5 Totentanz
– Charlotte –
Am 1. Dezember, mitten in der Nacht, hört Charlotte Schritte. Um kurz vor halb vier kommen sie, um Viertel vor fünf gehen sie wieder.
Am nächsten Tag fehlte Pedro Marchista beim Essen.
Seitdem ist es still geworden am spanischen Tisch. Die beiden übriggebliebenen Genossinnen versuchen, Haltung zu bewahren, aber mit der demonstrativen Fröhlichkeit ist vorbei. Welche von beiden war eigentlich mit Pedro zusammen – Carmen oder Luisa?
Es ist das erste Mal, das Charlotte sich das fragt. Sie versucht, sich vorzustellen, zu welcher von beiden Pedro passt, aber zu ihrer Überraschung muss sie feststellen, dass sie sich kaum noch an Pedro erinnern kann. Nicht besonders groß, schwarzhaarig, eine irgendwie imposante Nase. Aber es gelingt ihr nicht, sein Gesicht in der Vorstellung scharfzuziehen. Täglich hat sie ihn gesehen, täglich saß er ihr gegenüber. Sie hätte geglaubt, dass sie ihn lebenslänglich nicht mehr vergisst – und schon ist er verschwunden. Wer war er eigentlich? Warum kam er in die Sowjetunion? Warten irgendwo Eltern auf ihn? Freunde? Kriegen sie einen Brief? Was würde wohl da drinstehen?
Sie betrachtet die beiden Spanierinnen: Carmen, die wirklich wie eine Carmen aussieht mit ihren schönen, ungezupften Augenbrauen und einem Hals, der immer so gerade ist, als würde sie irgendwas auf dem Kopf balancieren. Dagegen
Luisa in changierendem Blond, aber mit dunklem Teint, dem auch das russische Klima nichts anhaben kann. Wird sie sich an ihre Gesichter erinnern, falls sie verschwinden sollten? Oder falls sie selbst verschwindet.
Und Murray? Murray führt wieder irgendwelche Selbstgespräche, über die Suppe gebeugt wie ein Gnom. Sommersprossig und rothaarig, das hätte sie noch sagen können. Und auch den altmodischen, gekringelten Backenbart kann man kaum vergessen. Aber das eigentliche Gesicht, diese breite, lausbübische Fratze …
Probehalber versucht sie, sich Provost vorzustellen, bevor sie zu ihm hinsieht: die Augen recht eng um die Nase platziert, viel Platz ist nicht in diesem Gesicht; das Kinn irgendwie lang; die schon etwas schütteren Haare locker nach hinten gelegt. Augenfarbe? Sie weiß es nicht …
Blau, stellt sich heraus. Das Kinn ist nicht so lang wie erwartet. Dafür ist seine Stirn auffällig hoch, der Haaransatz weit nach hinten gerutscht. Bei genauer Betrachtung seiner Frisur sieht man, dass Haarfestiger zum Einsatz gekommen ist. Das Interessante: Provost wirkt auf den ersten Blick eher streng, zugeknöpft, was womöglich dadurch verstärkt wird, dass er trotz seiner erheblichen Körperlänge stets aufrecht am Tisch sitzt. Der Eindruck verblasst aber, sobald Provost sich jemandem zuwendet, genauer gesagt, einer Frau, in diesem Falle Clara Sondermann. Nicht, dass sein Lächeln schön zu nennen wäre, aber es hat, vielleicht weil es sich jedes Mal die Mühe macht, die großen Zähne zu entblößen, eine gewisse Intensität. Auch sein Blick, sein beim Zuhören schräggeneigter Kopf, seine krausgezogene Stirn vermitteln den Eindruck von aufrichtigem Interesse.
Clara Sondermann sitzt leider mit dem Rücken zu Charlotte – und wieder muss sie feststellen, dass sie von ihrem
Gesicht allenfalls eine Ahnung bewahrt hat. Irgendwie mild, durchscheinend, helläugig. Sie sieht nur die Ohren, deren Läppchen bis zum äußersten unteren Ende am Hals angewachsen sind und Falten ziehen. Was für hässliche Ohren! Kann ein Mann eine Frau lieben mit solchen Ohren?
Die Frage stellt sich, weil aus dem Zimmer von Provost neuerdings Geräusche zu hören sind, die man eigentlich nur als die unterdrückten Laute der Liebe deuten kann: gequetschtes, stoßweise aus den Leibern gepresstes Stöhnen. Es tritt nicht jede Nacht auf, aber wenn, dann zeugt es von geradezu kränkender Ausdauer. Stundenlang, so kommt es Charlotte vor, und mit maschineller Gleichmäßigkeit wird dort etwas vollzogen, während Wilhelm und sie schlaflos in getrennten Betten liegen.
Überhaupt plagt die Schlaflosigkeit sie immer mehr, selbst wenn es nebenan still ist. Wirklich still ist es allerdings nie. Die Nacht ist voller Geräusche. Irgendwo geht irgendwer. Ein Auto hält vor dem Hotel. Manchmal glaubt sie, den Fahrstuhl zu hören. Plötzlich raschelt es mitten im Zimmer.
Die Mäuse, sagt Wilhelm.
Sie schlafen spät ein, werden spät wach. Ihre Spaziergänge werden mit zunehmendem Frost immer kürzer, inzwischen genügen ihnen zwanzig Minuten, bevor sie zum Mittagessen gehen, um ihre tägliche kleine Vorstellung zu geben. Kaum dass sie wieder auf dem Zimmer sind, werfen sie sich aufs Bett und schlafen ein, was dazu führt, dass sie immer später zu Bett gehen, immer später aufstehen, ein verhängnisvoller Kreislauf.
Am 6. Dezember fehlt John Murray. Es ist der Tag der Verfassung, draußen herrscht Festtagsstimmung. Es ist ein bisschen wärmer geworden, frischer Schnee segnet die Dächer der Stadt, die kommunistischen Großbauten und die
Kirchenkuppeln. Der Danton auf dem Platz der Revolution hat ein albernes weißes Hütchen bekommen. Von überall her dringt Musik. Auf dem endlich wieder gepflasterten Platz vor dem Bolschoitheater wird getanzt.
Das Gesicht von John Murray kriegt sie einigermaßen zusammen: lausbübisch, sommersprossig. Sie hat ihn nie gemocht. Er war falsch, er war irre. Vollkommen ungeeignet für den Dienst, findet Charlotte. Die Kellnerin räumt sein Gedeck wieder ab, ihr kann es nur recht sein: Noch einer weniger. Kurz bleibt sie stehen, schaut sich um und zählt, Charlotte sieht es, mit spitzem Kinn die Übriggebliebenen.
Wenige Tage später erhöht sich die Zahl der Talon-Esser allerdings wieder. Denn plötzlich taucht Sepp auf, das Faktotum von der Fälscherbrigade. Stumm bahnt er sich seinen Weg durch Stühle und Tische, den verbliebenen Arm schräg vor sich her tragend wie ein Elefant seinen Rüssel. Sucht sich den ehemaligen Platz von Murray aus. Setzt sich und grüßt Charlotte.
War das ein Gruß? Der Blick, das kaum merkliche Senken des Kopfes?
Sie wendet sich erschrocken ab, bedauert es im nächsten Augenblick, wendet sich ihm wieder zu, aber da ist Sepp schon in die Speisekarte vertieft, auf der Gerichte stehen, die fast alle nicht zu bekommen sind.
Am nächsten Tag gelingt es ihr, seinen Blick zu erhaschen, sie tauschen einen stillen Gruß. Seitdem hegt sie den Wunsch, mit Sepp zu sprechen, vielleicht, dass er etwas weiß. Aber wie, ohne dass Wilhelm es merkt? In ihrer sinnentleerten, kreisenden Existenz gibt es kaum Schlupfwinkel. Sie müsste herausfinden, in welchem Zimmer er wohnt. Sie müsste Alleingänge wagen, für die es keine Begründung gibt. Sie müsste zielgerichtet und konspirativ handeln, aber dazu fehlt ihr die
Entschlossenheit. Zu lange schon dümpelt sie an Wilhelms Seite durch den Tag, zwei Rettungslose, die sich aneinanderklammern, aber einander nicht helfen können.
Und doch ist es besser als das Alleinsein. Jetzt, da ihr vor Augen steht, dass sie getrennt werden könnten, ist ihr Wilhelms Nähe keineswegs lästig, im Gegenteil. Sein schlichtes Da-Sein tut ihr gut. Sein gelegentliches Schniefen, sein Schnarchen beim Mittagsschlaf, ja, sogar die Geräusche, die aus dem Bad kommen, haben aufgehört, sie zu stören. Es rührt sie, wie er seine Verzweiflung vor ihr zu verbergen sucht. Sie schämt sich für alles, was sie ihm heimlich angetan hat. Umso mehr kann sie seine Treue schätzen.
Oft denkt sie an die fast fünfzehn Jahre, die sie mit ihm zusammengelebt hat, erinnert sich an ihre Motorradausflüge nach Königs Wusterhausen. An den Geruch des Havelwassers in ihren Haaren; an die Gänsehaut, wenn sie im klatschnassen Badeanzug nach einer Bockwurst anstand. Sie erinnert sich an ihren «Hochzeitsabend» im Hotel Vier Jahreszeiten in Hamburg (Hochzeitsabend hieß, dass Wilhelm ihr einen Pass auf den Namen Germaine und ein Einreisevisum für die Sowjetunion besorgt hatte). Sie erinnert sich, wie sie in den Vier Jahreszeiten einen Lachkrampf bekam, als sie die Blumenvase umkippte und der überkandidelte Kellner sich dafür bei ihr
entschuldigte. Sie erinnert sich an vieles, das schon vergessen schien. Sie ist froh, dass sie sich erinnert; dass das alles stattgefunden hat. Selbst der Deutches Reich-
Stempel entlockt ihr ein Lächeln. Aber wenn sie aus ihren Erinnerungen auftaucht, findet sie sich in ihrem Luxusgefängnis wieder.
Hin und wieder meldet sich Wassili Wassiljewitsch Ulrich in ihrem Kopf. Aber sie sind alles schon x-mal durchgegangen. Sie hat ihre Lügen gestanden. Ihre kleinen Fälschungen
zugegeben. Ihre kleinen Ausreden aufgegeben. Sie hat gestanden, dass sie nicht wachsam genug war, dass sie manchmal gezweifelt hat.
Sie ist keine gute Genossin, und sie würde es akzeptieren, wenn die Partei sie bestraft, sie sogar ausschließt. Aber wie kann sie zugeben, dass sie ein Volksfeind ist? Wie kann sie zugeben, dass sie von irgendwelchen konterrevolutionären Aktivitäten gewusst hätte? Wie kann sie zugeben, geheime Nachrichten transportiert oder Anschläge vorbereitet zu haben? Das kann sie nicht zugeben, allein schon ihrer Kinder wegen.
Bürgerin Umnitzer, glauben Sie wirklich, Sie würden die Situation Ihrer Kinder verbessern, wenn Sie weiterhin lügen?
Aber ich sage die Wahrheit.
Bürgerin Umnitzer, versuchen Sie, mich zu verstehen. Sie haben uns die ganze Zeit belogen. Sie haben noch nicht ein einziges Mal aus freien Stücken die Wahrheit gesagt. Warum sollten wir Ihnen glauben?
Mitte Dezember fehlen Carmen und Luisa. Am Abend danach bleibt Charlotte angekleidet auf ihrem Bett liegen. Bisher sind sie nach dem Ende des Radioprogramms aufgestanden, zuerst Wilhelm, dann Charlotte, sind nacheinander ins Badezimmer gegangen, haben sich umgezogen und schlafen gelegt – um dann doch wach zu liegen und auf die Stunde zu warten. In dieser Nacht aber beschließt Charlotte nach dem Zähneputzen, sich wieder anzukleiden: Im Fall der Fälle möchte sie nicht im Schlafhemd angetroffen werden. Wilhelm macht es ihr nach, kommentarlos.
Also bleiben sie liegen bis um halb fünf, lassen ihre Nachttischleuchten brennen.
Am nächsten Tag entschließt sich Charlotte, Werner zu treffen, und zwar bald, noch vor Weihnachten. Werner klingt am Telefon frech und fröhlich wie immer, und so erscheint er auch zwei Tage später im Café Roter Mohn. Er nimmt nicht mal die Pelzmütze ab beim Eintreten, die beiden Ohrenklappen stehen störrisch von seinem Kopf ab. Seine Bewegungen sind entschlossen und zielgerichtet; mit wenigen Schritten ist er bei ihr, die Winterluft hinter sich herwirbelnd.
Er knallt seine Pelzmütze auf den Tisch. Charlotte verkneift es sich, ihn deswegen zu ermahnen.
Im Gegensatz zu Kurt ist Werner nicht nur blauäugig, sondern auch blond. Obendrein ist er groß, stark und gerade gewachsen, mit anderen Worten: Er entspricht hundertprozentig dem Ideal, das in Deutschland gerade propagiert wird. Was nichts daran ändert, dass Werner ein auffallend schöner Mensch ist. Und seine Schönheit entspringt nicht etwa der mütterlichen Einbildungskraft, auch die Genossen der Berliner Agitprop-Abteilung müssen das so gesehen haben. Vor vier Jahren war Werner, siebzehnjährig, auf unzähligen Wahlplakaten der KPD
in Berlin zu sehen, gewissermaßen als Beweis dafür, dass man groß, blond und blauäugig sein kann – und doch Kommunist.
Man möchte sich nicht vorstellen, was die Nazis mit Werner anstellen würden, wenn man ihn nach Deutschland abschöbe. Zum Glück ist er inzwischen Russe, genauer gesagt, Sowjetbürger. Abschieben können sie ihn kaum, aber was, wenn sie, Charlotte, verurteilt wird? Vater unerwünscht, Mutter verhaftet …
Die Kellnerin bringt eine Karte und wendet sich unvermittelt an Werner: Bürger, nehmen Sie Ihre Mütze vom Tisch,
das verstößt gegen die Hygiene. Und hängen Sie Ihre Sachen an der Garderobe auf.
Werner, die Kellnerin mit Blicken anhimmelnd: Aber natürlich, Schönste, wer könnte Ihnen widerstehen!
Die Kellnerin wendet sich ab, unentschlossen, ob sie beleidigt sein oder sich geschmeichelt fühlen soll. Werners Russisch ist fehlerfrei, aber im Gegensatz zu Kurts noch immer mit deutlichem Akzent.
Ich freue mich, dass du gekommen bist, sagt Charlotte.
Ich mich auch, sagt Werner.
Charlotte überlegt, wie sie es anfangen könnte. Sie würde gern mit ihm über sein Leben sprechen. Auch über seine Zukunft. Kurt hat ihr erzählt, Werner arbeite seit einer Weile beim Metro-Bau, nicht als freiwilliger Helfer, sondern regulär, Akkordarbeit, Schicht. Er verdiene dreimal so viel wie Kurt, trinke jedoch, treibe sich Abend für Abend mit fragwürdigen Gestalten herum. Charlotte stellt sich Bauarbeiter als raue, ungebildete Kerle vor. Lieber wäre ihr, Werner würde studieren. Aber kann sie das sagen? Müsste sie nicht, ganz im Gegenteil, stolz sein auf ihren Sohn? Angehöriger der Arbeiterklasse, Held des Generalplans.
Wie geht es denn so auf der Baustelle?, fragt Charlotte.
Bombe, sagt Werner auf Deutsch. Gerade haben wir unseren Brigadier hochgehen lassen, das Schwein.
Soso, sagt Charlotte. Sie könne sich schon vorstellen, dass da ein rauer Umgangston herrsche, aber gewiss seien die Metro-Erbauer gute Genossen …
Ja, sagt Werner. Lauter Halunken und Taugenichtse. Er lacht. Einige seien ganz in Ordnung.
Ob denn viel getrunken werde, will Charlotte wissen.
Nur nach Feierabend, entgegnet Werner. Auf der Baustelle trinken wir nie.
Charlotte versucht es mütterlich-diplomatisch: Sie habe natürlich nichts dagegen, dass er sich amüsiere, solange es im Rahmen bleibe. Aber sie kenne ihn ja, er habe mitunter eine ausschweifende Art. Vielleicht sei es in diesen Zeiten angebracht, etwas zurückhaltender zu sein. Sich zu überlegen, was man sage, mit wem man Umgang habe …
Werner scheint nicht zu verstehen. Vergnügt futtert er seine Pelmeni. Ihr besorgter Tonfall prallt an ihm ab, und allmählich beginnt Charlotte, sich zu fragen, ob das, was Kurt über ihn erzählt hat, nicht vielleicht übertrieben sei.
Man hört, dass du mit einer sehr jungen Frau zusammen bist.
Hat Kurt dir erzählt?
Nein, lügt Charlotte, das habe ich über drei Ecken erfahren.
Sie ist sechzehn, sagt Werner. Ich bin zweiundzwanzig. Worin besteht das Problem? Vater war fünf Jahre älter als du. Wie alt ist Wilhelm?
Darum geht es nicht, sagt Charlotte.
Worum geht es dann? Darum, dass ich vorher mit ihrer Mutter zusammen war? Hast du das auch über drei Ecken erfahren?
Werner zieht die zweite Portion Pelmeni zu sich herüber und beginnt, sie zu vertilgen. Er ist nicht wütend, nicht mal aufgebracht. Er isst ohne Gier, blickt hin und wieder vom Teller auf, betrachtet die aufgespießten Teigtaschen, bevor er sie in den Mund schiebt, und manchmal scheint es, als spreche er mit ihnen, nicht mit Charlotte.
Es stimmt, sagt Werner. Es ist wahr. Ich habe zuerst ihre Mutter kennengelernt. Die war sechsunddreißig, sieh mal an! Und ich hatte was mit ihr. Ist das jetzt verboten? Oder hätte ich gleich bis zum Lebensende mit ihr
zusammenbleiben müssen? Das wusste ich nicht. Manche trennen sich ja, obwohl sie zwei Kinder haben. Es gibt ja angeblich Mütter, die ziehen zu Hause aus und überlassen ihre minderjährigen Kinder dem Vater. Ich habe dir niemals Vorwürfe gemacht. Ich war zwölf, als du ausgezogen bist, Kurt war zehn. Von da an haben wir uns die Schulbrote selber geschmiert und die Knöpfe angenäht. Nein, war keine Katastrophe. Erwin hat uns jeden Monat zwanzig Mark zum Einkaufen gegeben, und was wir eingespart haben, das wurde in Kino umgesetzt. Wir sind allein in die Sowjetunion, da war Kurt fünfzehn, ich siebzehn. Erwin noch in Deutschland und du irgendwo da draußen auf deinem Punkt Zwei. Wir kannten die Sprache nicht, hatten keine Freunde, keine Arbeit. Ich konnte nicht mal den Stadtplan lesen. Ich wusste nicht, was ich fressen soll. Ich werfe dir nichts vor, Mutter. Ich verlange nicht, dass du dich um mich kümmerst. Aber mach mir bitte keine Vorschriften, wie ich leben soll.
Im ersten Moment glaubt Charlotte, empört zu sein, aber sie weiß es nicht genau. Ist sie wirklich empört? Oder glaubt sie, empört sein zu müssen? Soll sie einen mahnenden Ton anschlagen? Soll sie weiter die Mutter spielen, oder steht ihr diese Rolle nicht zu? Soll sie die Gegenargumente aufzählen?
Dass sie ihm die Wohnung in Moskau besorgt hat, fällt ihr ein. Dass sie eine Zeitlang sogar die Miete bezahlt hat. Dass er nicht zwölf war, als sie ging, sondern fast sechzehn. Soll sie ihn erinnern an die gemeinsam verbrachte Zeit in Berlin? An die Badeausflüge mit der BMW
R 32. An die Wochenenden in Hamburg oder Cuxhaven. Auch ist sie sicher, dass sie durchaus Knöpfe angenäht und Socken gestopft hat, bevor diese Gerda bei Erwin einzog … Sie könnte vieles sagen.
Sie sagt nichts. Sie starrt die Tischdecke an, die Teeflecken, die Krümel … Da wird es plötzlich laut. Werner hört auf zu essen. Zwei Milizionäre stehen im Café. Die Kellnerin zeigt auf einen Jungen, den der Milizionär am Arm festhält. Charlotte versteht nicht, was da durcheinandergesprochen wird. Sie betrachtet den Jungen, er ist vielleicht zwölf, kurzgeschoren mit Segelohren. Schmutzig, in Lumpen. Zu große Schuhe. Sieht zu Boden, schweigt.
Charlotte merkt, wie ihr die Tränen in die Augen schießen.
Jetzt heul nicht, Mutti, sagt Werner. Es ist alles gut.
Sie holt ihr Portemonnaie aus der Handtasche, aber Werner besteht darauf, selbst zu bezahlen.
Am 25. Dezember fehlt Clara Sondermann mit den hässlichen Ohren. Erstaunlicherweise hören die Geräusche im Nebenzimmer nicht auf.
Am 29. Dezember wird ein vier Meter hoher Tannenbaum im Restaurant des Metropol aufgestellt.
Am 30. Dezember fällt das Talon-Essen aus, weil man den Saal dekoriert für den großen, feierlichen Silvesterball.
Natürlich haben Charlotte und Wilhelm nicht vor, zum großen feierlichen Ball
zu gehen, obgleich Charlotte in diesem Jahr sogar Eintrittskarten besorgt hat – Ende September, als sie noch im Verlag angestellt war. Einschließlich Bankett, teures Vergnügen. Die Musik ist bis in die vierte Etage zu hören: Jazzmusik. Wilhelm mag keinen Jazz.
Bis Viertel nach elf liegen sie angekleidet auf ihren Betten. Dann schlägt Wilhelm auf einmal vor, doch ins Restaurant zu gehen: Schade, wenn man das schöne Essen verfallen ließe.
Und ist es nicht egal, ob sie hier oben herumliegen oder da unten sitzen?
Bis Charlotte fertig ist, ist es beinahe zwölf, sie schaffen es gerade noch zum Feuerwerk vor dem Hotel. Als die Leute danach ins Restaurant zurückströmen, werden die Eintrittskarten nicht mehr kontrolliert. Sie finden ihre Sitznummern am Rande des Saals, die Plätze werden ohne Murren geräumt. Das Buffet ist schon ziemlich abgefressen, aber es gibt immer noch Plinsen mit Beluga-Kaviar, es gibt Lachs von der Halbinsel Kola, es gibt noch ein wenig kalten Rindsbraten. Es gibt Huhn, Ente, sogar Fasan, weiß der Teufel, woher. Es gibt lauter Dinge, die es sonst nicht gibt, aber auch den berühmten russischen Rote-Beete-Salat (genannt vinigred
); es gibt natürlich Moskauer Salat mit Mayonnaise, es gibt Piroschki, Pelmeni, Wareniki, es gibt ganz wunderbare eingelegte Gurken, köstliches Sauerkraut, ja, es gibt sogar Würstchen, an denen Wilhelm sich gütlich tut, mit einer russischen Variante von Kartoffelsalat, während Charlotte sich an Kaviar und Lachs hält.
Kaum dass sie sitzen, hält der Hoteldirektor eine Rede zum neuen Jahr. Die wenigsten hören zu, manche jedoch mit Tränen in den Augen, andere lachen an unpassenden Stellen. Die Leute haben kleine Hütchen auf, tragen selbstgemachte Kostüme. Die Stimmung ist aufgekratzt, ja, beinahe hysterisch. Dann beginnt eine Tanzshow, die anscheinend «amerikanisch» sein soll. Frauen in erstaunlich freizügigen Paillettenkleidern mit Fransen, Männer in einer Art Cowboykostüm. Das Publikum steht um die Bühne herum, sodass Charlotte und Wilhelm kaum etwas sehen. Aber eigentlich wollen die Leute selber tanzen. Sie zucken im Takt, winden sich, die Gesichter fiebrig, die Blicke irr. Dann endlich ist die Show zu Ende, und sie dürfen sich selbst produzieren.
Charlotte und Wilhelm holen sich Nachschlag und noch ein Glas Sekt und schauen den ausgelassenen, verrückten, betrunkenen Paaren zu, die sich vollkommen regellos zur Jazzmusik bewegen. Sich verdrehen und verbiegen, hopsen, wackeln, springen, schleichen, sich umfassen, umarmen, umherwirbeln, sich aneinander reiben, sich voneinander abstoßen, sich gegenseitig anschmachten oder sich in selbstverliebten Verrenkungen vergessen: ein fetter Mann, der sich vor Trunkenheit kaum noch auf den Beinen halten kann, eine junge Frau, die so selbstbewusst und zielgerichtet agiert, als versorge sie einen Notfall; eine ältere Dame auf kippligen Schuhen wirft sich in expressive Posen; eine magere Strenge macht ein Gesicht, das offenbar zum Schmettern des Saxophons passen soll. Ein schmaler Langer schüttelt sich zum Stakkato des Klaviers – dass es Gaston Provost ist, erkennt Charlotte erst auf den zweiten Blick. Wieder ein anderer schlägt auf seinem Bauch den Rhythmus; ein Dritter imitiert schwitzend die Bewegungen eines Stabhochspringers.
Dann ist es plötzlich drei Uhr, aber was sollen sie auf dem Zimmer? Müde sind sie nicht, und solange sie hier unten sitzen, kann niemand sie abholen, denkt Charlotte. Der sicherste Platz in ganz Moskau. Sie kichert, probiert ein zweites kleines Dessert. Wilhelm holt sich die soundsovielte Bockwurst. Sie trinken ein drittes, ein viertes Glas Sekt. Das Zuschauen weckt in Charlotte einen Bewegungsreiz, dem sie allerdings nur mit den Füßen unter dem Tisch nachgibt.
Aber dann steht plötzlich Sepp vor ihr, der Fälscher von Punkt Zwei, verbeugt sich leicht. Sie liest es ihm von den Lippen ab: Darf ich bitten.
Charlotte sieht zu Wilhelm, dieser macht eine
Handbewegung, die alles bedeuten könnte, aber Charlotte weiß schon, bevor sie sich zu ihm umdreht, dass sie Sepp keinen Korb geben kann, und zwar nicht etwa nur aus Respekt, nicht weil sie eine stille Freundschaft mit ihm verbindet, nicht weil sie ihn heimlich beim Essen grüßt, sondern weil sie im Moment, als Sepp vor ihr stand, gedacht hat: Wie will er denn tanzen? Mit dem einen Arm. Gerade deshalb bleibt ihr nichts anderes übrig, als seiner Aufforderung Folge zu leisten.
Sepp hält sie mit seiner Linken. Alles ist irgendwie verkehrt herum. Er drückt sie fest an sich, so fest, dass sie sich nach hinten biegen muss, damit ihre Nasen sich nicht berühren, wodurch sie sich wiederum an ihm festhalten muss, um nicht nach hinten zu kippen. So ineinander verschränkt und verschlungen, drehen sie sich zwischen den anderen, ein seltsames Paar … Charlotte versucht, die Peinlichkeit niederzukämpfen, die daher rührt, dass sie nicht so tanzen wie alle, sondern irgendwie sonderbar, verkehrt herum, altmodisch, obwohl sie, weiß Gott, keinen Wert darauf legt, mit den fiebrig Zuckenden um die Wette zu zucken. Aber da ist auf einmal Schluss.
Zuerst verendet das Schlagzeug, dann setzt der Bass aus. Das Saxophon quetscht noch einen Rest Luft heraus, das Piano hüpft noch ein paar Stufen abwärts, und plötzlich ist die ganze Kapelle verstummt. Vor der Bühne stehen ein Milizionär, ein Mann in Lederjacke und zwei bewaffnete Soldaten.
Es wird still im Saal.
Man hört den Mann in der Lederjacke einen Namen sagen, es hört sich an wie Geiger
, aber gemeint ist offenbar der Pianist, der langsam aufsteht. Ein schmaler, dunkelhaariger Mann mit tiefen Geheimratsecken. Der Direktor, derselbe, der sich eben an einer sentimentalen Rede versucht hat,
wieselt nach vorn, versucht, mit dem Mann in der Lederjacke zu reden, wird aber von ihm angeschnauzt:
Halt die Fresse!
Jetzt wird offenbar, dass der Mann in der Lederjacke angetrunken ist.
Ab geht es!, schreit er.
Der Pianist steht immer noch hinter seinem Klavier. Jetzt mischt sich der Bassist ein, wendet sich an den Milizionär, es ist nicht zu verstehen, was er sagt, aber ganz offensichtlich protestiert er gegen das Verhalten des Mannes in der Lederjacke, welcher aber die Befehlsgewalt hat. Und dann sagt der Bassist zu dem Mann, und das versteht jeder im Saal:
Sie sind betrunken.
Und der Mann zieht einen Revolver aus der Jacke, richtet ihn auf den Bassisten und sagt: Und du bist verhaftet! Widerstand gegen die Staatsgewalt!
Damit werden der kalkweiße Pianist und der Bassist von den beiden Soldaten abgeführt. Der Mann in der Lederjacke bleibt noch einmal stehen, dreht sich zum Saal und schreit: Weitermachen!
Der Direktor, an den Rest der Kapelle gewandt, wiederholt den Befehl: Weitermachen
!
Und sie machen weiter. Alle machen weiter. Die Kapelle macht weiter. Die Tanzenden machen weiter, auch wenn sie plötzlich wie zuckende Schatten aussehen. Wie Gespenster im knackenden Unterholz. Denn von der Kapelle sind ganze zwei Musiker übrig, der Schlagzeuger und der Saxophonist, denen vor Angst die Hände zittern. Der Saxophonist hat kaum Atem, noch einen Ton hervorzubringen. Das Schlagzeug rasselt wie eine Registrierkasse. Aber Sepp reißt Charlotte an sich, nimmt sie in den Klammergriff seines Arms, walzt mit ihr über die Tanzfläche, wuchtet sie durch
die Reihen, rempelt die erschrockenen Gespenster an, die sich selber nachspielen. Das Schlagzeug rumpelt, ein durchfahrender Güterzug, das Saxophon meldet sich mit einem verzweifelten Schrei, eine Straßenbahn, die um die Kurve biegt, das jämmerlichste Ensemble der Welt, Krächzen und Klappern, Erbsen-Ausschütten, Knirschen von Kieselsteinen, dazu jault ein geprügelter Hund, während Sepp sie mit der Kraft eines Wahnsinnigen umherwirbelt, man weicht ihnen aus, die Gespenster erstarren, Charlotte hat das Gefühl, sie seien die Einzigen, die sich bewegen, die Zeit steht still, das neue Jahr fällt aus, 1937 für immer, anstatt eines Stundenschlags stürzt nur immer wieder der Schraubenschlüssel ins Uhrwerk des Spasski-Turms, das Orchester der Hoffnungslosigkeit spielt für ewig den Walzer der Verdammnis.
Sepp verbeugt sich vor ihr. Er schwitzt. Er verbeugt sich, aber er lässt sie nicht gehen. Hält immer noch ihre Hand. Schaut sie an.
Sie stehen auf der Tanzfläche, bis Charlotte sich losmacht.
Zwei Stunden später knallt es in der vierten Etage. Auf dem Flur hört man Schritte. Stimmengewirr, großes Hin und Her. Charlotte wirft sich den Mantel über und geht hinaus. Geht dorthin, wo eine kleine Menschentraube sich versammelt hat. Gerade kommt ein Arzt. Durch die sich bildende Gasse sieht Charlotte einen Mann im Zimmer auf dem Boden liegen, das Gesicht in einer erstaunlich großen Blutlache. Direkt neben ihm, neben seiner Hand, seiner linken, ein erstaunlich kleiner Revolver.
Anfang Januar setzt mächtiger Schneefall ein. Überall sind jetzt Tannenbäume zu sehen. Die Schaufenster des UNIVERMAG
namens Feliks Dzierżyński sind liebevoll mit faustgroßen Watteflocken dekoriert. Es gibt sogar eine Art Weihnachtsmann: Väterchen Frost, das seinen Arm bewegt, elektrisch.
Verspätete Weihnachtsgefühle. Charlotte denkt an Steglitz. Sie denkt daran, wie ihr die Mutter an Heiligabend das beste Kleid anzog. Sie denkt an das Krippenspiel in der Matthäuskirche, bei dem sie ein Engelchen spielen durfte. Sie denkt an Pfarrer Wuthenow und seine Insektenstimme. Sie erinnert sich an den Geruch in der Kirche, der, so glaubte sie immer, von den Toten im Fußboden kam. Denn da war Jesus begraben. Der Heiland, der sich für uns geopfert hat. Auch für dich, Lotte.
Sie hat keinen Anschlag vorbereitet. Sie wollte nicht Stalin auf der Maiparade erschießen. Sie hat sich nicht mit Vertretern Trotzkis getroffen, hat keine Geheimnisse weitergereicht. Und doch ist sie schuldig. Tief schuldig. Schuldig von Geburt an. Das hat sie begriffen. Sie ist bereit zu gestehen. Sie ist bereit, alles zu unterschreiben. Solange sie ihr garantieren, dass sie am Leben bleibt.
Umerziehung durch Arbeit: Wenn sie ehrlich ist, klang es immer entsetzlich in ihren Ohren. Was hat sie gegen Arbeit? Das ist der wunde Punkt. Das ist es, was sie begriffen hat. Der blinde Fleck. Ihr Geburtsfehler. Geben Sie mir die Chance. Ich werde arbeiten. Körperlich arbeiten, warum nicht? Die Arbeit wird das Alte, Verdorbene in mir ausbrennen. Meine kleinbürgerlichen Wurzeln, meinen Egoismus, meinen Ehrgeiz. Meine Falschheit und meine Lügen. Meine Zweifel. Ich gehöre einer reaktionären und parasitären Klasse an. Meine Vorfahren gehörten einer reaktionären und parasitären Klasse
an. Nie werde ich dem Hochmut verfallen, zu glauben, dass das Umerziehungslager mich zu einer wahrhaften, zu einer gebürtigen Arbeiterin machen kann. Nie werde ich mir anmaßen, zu denken, dass ich die Erfahrung von Ausbeutung und Unterdrückung nachzuholen imstande bin. Nie werde ich mir anmaßen, im Namen der Arbeiterklasse zu sprechen.
Aber ich bin bereit zu lernen. Ich bin bereit, der Sache der Arbeiterklasse zu dienen in Demut und Ergebenheit.
Sie muss eingeschlafen sein, denn sie wird von einem Klopfen an der Tür geweckt: Aufmachen! Volkskommissariat des Innern!
Sie hat es erwartet, sie hat sich den Moment vorgestellt, aber jetzt, da es wirklich passiert, ist es anders. So alltäglich, so klein. Eine krächzende Stimme. Das Klopfen ist nicht das Klopfen der mächtigen Faust des NKWD
, sondern ein schneller, hektischer Knöchelschlag, wie von jemandem, der dringend auf die Toilette muss. Nicht zu glauben, dass das der Moment sein soll, der alles ändert … Sie will aufstehen, zur Tür gehen, aber Wilhelm sitzt schon auf dem Bettrand und legt den Zeigefinger an die Lippen: Psst!
Was hat er vor? Glaubt er, sich der Verhaftung entziehen zu können? Aber da wird die Tür auch schon geöffnet.
Es ist nicht ihre Tür. Es ist das Nebenzimmer. Stimmengewirr, es werden Anweisungen gegeben, Fragen gestellt: Haben Sie Waffen versteckt? Befinden sich weitere Personen in der Wohnung?
Es dauert lange, sehr lange, bis wieder Ruhe eintritt.
Beim Mittagessen sind sie die Einzigen, abgesehen von ein paar unbekannten, neuen Gästen, die näher am Ausgang sitzen. Sie sprechen kaum ein Wort. Sie müssen niemandem mehr etwas vormachen. Die Kellnerin serviert die Suppe. Ob der Bürger noch komme, will sie wissen, mit Blick auf Provosts Platz.
Er kommt nicht mehr, sagt Charlotte.
Die Kellnerin räumt das Gedeck ab: Dass die Leute nicht Bescheid sagen können!
Als sie sich abwendet, steckt Wilhelm ein Stück Brot in die Jacketttasche. Später, als sie sich in ihre allnächtliche Warteposition begeben, holt er den Kanten heraus, reißt ein kleines Stück ab, rollt daraus eine Kugel und platziert sie auf dem Teppich, in der Mitte des Raums. Er selbst legt sich verkehrt herum aufs Bett, bäuchlings und mit dem Kopf zum Fußende. Charlotte begreift, macht es ihm nach. Reglos bleiben sie liegen. Zwei Stunden, drei? Lange.
Dann kommt sie. Die Ratte.