2 Verhör
– Charlotte –
Die dürren Geburtstagsastern stehen noch immer auf dem Tischchen. Draußen schneit es. Leichte Flocken wirbeln vor dem Fenster umher. Fröhliche Geräusche dringen von der Straße herauf: Stimmen, Hufgeklapper, das Bimmeln der Straßenbahn, alles auf eine Weise gedämpft, wie nur der erste Schnee zu dämpfen vermag.
Der erste Schnee! Charlotte denkt an Schwarzbrot und Ölsardinen. Sie denkt daran, wie sie angestanden hat in ihren Sommerschuhen. Sie denkt an den Schuster im Basmanny rajon . Sie denkt an den einsamen Frühling, als das Wasser der Wolga den Moskwa-Fluss füllte. Sie denkt an Sergej Tretjakow, der ihr Für unsere deutsche Genossin Charlotte Germain ins Buch schrieb. An die staubigen Sommertage, die elenden Spaziergänge mit Wilhelm. Sie denkt an den Tag, als sie das erste Mal das Zimmer von Otto Bork betrat. Sie denkt an das wächserne Gesicht von Inge Karst. Sie denkt an Alice Rund und ihren eisernen Freund in dem erbärmlichen Zimmer. Sie denkt an Ljuba Löwenstein, die sich fast von einer Droschke überfahren ließ. Sie denkt an Isa Koigen, die ihr das Hotel Metropol zeigte. Sie denkt daran, wie Wilhelm in Jalta zu kotzen anfing.
Sie denkt an das Jahr, das hinter ihr liegt, und obwohl sie sich an den ersten Schnee erinnert, als wäre es gestern gewesen, kommen ihr die Monate wie eine Ewigkeit vor. Die Zeit kriecht, die Sekunden tropfen wie Gift in ihren Körper.
Um halb drei Uhr nachmittags steht Wilhelm auf, putzt sich die Zähne, vollzieht ein notdürftiges Morgenritual und fordert Charlotte auf, sich zum Essen fertig zu machen. Während ihrer Anstellung im Verlag hat sie nur an den freien Tagen am Talon-Essen teilgenommen. Es ist ihr leichtgefallen, gute Stimmung zu demonstrieren, denn sie ist tatsächlich guter Stimmung gewesen – wenngleich sie sich nie ganz hat entscheiden können, ob sie ihre Distanz zu den ständigen Talon-Essern besser durch frisches, feiertägliches oder durch abgespanntes, wochenmüdes Auftreten ausdrücken sollte. Bereitwillig hat sie Wilhelm am Mittagstisch von ihren Erfolgen im Verlag berichtet, ein wenig lauter als nötig. Oft ist sie zum Essen ein bisschen zu spät gekommen, hat absichtlich gebummelt. Und manches Mal hat sie die ohnehin nicht gerade üppigen Portionen zur Hälfe stehengelassen, wie um zu zeigen, dass sie den Angestelltenfraß des Metropol nicht mehr nötig hat.
Es graut ihr davor, das Restaurant jetzt wieder zu betreten. Sie versucht, einen Aufschub zu erwirken, redet sich mit Appetitlosigkeit heraus, schützt Kopfschmerzen vor. Aber Wilhelm, nachdem er sich einmal aufgerappelt hat, besteht hartnäckig auf ihrer Anwesenheit. Aufrecht wie ein Sendemast steigt er die drei Treppen hinab, Charlotte, immer einen halben Schritt im Verzug, sucht Halt, indem sie sich bei ihm einhakt.
Sie durchqueren den großen Saal, ohne dass Charlotte nach links oder rechts blickt. Sie isst, ohne recht zu begreifen, was sie da eigentlich auf dem Teller hat. Wilhelm redet irgendwas, sie versteht immer nur Schnee, Schnee … Sie nickt, sie stimmt zu, sie registriert, wie Wilhelms Ohren sich beim Sprechen bewegen.
Auf dem Rückweg sind sie sich stillschweigend einig, den Fahrstuhl zu nehmen. Auf dem langen Gang durch den Etagenflur flüstert Wilhelm ihr zu: Hast du gesehen?
Charlotte hat nichts gesehen außer seinen Ohren.
Nowosielski, sagt Wilhelm.
Was ist mit Nowosielski?
Wilhelm schaut sie erstaunt an: Er fehlt.
Den Rest des Tages verbringen sie schweigend auf ihren Betten. Um acht schaltet Wilhelm die Nachrichten ein, die er nicht versteht. Charlotte starrt die sechzehn Sterne an, die plötzlich jede Bedeutung verloren haben: Stuck an der Decke. Es gibt keinen Sinn, kein Rätsel, keine Botschaft. Es gibt einfach nichts, und dieses Nichts wird irgendwann in der Nacht so übermächtig, dass es sie aus dem Bett treibt. Sie muss ins Bad gehen, das Licht anknipsen. Sie setzt sich auf den geschlossenen Klodeckel und wartet, bis das Schlimmste vorbei ist. Die Uhr am Spasski-Turm schlägt vier, und plötzlich kommt es ihr so vor, als sei das alles schon einmal da gewesen, genau so. Als sei sie durch eine Zeitschleife gelaufen und im selben Augenblick wieder angekommen, genau vor einem Jahr, mit all ihren Sinnen, ihren Gedanken, ihren Körperzellen.
Als sie ins Zimmer zurückkommt, ist Wilhelm wach. Im Widerschein eines vorbeifahrenden Autos sieht sie, dass seine Augen geöffnet sind. Ihre Blicke treffen sich. Charlotte setzt sich auf den Rand ihres Bettes, Wilhelm zugewandt. Sie hört seinen Atem. Sie hört ihr eigenes Herz schlagen. Oder ist es sein Herz? Ist es ihr Atem?
Ich habe Angst, hört sie sich sagen.
Wilhelm reicht ihr die Hand. Sie ist groß und hart, ganz anders als die von Bork.
Uns kann nichts passieren, sagt Wilhelm. Sein Gesicht ist im Dunkeln nicht zu sehen. Sie hört nur seine Stimme, leise, aber eindringlich, beschwörend: Uns kann nichts passieren, denn wir haben nichts getan.
Charlotte kriecht zurück in ihr Bett, erschöpft, mit kalten Füßen. Vielleicht hat er ja recht? Was wollen sie ihr denn vorwerfen? Man wird doch nicht verurteilt, weil man jemandem ein Grammophon verkauft hat. Oder weil man in seiner Biographie geschrieben hat: Staatliche Porzellanmanufaktur statt Königliche.
Und was, wenn sie herausbekommen sollten, dass ihr Vater Monarchist war und ihre Mutter eine Deutschnationale?
Aber was kann ich denn für meine Eltern?
Dafür können Sie nichts, Genossin Germaine. Aber Sie hätten es angeben müssen.
Oder würde er sie mit ihrem Klarnamen ansprechen: Umnitzer, so heißt sie noch immer. Genossin Umnitzer. Oder Bürgerin Umnitzer? Wie die Angeklagten im Prozess?
Die Schneeflocken vor dem Fenster scheinen aufwärts zu steigen, verkehrte Welt. Man könnte glauben, man rauscht mitsamt dem Hotelzimmer in die Tiefe. Wilhelm beginnt, leise zu schnarchen. Uns kann nichts passieren, denn wir haben nichts getan. Sie hat keine konterrevolutionären Aktionen geplant und keine Geheimnisse verraten. Ihre Vergehen sind nichtig, irrelevant und vor allem: nicht nachweisbar. Oder? Was kann er wissen? Welche Fragen könnte er stellen?
Wer ist er ?
Sie sieht ihn nicht. Sie sieht nur ein grelles, kreisrundes Licht, das auf sie gerichtet ist. Aber aus dem Licht kommt eine Stimme, eine überraschend hohe, fast weibliche Stimme. Und zu der Stimme gehört ein Gesicht. Ein weißes, fleischiges Gesicht mit schmalen, von aufgedunsenen Wangen beengten Augen.
Als sie erwacht, ist Wilhelm schon außer Haus. Er hat sich ein Frühstück gemacht, aus dem, was da war: Konfitüre und Zwieback. Charlotte brüht sich einen Kaffee auf. Sie müsste einkaufen, sich nach Lebensmitteln anstellen. Aber nach dem Kaffee wird sie plötzlich so müde, dass sie sich wieder hinlegen muss.
Sie erwacht ein zweites Mal, als Wilhelm wiederkommt. Er hat ein paar Kleinigkeiten besorgt, eine Büchse Thunfisch, Weißbrot und sogar eine Fleischwurst, doktorskaja genannt. Er besteht darauf, dass sie vor dem Mittagessen spazieren gehen. Gehorsam zieht Charlotte ihre konterrevolutionären Schuhe an.
Der erste Schnee ist schon wieder verschwunden. Aber es ist feuchtkalt, der Wind drückt den Regen unter den Schirm. Wilhelm schreitet aus, als ob er ein Ziel hätte. Charlotte hängt an seinem Arm, wie sie früher, als Kind, an der Hand ihrer Mutter hing, und lässt sich mitziehen.
Eine geschlagene Stunde zieht Wilhelm sie hinter sich her. Sie trieft vor Nässe, sogar ihre Schuhe sind durch. Immerhin geht es ihr, solange sie in Bewegung ist, ein bisschen besser. Aber kaum dass sie heimkehrt, kaum dass sie die Schuhe ausgezogen hat, kommt das Unbehagen wieder, irgendwo zwischen Zwerchfell und Bauchnabel bohrt und wühlt es unaufhörlich.
Zum Mittagessen muss Wilhelm sie nicht mehr überreden. Seit Nowosielski fehlt, geht sie freiwillig. Die Frage, ob noch weitere ehemalige Mitarbeiter verschwinden, beginnt, sie zu beunruhigen, und natürlich begreift sie, dass auch die anderen beunruhigt sind. Alle wollen wissen, ob jemand fehlt, und dazu ist es nötig, dass sie alle zum Mittagessen erscheinen. Plötzlich ist es, als hätten sie sich stillschweigend auf dieses Ritual geeinigt: Man kommt zum heimlichen Zählappell.
Nach dem Essen gelingt es ihr, ein bisschen zu schlafen. Dann schaltet Wilhelm wieder das Radio ein, nicht um im Schutz des Geräusches zu reden, sondern nur so, gegen die Stille.
Charlotte hört unwillkürlich die Meldungen an, die die Menschen allmählich auf den zwanzigsten Jahrestag der Revolution einstimmen sollen. Immer wieder ist vom schwindelerregenden Tempo der Industrialisierung die Rede. Trotz Bürgerkrieg, Sanktionen und Boykott, sagt das Radio, trotz der ständigen Sabotageakte und der Wühlarbeit der Trotzkisten, sei in den zwanzig Jahren seit der Revolution aus dem wohl rückständigsten Land Europas ein mächtiger Industriestaat geworden. Die Schwerindustrie, so heißt es, habe sich im Vergleich zum Vorkriegsstand mehr als verdreifacht. Es werde drei Mal so viel Kohle und zwanzig Mal so viel elektrischer Strom produziert. Erdöl, Roheisen, Stahl – überall gebe es jährliche Zuwächse von zwanzig und mehr Prozent. Selbst bei Fisch oder Speiseöl oder Zucker werde die Vorkriegsproduktion weit übertroffen. Es bestehe kein Zweifel, dass die Sowjetunion mit Riesenschritten zum Kommunismus voranschreite. Schon in der Mitte dieses Jahrhunderts, so hat jemand berechnet, werde die Sowjetunion Deutschland und die USA überflügelt haben, und all der Reichtum, den das riesige Land produziert, wird den werktätigen Menschen zugutekommen, nicht einer parasitären Oberklasse. Eine Gesellschaft ohne Ausbeutung! Mit einer vollkommen neuen Lebenskultur, mit neuen Bedürfnissen, neuen Zielen und Werten.
Nein, sie zweifelt nicht daran, dass es so sein wird. Schon heute überwiegen die Fortschritte und Errungenschaften alle Probleme und Mängel. Schon heute hat jeder Mensch in der Sowjetunion ein Recht auf Arbeit, ein Recht auf kostenlose Bildung, auf kostenlose medizinische Betreuung. Schon heute werden gigantische Kultur- und Erholungsparks geschaffen, Paläste des Volkes, kostenlose Ferienlager für Kinder. Man baut Kulturhäuser in die Fabriken. In einem Land, wo eben noch jeder Zweite Analphabet war, spielen Arbeiter Theater, schreiben Literatur. Was hier in zwanzig Jahren geschehen ist, gleicht einem Wunder. Und was in noch einmal zwanzig Jahre sein wird, übersteigt jede Vorstellungskraft.
Nur, wo werden sie sein – in zwanzig Jahren? Was werden sie tun? Werden sie erleben, wie in Moskau auf den Trümmern der Christi-Erlöser-Kirche das höchste Bauwerk der Welt entsteht? Wie die Gorkistraße um die Hälfte verbreitert wird? Wie man das ehrwürdige Gebäude des Mossowjet um zwei Stockwerke anhebt? Werden sie mit der tiefsten und längsten Metro der Welt für eine Kopeke bis an die Peripherie der Stadt fahren?
Dann kommt die Nacht. Das Radioprogramm ist aus. Charlotte putzt sich die Zähne, legt sich hin. Liegt unter toten Sternen und wartet auf den Schlaf. Aber der Schlaf kommt nicht. Stattdessen kommt das Fleischgesicht. Und hinter dem grellen, kreisrunden Licht stellt eine überraschend hohe, fast weibliche Stimme unangenehme Fragen:
Bürgerin Umnitzer! Sie haben in Ihrem Lebenslauf angegeben, Sie seien durch den Krieg in Konflikt mit Ihren anerzogenen bürgerlichen Ideen geraten. Ist das richtig?
Das ist richtig.
Sie schreiben, Sie standen ganz auf der Seite derer, die dem Krieg ein Ende machen wollten. Ist das richtig?
Das ist richtig.
Sie standen also auf Seiten der Arbeiter- und Soldatenräte?
Und schon hat sie ein Problem. Was, wenn sie Erwin befragen? Was, wenn der Verhörer ihr Erwins Aussage vor die Nase hält:
Bürgerin Umnitzer, Ihr damaliger Ehemann, Erwin Umnitzer, gibt an, dass Sie über seine Hinwendung zur KPD entsetzt waren.
Wenn sie ehrlich ist, hat sie nicht nur die Biographie ihrer Angehörigen beschönigt. Sie hat ihre eigene Biographie beschönigt. Und je länger sie darüber nachdenkt, desto schlimmer wird es. Nein, sie stand nicht auf der Seite derer, die dem Krieg ein Ende machen wollten . Obwohl der Krieg schon vier Jahre andauerte. Obwohl sie mit zwei Kleinkindern zu Hause saß. Obwohl der Kohlrübenwinter über sie hereinbrach und Kurt an Rachitis litt.
In Wirklichkeit war sie entsetzt, als man den Kaiser davonjagte. Unglaublich, aber so war es. Dabei hat sie den Kaiser gehasst – oder nicht? Wie oft hat sie ihren Freunden und Bekannten erzählt, wie ihre Mutter mit ihr in den Tiergarten ging; wie sie stets das kratzende weiße Wollkleid anziehen musste; wie ihr die Mutter ins Gesicht schlug, weil sie im Angesicht des Kaisers geniest hatte …
Nur, wenn sie jetzt darüber nachdenkt, wenn sie sich wirklich erinnert, dann ist sie gar nicht mehr sicher, ob sie den Kaiser gehasst hat. Eher erinnert sie sich, dass sie sich selbst gehasst hat. Geschämt hat sie sich. Und später hat sie sich für ihre Scham geschämt. Dafür hat sie den Kaiser gehasst, zwanzig Jahre später. Und als sie angefangen hat, ihren Freunden und Bekannten davon zu erzählen, da hat sie von ihrem Hass erzählt, als wäre es der Hass des Kindes gewesen. Plötzlich war eine nützliche kleine Geschichte daraus geworden, nämlich die Geschichte davon, wie sie schon als Kind den Kaiser gehasst hatte. Wenn sie schon keine proletarische Herkunft aufweisen konnte, wenn sie schon nicht qua Geburt der revolutionären Klasse angehörte, so hatte sie – besagte die Geschichte – doch seit frühester Kindheit die Erfahrung von Unterdrückung gemacht und ein aufrührerisches, antimonarchistisches Bewusstsein entwickelt.
Nur ist das leider alles nicht wahr.
Treffen mit Kurt im Café Krasny mak  – Roter Mohn. Das Tschaika bleibt unauffindbar. Sie bringt ihre Broschüre mit, er seine Braut. Olga sieht sehr russisch aus, findet Charlotte. Dagegen kann sie nichts einwenden. Aber der hochgeschlossene Rundkragen ist doch ziemlich bieder, ebenso die sauber ondulierte Frisur. Alles in allem wirkt die junge Frau altbacken, ja, beinahe großmütterlich. Sie ist zweifellos nett, freundlich, höflich, aber sie spricht die ganze Zeit nur vom Heiraten, von einem Haus am Stadtrand, das sie kaufen will, und davon, womit man im Augenblick am meisten Geld verdienen kann, und wenn Charlotte sich nicht sehr täuscht, schwingt darin ein halblauter Vorwurf gegen Kurt mit, der, anstatt auf einer Baustelle oder im Automobilwerk zu arbeiten, ein Fernstudium der Geschichte sowie der Literatur absolviert, während er als Zeichner an der Universität nur das Nötigste verdient.
Natürlich schweigt Charlotte zu alledem. Sie ist schon froh, dass Kurt dieses Mal keine Hiobsbotschaft für sie bereithält. Soll die Braut Rundkragen tragen und sich die Haare ondulieren – wer weiß, wie lange diese Geschichte überhaupt hält. Scheidungen in der Sowjetunion sind nicht sehr aufwendig. Hauptsache, sie lässt sich nicht gleich ein Kind von ihm machen.
Aber kaum dass Olga die Toilette aufsucht, nutzt Kurt ihre Abwesenheit, um Charlotte halblaut und auf Deutsch eine Mitteilung zu machen, die er mit den Worten einleitet: Bitte bleib ruhig und lass dir vor Olga nichts anmerken …
Jetzt sag nicht, dass sie schwanger ist.
Aber Kurt sagt: Man will Erwins Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängern.
Charlotte begreift nicht. Sie können ihn doch nicht nach Deutschland zurückschicken.
Sie können, sagt Kurt. Er hat nicht die sowjetische Staatsbürgerschaft.
Auch sie, Charlotte, hat nicht die sowjetische Staatsbürgerschaft. Aber man wird doch keinen ehemaligen Mitarbeiter der OMS nach Deutschland ausliefern. Eine Geheimnisträgerin! Trotzdem zittern ihre Hände so stark, dass sie, als Olga wiederkommt, nicht wagt, ihre Teetasse anzuheben.
Immerhin können sie Erwin nicht mehr befragen, wenn sie ihn nach Deutschland abschieben. Beschämende Hoffnung.
Oder haben sie ihn schon befragt?
Bürgerin Umnitzer, Sie waren bekannt mit dem verurteilten Verbrecher Moissej Lurie und seiner Frau Isa Koigen. In Ihrer Erklärung geben Sie an, dass Sie die betreffenden Personen zwischen September und Dezember 1935 drei bis vier Mal besucht hätten. Entspricht das der Wahrheit?
Soweit ich mich erinnere, ja.
Sie schreiben, beim letzten Besuch habe er Ihnen erzählt, dass er von seiner Arbeit beurlaubt sei. Entspricht das der Wahrheit?
Davon wurde gesprochen.
Die Beurlaubung erfolgte aber erst 1936. Daraus schließe ich, dass Sie die Koigen und ihren Mann auch nach dem Dezember 1935 besucht haben. Sie geben aber an, Sie hätten ihn nur noch einmal, nämlich zufällig im Frühjahr 1936 im Kulturpark, wiedergetroffen.
Möglicherweise habe ich einen Besuch vergessen, es war eine sehr aufreibende Zeit.
Bürgerin Umnitzer, im Januar 1933 sind Sie von der Koigen besucht worden. Sie geben an, dass Sie die Koigen und deren Mann daraufhin nur ein einziges Mal getroffen hätten. Trotzdem fragten Sie die Koigen im April, als Lurie nach Moskau reiste, ob er Sachen für Ihren Lebenspartner mitnehmen könne. Hatten Sie nach zwei Treffen schon so viel Vertrauen? Oder haben Sie auch hier einen Besuch vergessen?
Ich habe angegeben, dass ich Alexander Emel, also Moissej Lurie, an einem Sonntag zum Kaffee bei Isa Koigen kennenlernte. Ich habe nicht abgestritten, sie öfter als ein Mal gesehen zu haben.
Bürgerin Umnitzer, 1934 haben Sie eine Zeitlang mit der Koigen im selben Hotel auf demselben Flur gewohnt. Sie geben an, «bestimmt zwei Mal» bei ihr gewesen zu sein und auch Lurie wiedergetroffen zu haben. Einmal seien Sie bestimmt eine Stunde mit der Koigen allein gewesen. Es sei wahrscheinlich, schreiben Sie, dass auch ihr Mann zugegen gewesen sei. Das wären schon drei Besuche. Wie viele Besuche haben Sie vergessen?
Ich war damals erst kurze Zeit in der U d SSR , ich kann mich an Einzelheiten nicht erinnern.
Sie schreiben, dass Sie die Koigen Anfang 1934 «meiner Meinung nach» zwei Mal in ihrer neuen Wohnung aufgesucht hätten. Was bedeutet «meiner Meinung nach»? Heißt das, dass Sie auch hier möglicherweise den einen oder anderen Besuch vergessen haben könnten?
Das ist möglich, ja.
Sie schreiben, dass Sie Ihre Kinder dort hinbestellt hätten, um sich Essen und Geld abzuholen. Waren Sie bei solchen Gelegenheiten zugegen?
Manchmal, ja.
Manchmal bedeutet: Zwei Mal? Drei Mal? Vier Mal?
Wahrscheinlich eher vier Mal.
Bürgerin Umnitzer, Sie haben in Berlin und Moskau engen Kontakt zu Isa Koigen und ihrem Mann Moissej Lurie gepflegt. Wenn ich nur Ihre nunmehr eingestandenen Treffen zusammenzähle, dann haben Sie einander innerhalb von drei Jahren mindestens zwanzig Mal besucht. Das bedeutet, mehr als sechs Mal im Jahr oder alle zwei Monate. Wenn ich meinen eigenen Kalender durchgehe, finde ich außer nahen Verwandten und engsten Freunden niemanden, den ich alle zwei Monate besuche. Sie haben persönliche Sachen mit Lurie nach Moskau geschickt. Sie haben Ihre Kinder zu den beiden nach Hause bestellt, damit sie sich Essen und Geld abholten. Sie haben ihnen ein Grammophon mitsamt Schallplatten verkauft. Sie waren mehrfach bei Abenden, auf denen getrunken und getanzt wurde. – Muss man nicht sagen, dass Isa Koigen und Moissej Lurie zu Ihren engsten Freunden zählten? Zu den Menschen, denen Sie am meisten vertraut haben?
Das ist möglich.
Bürgerin Umnitzer! Sie haben in Ihrem Lebenslauf anlässlich des Antrags auf Überführung in die KP d SU (B) die Unwahrheit gesagt. Sie haben die Partei in Ihrer Erklärung in der Angelegenheit Emel aufs gröbste belogen. Sie lügen, Sie beschönigen, streiten ab. Wäre es nicht an der Zeit, die Wahrheit zu sagen?
Es wird kälter. Der Himmel in ihrem Nordfenster leuchtet erst morgens gegen halb neun. Noch um halb zehn müssen sie das elektrische Licht anmachen. Allerdings frühstücken sie auch erst um elf, ihre Zeiten haben sich Stück um Stück verschoben. Wilhelm geht nicht mehr in die Bibliothek, stattdessen gehen sie gemeinsam spazieren. Danach ist noch eine qualvoll lange Stunde zu überstehen, bevor sie die Treppen zum Restaurant hinabsteigen, um zu prüfen, ob jemand fehlt.
Wer fehlt, ist Chang.
Niemand scheint es zu bemerken. Die Tischgespräche sind so heiter wie eh und je, fast scheint es, als wollten die Übriggebliebenen den Verlust durch Lautstärke wettmachen. Sogar der verrückte Murray brabbelt, von keinem beachtet, seine Lobesworte über der Vorsuppe, als wäre sein Tischnachbar noch da.
Nicht, dass Charlotte ihm besonders nachtrauert, und doch erschüttert sie gerade Changs Ausbleiben. Vielleicht ist es die Zahl drei: der Übergang vom Paar zur Reihe. Jedenfalls ist aus der Befürchtung, dass Schock und Nowosielski nicht die Letzten waren, plötzlich die Gewissheit geworden, dass auch Chang nicht der Letzte gewesen sein wird.
Am Abend ertappt sie sich dabei, wie sie prüft, ob genügend frische Unterwäsche bereitliegt. Sie platziert die kleine Tasche griffbereit, für den Fall, dass man keinen Koffer mitnehmen darf (auch der Mann, den die Lederjacken in die Lubjanka führten, hatte keinen Koffer dabei).
Bevor sie schlafen geht, räumt sie noch rasch das Zimmer auf, damit sie sich nicht schämen müsste, wenn ein Fremder es überraschend beträte.
Dann legt sie sich unter die toten Sterne, und das Verhör beginnt.
Bürgerin Umnitzer, Sie waren eng mit dem überführten und verurteilten Volksfeind Moissej Lurie und der überführten und verurteilten Volksfeindin Isa Koigen befreundet. Dennoch behaupten Sie, dass Ihnen niemals irgendeine verbrecherische oder feindliche Äußerung aufgefallen ist.
Die Blümchenkunst fällt ihr ein: Stalin-Porträt. Aber ist das eine feindliche Äußerung?
Bürgerin Umnitzer, eine solche Äußerung ist nicht nur herablassend dem Genossen Stalin gegenüber, sondern auch gegenüber den Gartenarbeitern, die dieses Porträt in mühevoller Arbeit und tiefer Verehrung geschaffen haben. Es zeugt von heimlicher Verachtung gegenüber der Arbeiterklasse, die unter ungeheuren Opfern den Sozialismus aufbaut. Es zeugt von heimlicher Verachtung gegenüber der Diktatur des Proletariats, die unter der Führung des Genossen Stalin in diesem Lande verwirklicht wird. Es zeugt von einer kritizistischen, bürgerlichen und ablehnenden Haltung der Sowjetunion gegenüber, die letztlich die ideologische Grundlage für den Trotzkismus darstellt. Der Ausdruck «Blümchenkunst» ist kein Verbrechen. Aber er ist ein Zeichen. Er ist die Oberfläche, hinter der eine verbrecherische Haltung sichtbar wird.
Das habe ich bisher so klar nicht gesehen.
Wie stehen Sie persönlich zu dem Ausdruck «Blümchenkunst»?
Ich hatte, wie gesagt, noch keine klare Haltung bezogen.
Sie sind jedoch bereit, solche Äußerungen zu überhören oder sogar zu entschuldigen. Oder drückt sich darin vielleicht ein heimliches Einverständnis aus?
Ich hatte es bisher als eine Frage des Geschmacks verstanden.
Bürgerin Umnitzer, haben Sie sich selbst schon abfällig über den Genossen Stalin geäußert? Oder haben Sie feindliche Gedanken gehabt, die Sie nicht geäußert haben? Führen Sie die Existenz eines Doppelzünglers?
Ich habe mich immer bemüht, die Beschlüsse der Partei zu studieren und zu verstehen.
Bürgerin Umnitzer, haben Sie je an der Politik der Parteiführung gezweifelt? Haben Sie die Notwendigkeit der Parteisäuberungen in Frage gestellt? Haben Sie den Maßnahmen des NKWD zur Sicherung der Errungenschaften unseres Arbeiter- und Bauernstaates mit Misstrauen gegenübergestanden?
Ja, ich habe gezweifelt.
Ich habe in Frage gestellt.
Ich habe die Partei belogen.
Ich habe meinen Lebenslauf geschönt und falsche Erklärungen abgegeben.
Ja, ich bin eine Lügnerin, eine Betrügerin. Meine Überzeugungen sind schwach. Mir fehlt der Klassenstandpunkt. Ich bin schlecht. Ich bin unzuverlässig. Ich bin für die große Sache des Sozialismus nicht geeignet …
Das alles wird sie natürlich nicht sagen.
Sie wird nichts sagen von Blümchenkunst. Nichts davon, dass sie es noch immer nicht zustande bringt, Isa Koigen als Volksfeindin zu betrachten. Sie wird niemals zugeben, dass sie Alexander Emel bewundert hat. Sie wird nie im Leben zu jemandem davon sprechen, was sie empfunden hat, als er beim Tanzen seine weißen Jesushände um ihre Taille legte. Sie wird weder von ihren konterrevolutionären Schuhen sprechen noch von ihrem Verdacht, dass Sowjetmenschen Hunde gegessen hätten. Sie wird niemandem sagen, dass sie den Namen Stalin bei ihrem Eintritt in die Kommunistische Partei nicht kannte. Und dass sie Trotzki bis heute für den militärischen Führer der Revolution hält.
Erst recht wird sie niemandem je davon erzählen, wie sie Wilhelm betrogen hat. Nie wird sie eingestehen, dass es Momente gab, da sie sich gewünscht hat, ihn nie kennengelernt zu haben, ihm nicht in die Sowjetunion gefolgt zu sein. Dass es sogar Momente gab, in denen sie bereut hat, dass sie Mitglied der Kommunistischen Partei wurde. Sie wird abstreiten, beschönigen, lügen. Sie hat schon immer gelogen, ihr Leben lang. Ja, sie hat den Füllfederhalter ihres Bruders benutzt. Ja, sie hat das Linoleum in der Küche zerstochen. Ja, sie hat zehn Pfennige aus dem Portemonnaie der Mutter gestohlen und sich ein Stück weiße Schokolade gekauft. Hatte ihre Mutter nicht recht? Ist sie nicht von Kindheit an verlogen, eigenbrötlerisch, unbelehrbar gewesen? Wohnte nicht schon immer dieses andere, Schlechte in ihr? Das Schlimme, das man vor allen verbergen muss.
Bürgerin Umnitzer, Sie waren eng mit dem überführten und verurteilten Volksfeind Moissej Lurie und der überführten und verurteilten Volksfeindin Isa Koigen befreundet. Sie waren außerdem bekannt mit dem überführten und verurteilten Volksfeind Abramow-Mirow und dem überführten und verurteilten Volksfeind Boris Melnikow. Sie waren außerdem gut bekannt mit der überführten Volksfeindin Hilde Tal. Sie waren umgeben von Volksfeinden. Dennoch wollen Sie niemals etwas von feindlichen Aktivitäten bemerkt haben. Bleiben Sie bei dieser Aussage?
Dabei bleibe ich.
Bürgerin Umnitzer, es ist nicht glaubwürdig, dass Sie nichts von der konterrevolutionären Tätigkeit in Ihrem unmittelbaren Umfeld bemerkt haben, keine Äußerungen, keine Anzeichen, keine Verdachtsmomente. Die Tatsache, dass Sie nichts darüber sagen wollen, beweist, dass Sie selbst in diese Tätigkeiten verstrickt sind.
Ja, ich war auf dem Dachboden und habe mit dem Weihnachtsschmuck gespielt. Ja, ich bin wieder mit Peter Schuhmann hinter der Remise gewesen und, ja, wir haben wieder Schnee gegessen. Ja, ich habe ihm erlaubt, mit seiner kalten Hand meinen nackten Po zu berühren. Ja, ich habe das Öl vergossen. Ja, ich habe das Licht nicht ausgemacht. Ich habe schlimme Worte gesagt. Ich habe meinem Bruder gewünscht, dass er mit dem Fahrrad verunglückt. Ich habe gegen das vierte Gebot verstoßen, aber nur im Fall meiner Mutter. Und gegen das siebte Gebot. Und gegen das achte. Und zehnte. Und Pfarrer Wuthenow, der alles weiß und dessen Stimme wie ein großes Insekt im hohen Kirchenschiff schwirrt, Pfarrer Wuthenow wird mich an der Hand nehmen und mich zu der kleinen Türe führen, links neben dem Altar, und die Treppe hinab in den winzigen Raum, wo der Fußboden schwarz ist vom Blut der Erschossenen.
Bürgerin Umnitzer, geben Sie zu, dass Sie ein Volksfeind sind?