entlassung?, fragt Hilde, begreift aber im selben Moment: ihre
Entlassung.
Poljatschek.
Es ist ihr herausgerutscht. So heißt der für die Komintern zuständige NKWD
-Mann.
Anvelt nickt.
Die Kurotschkowa bringt den Tee, und die Minute, bis sie das Zimmer wieder verlassen hat, genügt Hilde, um alles zu begreifen, alles neu zu sortieren. So ist das also. Man hat sie im Visier. Klar, auch sie ist eine Getreue. Hätte sie es wissen müssen?
Damit fällt das Telefonat flach, denn natürlich kann sie Stalin nicht von zu Hause anrufen. Sie wird einen Brief schreiben, weiß sie sofort. Noch ist das Spiel nicht verloren. Noch heute wird sie eine Schreibmaschine besorgen. Ihrer russischen Handschrift sieht man das «Ausländische» an, und ihr Instinkt sagt ihr, dass das nicht gut ist.
Schreibmaschine besorgen, den Brief schreiben, ihn direkt an der Wache zum Kreml-Palast abgeben: an Stalin persönlich
.
Sie hat es auf einmal eilig, lässt den Tee stehen, geht los.
Aber du musst noch die Geheimhaltungsverpflichtung
unterschreiben, ruft Anvelt ihr hinterher. Und dein Monatsgehalt in der Kasse abholen!
Hilde unterschreibt die Geheimhaltungsverpflichtung und nimmt ihr Monatsgehalt in der Kasse entgegen. Dann macht sie sich auf die Suche nach einer Schreibmaschine. Sie versucht gar nicht erst, eine zu kaufen. Sie geht direkt nach Hause, denn sie weiß, dass Heinrich Meyer eine besitzt, Zimmer 258.
Aber das Zimmer ist verplombt. Ein enger Mitarbeiter Ernst Thälmanns, hat zwei Jahre im Konzentrationslager gesessen. Ein weiteres Indiz. Auch die 259 ist plombiert, wer wohnte hier? Und die 204. Nilo Virtanen, ein finnischer Mitarbeiter der OMS
.
Von ihrem Zimmer aus ruft sie Erna Petermann an, deren Mann im Büro von Palmiro Togliatti arbeitet. Sie besitzt eine Schreibmaschine, denn, das weiß Hilde, sie tippt des Öfteren zu Hause für ihren Mann. Aber Erna druckst herum, sie brauche die Maschine gerade dringend.
Die andere Erna, Erna Winzer, kommt noch in Frage. Ihr Mann, Otto, ist gerade aus der Verlagsabteilung der Komintern entlassen worden, den Grund kennt Hilde nicht. Trotzdem beschließt sie anzurufen. Erna zeigt sich verwundert und erfreut. Seit der Entlassung von Otto habe sich noch niemand gemeldet. Eine Schreibmaschine hat Erna aber nicht.
Also ruft sie Paul Förster an, Techniker, der hat immer alles. Und tatsächlich hat Paul auch eine Schreibmaschine. Er braucht sie noch tagsüber, aber am Abend könnte er sie entbehren.
Hilde sagt zu, die Maschine morgen Abend abzuholen, und beschließt zugleich, ins UNIVERMAG
zu gehen, in der Hoffnung, dass es vielleicht zufällig doch Schreibmaschinen
gibt. Natürlich gibt es keine. Aber Fotoapparate. Sie könnte Julius einen Fotoapparat zum Geburtstag kaufen, fällt ihr ein. Sein Geburtstag ist zwar gerade vorbei, irgendwie in ihren Krankheitstagen untergegangen, aber einen Fotoapparat wünscht er sich schon lange.
Sie stellt sich an, und während sie ansteht, kommt ihr die Idee, Julius mit einer kleinen Feier zu überraschen: Morgen, am Tag vor dem freien Tag, würde es gerade passen.
Sie kauft den Fotoapparat. Sie kauft Brot und Gurken und Lauch, außerdem Stockfisch und Heringsfilet in Büchsen. Dazu drei Flaschen Wodka und zwei Flaschen Sekt. Dann ruft sie noch einmal die Petermanns an, um sie zum Geburtstag einzuladen. Aber die haben angeblich Theaterkarten. Es ist die konspirative Routine, die Hilde fragen lässt: Schön, was spielen sie denn?
Angeblich hat Erna den Titel gerade vergessen.
Auch Erna Winzer zögert. Sie gibt zu verstehen, dass Otto gerade genug Schwierigkeiten habe und keine, wie sie es ausdrückt, komplizierten Gespräche
führen möchte.
Aber wir wollen keine komplizierten Gespräche führen, entgegnet Hilde.
Erna will Otto fragen.
Therese Meyer fragt sie gar nicht erst. Dafür lädt sie Inge Karst ein, Julius’ Kollegin. Hilde kennt sie noch aus Hamburg: eine von den Frauen, die mit einer Schusswaffe umgehen können. Inge sagt sofort zu.
Auch Paul Förster lädt sie ein. Er ist ein wenig dogmatisch, aber eine ehrliche Haut. Außerdem soll er gerade aus Spanien wiedergekommen sein, und das interessiert Hilde. Zudem könnte er die Schreibmaschine gleich mitbringen.
Danach ruft Hilde noch Erwin Umnitzer an, den ersten Mann von Charlotte, mit dem sie seit ihrer Trennung von
Wilhelm (und Erwins von Charlotte) eine freundschaftliche Beziehung verbindet.
Erwin wirkt am Telefon nervös, aber auch erfreut: Er müsse sie ohnehin sprechen!
Da Erwin zugesagt hat, zögert sie einen Augenblick, Alice einzuladen. Sie weiß, dass Alice Rund sich Chancen bei Erwin ausgerechnet hat, nachdem Charlotte ausgezogen war. Man könnte fast sagen, sie habe Erwin nachgestellt. Aber inzwischen ist Alice ja glücklich mit diesem Boxer liiert, wie hieß er gleich – Ludwig. Der Eisenmann.
Sie ruft in der Verlagsgenossenschaft an, aber zu ihrer Überraschung wird ihr mitgeteilt, dass Alice nicht mehr dort arbeite. Mehr verrät man ihr nicht. Sollten sie Alice verhaftet haben? Aber das hätte Julius ihr doch berichtet.
Sie fragt ihn nicht, erzählt nichts von ihrer Entlassung, all das kann warten bis Montag. Am Morgen verlässt sie das Haus wie gewöhnlich. Ohne lange nachzudenken, setzt sie sich in den Trolleybus, der sie zum Serebrjany bor
bringt, einem Waldgebiet am Stadtrand, wo sie früher oft Pilze gesucht haben. In den letzten Jahren ist dort ein beliebter Erholungspark entstanden, man hat einen Kanal ausgehoben, sodass eine künstliche Insel entstanden ist. Im Sommer baden die Leute, man kann auch Boote ausleihen.
Aber heute, an einem gewöhnlichen Arbeitstag im September, ist kein Mensch hier. Hilde legt sich ins Gras, das die schräg einfallende Sonne noch ein wenig anzuwärmen vermag, während der Wind kühl ihre Beine umstreicht. Lange betrachtet sie die Wolken, die sehr langsam am Himmel vorbeiziehen: ein Mädchen mit fliegendem Haar. Eine
erschrockene Giraffe. Ein – was soll das sein? – dicker Frosch mit Bart? Aber dort, eindeutig: Stalin mit Pfeife.
Sie muss an den Himmel über Riga denken, ihrer Heimatstadt, an das Wolkenspektakel über der Bucht, jeden Abend ein neues Stück. Farben, die man keinem Maler abkaufen würde: von Violett bis Smaragdgrün. Es kommt vor, dass der halbe Himmel sich in einen orangefarbenen Teppich verwandelt oder in gelblichweiß glühendes Metall. Beinahe zwanzig Jahre war sie nicht mehr da; in Lettland, wo die Konterrevolution gesiegt hat, wird sie polizeilich gesucht, und wenn sie zurückdenkt, bedauert sie, dass sie damals, als junger Mensch, nicht imstande war, das alles tief genug zu empfinden. Dass sie es achtlos hat vorbeigehen lassen, anstatt es einzuatmen, aufzusaugen, es in ihren Zellen zu speichern und mitzunehmen für alle Zeit.
Seltsam ist, dass sie plötzlich Salz auf den Lippen schmeckt: Heult sie neuerdings, ohne es zu bemerken?
Auf dem Rückweg besorgt sie noch Blumen auf dem Schwarzmarkt am Arbat. Dann fängt sie an, die Feier vorzubereiten. Als Julius nach Hause kommt, stehen Blumen auf dem Tisch, ein Geburtstagskuchen ist auch da. Hilde und Sina bereiten ein kleines Buffet für den Abend vor. Julius ist gerührt.
Aber wer soll denn das alles essen, will er wissen.
Als sie ihm mitteilt, dass sie heimlich Gäste eingeladen hat, ist er einen Moment sprachlos. Dann lässt er sich von Sinas Freude anstecken:
Mama habe ihr versprochen, dass sie so lange aufbleiben darf, wie sie will.
Zu dritt essen sie Geburtstagskuchen. Dann treffen sie die
letzten Vorbereitungen für das Fest: weiße Tischdecke, Hilde dreht drei bunte Glühbirnen in den Leuchter. Julius breitet kommentarlos eine Decke über den Heizkörper.
Paul kommt mit der Schreibmaschine, wie immer allein; er hat keine Partnerin.
Inge kommt allein, weil ihr Mann im KZ
Sachsenhausen eingesperrt ist.
Aber auch Erwin kommt ohne seine junge Frau. Gerda sei, nun ja, krank, sagt er mit einem Seitenblick auf das Kind, sodass alle verstehen, dass es da etwas gibt, worüber er in Anwesenheit von Sina nicht sprechen will.
Man trinkt schon mal ein Glas Sekt zur Begrüßung; mit dem Essen will man noch auf die übrigen Gäste warten. Nur Sina quengelt, sie ist scharf darauf, die Schnittchen mit den feingeschnittenen Gurkenschiffchen zu probieren, und Hilde erlaubt es. Im Grunde ist Sina noch satt vom Kuchen, sie knabbert nur an den Gurken herum, fragt ungeduldig, wo die anderen Gäste bleiben. Eine Weile hört sie interessiert zu, als Erwin von der großen Flugschau berichtet, will genau wissen, was ihr Held Tschkalow am Himmel für Kunststücke geflogen sei.
Von dort geht das Gespräch über zu den Luftangriffen der Faschisten auf Durango und Guernica. Paul hat Guernica nach der Zerstörung gesehen, grauenhafte Bilder. Sina macht große Augen, und Hilde gibt Paul mit Blicken zu verstehen, sich mit der Beschreibung zurückzuhalten. Man spricht eine Weile über die Lage an der spanischen Front. Paul ist sicher, dass der Sieg der Republik gegen Franco unmittelbar bevorsteht. Er erzählt von der kommunistischen Regionalregierung Kataloniens und von den Auseinandersetzungen mit den Trotzkisten von der POUM
.
Sina beginnt sich zu langweilen und geht, enttäuscht von
der Feier, ins Bett. Vorher darf sie noch ihr Stalin-Lied aufsagen.
Man entschließt sich, das Essen nicht länger aufzuschieben. Es wird sehr still am Tisch, als würden alle darauf warten, dass Sina eingeschlafen ist, aber als Hilde dann mitteilt, es sei so weit, stockt das Gespräch noch immer.
Wer denn noch kommen wollte, will Inge wissen.
Das Ehepaar Winzer, sagt Hilde. Petermanns hätten gleich abgesagt.
Und was ist mit Alice?
Schweigen.
Das gibt’s doch nicht, sagt Erwin. Er hört auf zu essen, fasst sich an die Stirn.
Julius gießt Wodka nach, erhebt sein Glas. Auf Alice.
Aber Kinder, wir können doch nicht auf Alice trinken, wendet Paul ein.
Warum nicht? Glaubst du, dass Alice ein Volksfeind ist?
Inge spricht gedämpft, auch Paul antwortet leise, aber seine Stimme schrillt trotzdem wie eine Telefonklingel.
Nein, natürlich nicht. Aber warum wird sie denn verhaftet? Sie ist doch verhaftet, oder?
Inge, als spräche sie zu niemandem: Als ich in die Partei eintrat, da waren sieben Leute im Politbüro: Lenin, Trotzki, Sinowjew, Kamenew, Rykow, Tomski und Stalin. Davon ist einer heute der unumstrittene Führer, und fünf sind Volksfeinde.
Kinder, ich bitte euch, mischt Hilde sich ein. Wir wollen Geburtstag feiern.
Paul sagt: Du willst doch nicht ernsthaft bezweifeln, dass das objektiv Volksfeinde sind.
Ich bezweifle gar nichts, sagt Inge. Aber wenn du morgen verhaftet wirst, bist du dann auch ein Volksfeind?
Warum sollte ich denn verhaftet werden!
Bitte, lasst uns nicht streiten heute Abend! Hilde steht auf, schaltet das Radio ein. Es läuft eine klassische Musik, ein bisschen zu getragen, aber immerhin Musik. Auch zum Übertönen der Gespräche.
Auf Alice, sagt Erwin und kippt seinen Wodka. Gib mir noch einen.
Was ist denn mit Gerda?, fragt Hilde in der Annahme, es handle sich tatsächlich um eine Krankheit, eine Frauensache vielleicht, über die Erwin vorhin nicht reden wollte.
Erwin braucht einen Augenblick, bevor er herauspresst: Sie wollen uns rausschmeißen. Wir sollen nach Deutschland zurück.
Jetzt ist sogar Paul fassungslos: Aber wieso denn?
Es gibt keine Begründung, sagt Erwin. Mein Pass ist abgelaufen, und die Abteilung für Visa und Registratur weigert sich, die Aufenthaltsgenehmigung in den abgelaufenen Pass zu stempeln. Ich soll ihn verlängern lassen. Aber die Deutsche Botschaft verlängert ihn nur zur Rückreise nach Deutschland!
Du warst bei der Deutschen Botschaft? Paul ist entsetzt.
Was soll ich denn machen?
Also dann brauchst du dich nicht zu wundern, dass dein Aufenthalt nicht verlängert wird.
Herrgott, Paul! Kapierst du nicht? Man hat mich dazu aufgefordert. Ich habe das selbstverständlich abgelehnt. Ich gehe nicht zu einer faschistischen Botschaft! Weißt du, was dann passiert ist? Ich werde es dir sagen: Wir haben Besuch bekommen, zwei Leute in Zivil, aber mit Gewehren und aufgepflanztem Bajonett, hörst du? Aufgepflanztes Bajonett. Solche Kerle. In Lederjacken. Ob wir unsere dokumenty
in Ordnung gebracht hätten. Und als ich gesagt habe, ich gehe
nicht in die faschistische Botschaft, lassen die sich auf dem Sofa nieder, sitzen da, rauchen, drücken die Kippen auf dem Fußboden aus und antworten auf jede Frage immer nur, ob wir unsere dokumenty
in Ordnung gebracht hätten. Und kommen am nächsten Tag wieder! Und am übernächsten! Seit drei Wochen bekommen wir jeden Tag Besuch, mal früher, mal später.
Aber warum lasst ihr die denn rein?, will Paul wissen.
Warum wir die reinlassen? Erwin starrt ihn an, fassungslos. Dann bricht sich seine ganze Aufregung Bahn in einem irren Lachen. Die Tränen laufen ihm herunter, er verbirgt das Gesicht mit den Händen. Die anderen sitzen ratlos daneben, das Radio spielt einen Trauermarsch. Hilde steht auf, macht es aus. Erwin hat sich wieder gefasst.
Warum wir die reinlassen … Du musst die nur mal anklopfen hören, Paul, dann weißt du, warum wir sie reinlassen. Die haben einen Ausweis, Abteilung für Visa und Registratur. Die brüllen auf dem Hausflur herum. Die Nachbarn kriegen das mit. Keiner spricht mehr mit uns im Haus, die Leute beschimpfen uns als Faschisten. Völlig absurd. Ja, ich bin zur Deutschen Botschaft gegangen, Paul. Und die Deutsche Botschaft hat mir in den Ausweis gestempelt: Gültig für vierzehn Tage zur Rückreise nach Deutschland! Und nun kannst du mir gern einen Ratschlag erteilen.
Und an Julius gewandt: Gib mir noch einen.
Alle schweigen, alle haben aufgehört zu essen. Erwin kippt seinen Wodka. Man hört es im Nebenzimmer poltern, Hilde schaut auf die Uhr: Es ist erst halb zwölf, zu früh für das NKWD
.
Hilde, du kennst doch die halbe Welt. Kennst du nicht jemanden, der da helfen kann?
Schreib an Stalin, sagt Hilde.
Eine Stunde später sind die Gäste gegangen. Stumm räumen Hilde und Julius den Tisch ab. Es gibt nichts mehr zu sagen, es gibt nur noch etwas zu tun. Morgen wird sie ihren Brief schreiben, sie hat alles im Kopf. Morgen wird sie ihn an der Wache abgeben. Absender: Komintern,
OMS
. Oder wie es neuerdings heißt: S.S.
Stalin wird den Brief lesen. Stalin wird reagieren. Stalin wird dieses Land retten. Er muss dieses Land retten. Wer, wenn nicht er?
Ehe sie alles abgespült und verstaut hat, ist es halb zwei. Um zwei liegen sie im Bett. Hilde kann nicht einschlafen, auch Julius liegt auf dem Rücken und starrt an die Decke.
Ich habe dir verschwiegen, dass Alice verhaftet worden ist, sagt er schließlich. Ich habe dir einiges verschwiegen, Hilde. Ich wollte dich schonen.
Und nach einer Weile fügt er hinzu: Ich habe den Eindruck, es geht dir nicht gut.
Ich bin wieder gesund.
Ich meine nicht körperlich
.
Es geht mir gut. Wir sprechen morgen über alles. Jetzt lass uns ausruhen, wir brauchen Kraft.
Sie schmiegt sich an Julius, ihre Einschlafstellung: Bauch an Rücken, ihre Nase an Julius Schulter. Er riecht so gut. Wie denn? Ein bisschen nach Haferflocken mit Rosinen und Butter, wie in ihrer Kindheit.
Sie erwacht vom Knacken des Fahrstuhl-Relais. Lauscht den Schritten, die näher kommen. Hört das Pochen an der Tür.
Es dauert lange, bis sie begreift, dass es an ihrer Tür pocht.