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Unsichtbar

Die Tür schwang auf, Violet betrat das Savoy so zögerlich, als ob sie ihre Schritte in ein unbekanntes Haus setzen würde. Dabei war sie nur zehn Tage fort gewesen. Der sommerliche Strohhut, die dunkle Brille, der Reisemantel waren ihre Verkleidung.

Sie brauchte nicht stehen zu bleiben, um den verschmutzten Fußabtreter mit dem Schriftzug The Savoy zu registrieren. Das musste heute noch behoben werden. Ihr Blick schweifte zur Rezeption. Spätestens jetzt hätte der Chefbutler die eintretende Lady begrüßen und zugleich mit einem unsichtbaren Wink den Pagen zu ihr dirigieren müssen, der sich erkundigte, ob Zeitungen oder Erfrischungen gewünscht seien. Aber dieser Chefbutler war eben nicht Mr Sykes, der alte Meister seines Fachs. Mr Sykes hätte seine Direktorin sofort erkannt und sie nach ihrer Rückkehr willkommen geheißen. Elegant, dabei nachlässig in der Haltung, verharrte Timothy Cordle bei der Rezeption, mit einem Blick, als ob er die Nabe sei, um die sich der ganze Hotelbetrieb zu drehen habe.

Vor ihrer Abreise hatte Violet zugesagt, Mr Sykes wieder in sein früheres Amt einzusetzen und Cordle lediglich auf Probe zu behalten. Vieles war dazwischengekommen, ein ganzes Leben, schien ihr, war seitdem dazwischengekommen. Alles wirkte diesmal anders, es roch anders, fühlte sich anders an. Der Lüster über ihr war immer noch jener gleißende Ring aus Licht, den sie schon als Kind bewundert hatte. Der Klang der Halle umfing Violet wie früher, das leise Klirren des Teegeschirrs, das Knautschen der Ledersessel, die Melodie des Jazztrios, die anschwoll oder abnahm, je nachdem ob ein eilender Kellner die Schwingtür bediente. Die Geigentöne aus dem Wintergarten hingen wie zu allen Zeiten träge in der Luft. Dazu das zarte Singen von den sommerlichen Kleidern der Ladys, der flüchtige Tritt ihrer Absätze auf Marmor, nein, äußerlich hatte sich nichts verändert. Wieso erschien Violet dann alles neu und unvertraut? Früher hatte sie die kleine Symphonie der Lobby als Begrüßungsmelodie genommen, zu deren Klang sie ihr Haus betrat. Heute hatte sich ein ahnungsvolles Moll über das vertraute Dur der eleganten Welt gelegt, die sich im Savoy tummelte.

Es musste an ihr selbst liegen, dachte sie, an ihrer Schwäche, der Unsicherheit und der Angst, die Violet nicht abschütteln konnte. In Berlin hatte sie erlebt, wie leicht ein Mensch zerbrochen und aus seiner Lebensmitte gestoßen werden konnte. War es da verwunderlich, wenn Violet nicht nahtlos wieder an ihr altes Leben anschließen konnte?

Auf den Rat von Max waren sie nicht gleich ins Hotel gefahren, sondern hatten zusammen Scotland Yard aufgesucht und Anzeige gegen den Marquet de la Durbollière erstattet. Violet war unsicher, was diesen Schritt betraf, da sie selbst derzeit Gegenstand von Ermittlungen war. Der Mordfall Ayumi, die grausame Tat der Japanerin war seit Violets Reise zwar aus den Schlagzeilen, nicht aber aus der Welt verschwunden. Max hatte ihr verdeutlicht, dass der eine Fall mit dem anderen nichts zu tun habe und man Durbollière nicht so leicht davonkommen lassen dürfe.

Der Inspector auf dem Yard hatte Violets Angaben zu Protokoll genommen, ihr aber verdeutlicht, dass die britische Polizei im Deutschen Reich keinerlei Befugnis hätte und man die Kollegen aus Deutschland bestenfalls um Unterstützung bitten könne. Nur falls man den französischen Marquet auf englischem Boden dingfest machte, wäre man in der Lage, einzuschreiten.

Max hatte Violet nach Hause begleiten wollen, doch sie trat den Weg zum Savoy lieber allein an.

»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Auf der Straße, wo die Taxis warteten, standen sie voreinander.

»Sag mir einfach, wann wir uns wiedersehen.« Er schob den Hut aus der Stirn.

Violet stieg auf die Zehenspitzen, um ihn auf die Wange zu küssen. »Bald, Max, wenn du willst. Die Reise mit dir …« Sie wusste nicht gleich weiter. »Es war sehr schön. Du hast mich gesund gemacht.«

Sonst nicht um Worte verlegen, schien auch er nach der rechten Antwort zu suchen. »Ich dachte, das lag am Natriumthiosulphat«, sagte er schließlich und nahm sie in seine Arme.

»Ohne dich wäre ich nicht mehr nach England zurückgekehrt.« So standen sie Sekunde um Sekunde, bis Violet sich impulsiv von ihm löste. »Grüß Susan von mir.«

Er trat zurück. »Warum sagst du das?«

»Weil du jetzt nach Hause fährst und deiner Frau von Berlin erzählen wirst, nehme ich an.« Sie wollte ihrer Stimme einen leichten Ton geben.

Max nahm die Brille ab. »Sonderbar.«

»Was ist sonderbar?«

»Wir beide tun so, als ob das Leben jetzt weitergehen könnte wie bisher.«

»Tut es das nicht?« Da er schwieg, sprach sie hastig weiter. »Du hast recht. Es ist wirklich kaum zu glauben, nach allem, was passiert ist. Der Wahnsinn in Berlin, das Feuer und dass du mich gerettet hast …«

»Das meine ich nicht«, unterbrach er sie sanft. »Ich meine die Stunden mit dir im Zug.« Er lächelte. »Ich war mehrmals kurz davor, diese verfluchte Zwischentür zu öffnen.«

»Warum hast du es nicht getan?«

»Ich dachte, Violet ist verwundet, sie ist vergiftet, da darf ich sie nicht wecken.«

»Ich habe nicht geschlafen.«

»Dann hatten wir also beide eine schlaflose Nacht.«

Sie suchten in den Gesichtern des anderen nach einer Antwort und fanden nur Fragen.

»Dann will ich also jetzt heimfahren und Susan von dir grüßen.« Er setzte die Brille auf. »Und du grüß das Savoy von mir.«

»Das mache ich, Max.«

Sie stiegen in zwei Taxis und fuhren ab. Unterwegs konnte sich Violet kaum erklären, warum sie so traurig war.

Unerkannt erreichte sie die Fahrstühle in der Halle. Aufzug Nummer drei schwebte in die Lobby, der Liftboy öffnete. Das war keiner der halbwüchsigen Burschen in ihren flotten Livreen mit dem Käppchen auf dem Kopf, das war Otto, der Supervisor.

»Guten Morgen, Otto«, begrüßte ihn Violet. »Seit wann bedienst du den Fahrstuhl wieder selbst?«

Mit seiner Überraschung, vielleicht mit einer kleinen Freude hatte sie gerechnet, doch in Ottos Gesicht spiegelte sich namenloses Staunen, geradezu Entsetzen, als er Violet erkannte. Waren es ihre Verletzungen, die sichtbaren Folgen des Feuers, die ihn so aus der Fassung brachten? Durch Hut und Brille konnte er davon eigentlich nicht viel sehen.

»Was ist denn, Otto?«

»Nichts, Miss Mason. Zwei von den Boys sind krank, daher muss ich selbst …« Er bemerkte ihren aufmerksamen Blick. »Entschuldigen Sie, es ist nur, ich dachte, die Olympischen Spiele dauern noch an. Wir haben noch gar nicht mit Ihnen gerechnet.«

»Wir? Wer ist wir?«

»Ich meine, ich und das übrige Personal. Aber deshalb freue ich mich umso mehr, Sie wiederzusehen.«

Kurzfristig hatte Violet entschieden, ihre Rückkehr im Savoy nicht anzukündigen. Die Folgen erschienen ihr nun doch erstaunlich.

Otto schloss das Scherengitter. »Wollen Sie in Ihr Apartment?«

»Nein. Fahr mich in den Dritten, Otto.«

»Der Dritte? Aber das ist …« Er zögerte. »Die Etage von Mrs Wilder.«

»Hast du etwas dagegen, dass ich Judy besuche?«

»Ich dachte nur …«

»Was dachtest du?«, fragte sie schärfer.

»Dass Sie vielleicht müde sind und in Ihre Wohnung wollen.«

»Mach schon, Otto, fahr mich rauf.«

Während der Lift nach oben schwebte, schwiegen sie. Violet konnte Otto seine Unruhe selbst von hinten ansehen.

»Dritter, Miss Mason.« Er öffnete das Scherengitter.

Violet erwartete nicht, hier oben jemandem zu begegnen, bevor sie bei Judy eintrat. Umso überraschter war sie, als ihr auf dem Korridor ein bekanntes Gesicht entgegentrat, ein Gesicht, das im gesamten Königreich bekannt war.

»Lady Edith.« Sie nahm die Sonnenbrille ab.

»Miss Mason?«

Täuschte sie sich, oder wich die Herzogin einen Schritt zurück? Fand etwa auch Lady Edith Violets Anwesenheit in ihrem eigenen Hotel unerklärlich? Was hatte der adelige Gast überhaupt hinter den Kulissen des Savoy zu suchen? »Haben Sie sich verlaufen, Mylady?«, fragte Violet direkt. »Sie befinden sich im Verwaltungstrakt.«

»Ich weiß. Natürlich«, erwiderte die Herzogin fast ein wenig ungehalten. »Ich hatte mit Mrs Wilder etwas zu besprechen.«

Lächelnd stellte sich Violet der hochgewachsenen Frau in den Weg. »Gab es für Sie Grund zu einer Beschwerde? War etwas im Hotel nicht zu Ihrer Zufriedenheit? In diesem Fall hätte sich Mrs Wilder doch zu Ihnen in die Erkersuite bemüht.«

Lady Edith richtete sich auf. »Am besten, Sie fragen Mrs Wilder selbst«, antwortete sie kühl, ließ die Direktorin stehen und ging zum Aufzug.

Normalerweise klopfte Violet nur einmal kurz und trat sofort bei Judy ein. Heute wartete sie nach dem Klopfen einen Augenblick.

»Was gibt’s?«, rief die herbe Frauenstimme.

Violet betrat das Büro. Neben Judys Schreibtisch stand ein Mann, den Violet noch nie gesehen hatte, ein Mann mit ungewöhnlich großen Ohren.

Langsam, wie von einer Schnur gezogen, stand Judy auf. »Hallo, Vi. Du bist schon zurück?« Nicht nur Erstaunen, fast so etwas wie Panik stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Wie du siehst«, antwortete Violet und musterte die Frau, die sie während ihrer Berlinreise vertreten hatte, neugierig.

Judy bemerkte Violets fragenden Blick auf den Unbekannten. »Das ist Mr Charles Saunders«, stellte sie ihn vor. »Er arbeitet seit Neuestem für uns.«

* * *

Den Telefonhörer am Ohr, schaute Kamarowski auf die Nordsee, die selbst im Sommer eine winterliche Anmutung hatte. »Wäre es Ihnen lieber gewesen, wenn Miss Mason das Feuer nicht überlebt hätte?«, fragte er.

»Mir ist unbegreiflich, wie sie das geschafft hat«, antwortete Judy.

»Ich hätte es ehrlich gestanden bedauert, wenn Violet in Berlin verbrannt wäre.«

»Davon rede ich gar nicht. Ich frage mich, ob Durbollière fähig wäre, einen solchen Schritt zu befehlen?«

»Sie meinen, Feuer an ein Haus zu legen?« Kamarowski beobachtete die gierigen Möwen auf dem Pier. »Unwahrscheinlich. Vielleicht hat Tanguy aus eigenem Antrieb gehandelt.«

In diesem Moment betrat Gemma Galloway das Post- und Telegraphenamt. In ihrem schwarz-weißen Pepitakostüm drehte sie sich suchend im Kreis, bis sie Kamarowski in der Telefonzelle entdeckte und ihm zu verstehen gab, dass es höchste Zeit sei, einzusteigen. Beruhigend zeigte er auf den Strom von Menschen, die draußen erst abgefertigt wurden, bevor sie auf die Fähre drängten.

»Durbollière ist seit gestern nicht erreichbar«, sagte Kamarowski ins Telefon. »Er dürfte verschwunden sein.«

Ein dreimaliges Signal des Schiffshorns unterbrach das Gespräch.

»Ich muss Schluss machen.« Er öffnete die Tür der Kabine.

»Werden Sie von Dover aus direkt hierherkommen?«

Er beobachtete, wie Gemma an der Fähre ihr First-Class-Ticket vorzeigte und an den Wartenden vorbeispazierte.

»Selbstverständlich. Ich kann es kaum erwarten, Gast in unserem neuen Savoy zu sein. Wann findet das Gala-Dinner statt?«

»Freitag in einer Woche.«

»Und die Gästeliste?«

»Praktisch alle haben zugesagt.«

»Auch die Regierung?«

»Nur der Gesundheitsminister wird fehlen. Er ist krank.«

»Kommt auch Churchill?«

»Samt Gattin. Sogar von den königlichen Hoheiten haben wir eine Zusage. Zwar nur zweite Garnitur, aber immerhin royaler Glanz.«

»Ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet, Judy. Ich freue mich riesig darauf.«

»Das Savoy ist ausgebucht bis auf das letzte Bett, daher mussten wir die Normalsterblichen in die Dependance auslagern. Nur wer zum Who’s who gehört, wird in dieser Nacht hier wohnen.«

»Wie macht sich Charlie Saunders bisher?«

»Er arbeitet sehr effizient. Violet hat ihn übrigens schon kennengelernt.«

»Ach ja? Wann?«

»Heute Morgen. Als sie in mein Büro kam und ich zuerst glaubte, ein Gespenst zu sehen, war Charlie gerade bei mir. Ich habe ihn als neuen Buchhalter vorgestellt. Mir ist nichts Besseres eingefallen.«

»Genau genommen ist er das ja auch. Mr Saunders führt Buch über das, was Interessantes im Savoy geschieht.« Lachend beendete Kamarowski das Gespräch, verließ das Postamt und folgte Gemma Galloway auf die Fähre von Ostende nach Dover.