3 Tag der Verfassung
– Hilde –
Hilde kriecht auf die Pritsche. Inna, die andere Lettin, hat sie freigemacht, als man sie hereintrug. Nicht mal die Pritschen reichen für alle. Inna rückt ans Fußende, Hilde schläft sofort ein, trotz der Schmerzen. Wacht irgendwann wieder auf, entsetzlicher Durst.
Trink, sagt Inna.
Erst jetzt merkt sie, dass ihre Lippe geschwollen ist, sie weiß nicht, wovon. Musik aus der Ferne, sie hat schon Halluzinationen. Aber Inna sagt, Tag der Verfassung, sie feiern draußen, 6. Dezember.
Wie lange war ich weg?
Dreißig Stunden, sagt Inna. Und Hilde sagt:
Artikel 119. Die Bürger der U dSSR haben ein Recht auf Erholung.
Inna lacht nicht.
Hilde dreht sich mühsam auf die Seite, sie rechnet nach, dreißig Stunden, es muss Abend sein, acht oder neun Uhr, das Licht ist noch an, die Frauen reden. Sie versucht, wieder einzuschlafen, schlafen, schlafen, sonst halte ich das nicht durch, sie krümmt sich, zieht die dünne Decke über die Ohren. Es hilft nichts. Hundertvierzig Frauen in der Zelle, die Hölle. Streitereien, Beschuldigungen, Fraktionen, es hört einfach nicht auf. Deutsche, Letten, Russen. Frauen von Volkskommissaren, mein Mann war niemals Trotzkist! Halten sich für unschuldig, die dummen Hühner. Aber am Ende gestehen sie alle. Am Ende haben sie alle unterschrieben. Fünf Jahre Arbeitslager, acht Jahre Arbeitslager, Standard für Frauen von Volksfeinden. Aber sie ist nicht die Frau eines Volksfeindes. Sie ist es selbst.
Nein, sie wird nichts gestehen, nichts unterschreiben. Schlagt mich tot, dann brauche ich eure Fressen nicht mehr zu sehen. Jetzt weiß sie wieder, woher sie die dicke Lippe hat. Mörderfressen. Verräter. Jetzt muss sie zum Kübel, verdammt. Spät am Abend sind die Kübel randvoll, hundertvierzig Frauen, trotzdem fragt man sich, wo das alles herkommt, was scheiden die aus, wo es kaum was zu fressen gibt.
Hilde schafft es mit Mühe, den Hintern zu heben, ihr Geschäft zu verrichten, ohne mit dem Rand des Kübels in Berührung zu kommen. Die Füße schmerzen, die Beine, alles. Dreißig Stunden stehen: bis zum Umfallen. Jetzt rächt sich das Übergewicht.
Ach Julius, wenn du wüsstest.
Sie kriecht zurück zur Pritsche, zieht die Decke über die Ohren. Die Schmerzen sind nicht das Schlimmste. Die Demütigungen sind schlimmer, die Beschimpfungen, dass sie sich von diesem Arsch ins Gesicht schreien lassen muss, dass sie sich an den Haaren hochziehen lassen muss, wenn sie umfällt. Nie wird sie Julius das erzählen. Nie wird sie ihm erzählen, wie die mit ihr umgegangen sind. Wie mit einem Stück Scheiße.
Sie macht sich ganz rund und klein. Das rechte Bein noch ein bisschen weiter nach vorn, damit es nicht auf das linke drückt. So ist es gut. So liegen bleiben, mehr Wünsche hat sie nicht. So bleiben, sich klein machen … verschwinden … nur für ein Weilchen. Nein, sie wird nicht gestehen. Wie wollt ihr mich verurteilen, Dreckskerle, Ausgeburten, euch wird noch das Lachen vergehn …
Neben ihr wird gekichert, geschimpft, ein Blechnapf fällt auf den Fußboden, unglaublicher Lärm. Jemand verkauft Zigaretten … Oh ja … Nachher eine rauchen, wunderbarer Gedanke.
Als sie wach wird, fühlt sie sich wie begraben. Jemand rüttelt an ihrem Knie, sanft, aber schmerzhaft: Inna, die immer noch am Fußende sitzt, Inna ist dran mit Schlafen, denkt Hilde. Aber sie kann nicht. Ein Berg von Trümmern auf ihrer Brust. Ihr Kopf fühlt sich an wie Beton, eine riesige Betonkugel, vollkommen unmöglich, aufzustehen, das Gleichgewicht zu halten. Noch fünf Minuten, Inna, nur noch fünf Minuten.
Aber Inna sagt: Du musst aufstehen.
Sie öffnet die Augen. Die Funzel an der Decke brennt. Von der Zellentür her fällt Licht ein.
Davor, unbeweglich, die Silhouette eines Uniformierten.