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Zu schmal für zwei

»Kennst du das, in manchen Märchen kommt es vor, dass ein Prinz unvermutet ein Schloss im Wald entdeckt? Er ist in die Welt hinausgezogen, um Abenteuer zu bestehen, und plötzlich sieht er dieses Schloss.«

»Das Schloss im Wald.« Max streute Salz auf Violets Chips.

»Er reitet darauf zu. Man heißt ihn willkommen. Er wird bewirtet, und wenn er Glück hat, verspricht der König ihm die Königstochter als Frau.«

»Glücklicher Prinz.«

Violet hatte ihren Fisch noch nicht angerührt. »Aber bevor er das Schloss samt Königstochter kriegt, muss er drei Prüfungen bestehen.«

»Anders geht’s nun mal nicht.« Max nickte kauend.

»Der Prinz zieht also fort und erobert den silbernen Apfel oder die goldene Feder oder was sonst auf dem Programm steht. Beladen mit seinen Schätzen reitet er in den Wald zurück.«

Max wischte die Hände an dem Handtuch ab, das neben dem Waschbecken hing. »Inzwischen ist das Schloss aber verschwunden, stimmt’s?«

»Verschwunden, nein, wieso?«

»So ist es doch meistens, der Prinz kann das Schloss nicht mehr wiederfinden.«

Sie lehnte sich im Schreibtischsessel zurück. »Erzählst du die Geschichte oder ich?«

Er zeigte auf die halb leere Pappschachtel. »Iss etwas, ich bitte dich, sonst stopfe ich noch mehr von dem Zeug in mich hinein.«

Violet nahm ein Stückchen Fisch. »In meinem Märchen findet der Prinz das Schloss wieder. Aber alles dort hat sich verändert.« Mit dem panierten Fisch zeigte sie auf Max. »Alles kommt ihm wie ausgewechselt vor. Grau und düster ist das Schloss. Die Sonne scheint nicht mehr, es wird von Schatten regiert. Das verstört unseren Prinzen.«

»Mhm.« Max legte das Handtuch zurück. »Und dieser Prinz, das bist du?«

»Ich bin der Prinz.«

»Und das Schloss ist das Savoy.« Max krempelte die Hemdsärmel herunter. »So weit, so gut. Was ich noch nicht kapiere, wie willst du aus dieser dünnen Story ein Hörspiel machen?«

»Es ist kein Hörspiel, Max.« Verblüfft sah sie ihn an. »Es ist die Wirklichkeit. Ich erlebe es täglich. Ich laufe durch mein Hotel und erkenne es kaum wieder. Die Blicke, die mir meine Angestellten zuwerfen. Manche verschwinden rasch um die Ecke, sobald sie mich sehen. Der Chefbutler weicht mir aus, die Kellner tuscheln, wenn ich das Restaurant betrete. Es kommt mir wie ein Alptraum vor. Nur leider ist es keiner.«

Max stand von seinem Schreibtisch auf, wo sie ihr kleines Dinner abhielten, und setzte sich auf sein Feldbett, das stets bereitstand, falls es in der Redaktion mal wieder so spät werden sollte, dass es nicht mehr lohnte, nach Hause zu fahren. »Vi, nun hör mir mal zu.«

Sie hob den fetttriefenden Zeigefinger. »Bitte behandle mich nicht, als ob ich den Verstand verloren hätte, Max.«

»Gut, verstehe. Wenn du also dieser Prinz bist, welche Prüfungen hast du zu bestehen?«

Sie wischte Mund und Hände ab und folgte ihm zu der altersschwachen Liege. »Ich muss das Savoy … Ich weiß nicht … Ich glaube, ich muss das Hotel von einem bösen Fluch befreien.«

Als sie vor ihm stand, nahm er ihre beiden Hände. »Jetzt mal ernsthaft, Vi, könnte das nicht eine späte Wirkung deiner schrecklichen Erlebnisse sein?«

»Vielleicht.« Sie betrachtete sein besorgtes Gesicht und schüttelte seine Hände. »Nein, Max, nein. Ich sehe keine Gespenster.«

»Was willst du also tun?«

»Ich habe eine ziemlich verrückte Idee, wie ich der Sache auf den Grund gehen kann«, antwortete sie nachdenklich. »Freitag in einer Woche geben wir den großen Empfang, unseren traditionellen Ball im Savoy. Judy und ich haben das seit Monaten organisiert. Alles, was in London Rang und Namen hat, wird da sein. An diesem Abend mache ich meinen Zug.«

Max zog sie näher zu sich. »Einen Zug? Sehr geheimnisvoll.«

»An diesem Abend brauche ich dich, Max.«

»Wozu?«

»Du sollst mein Tischherr sein.« Auf seinen erstaunten Blick setzte sie sich neben ihn. Das Stahlgerüst des Bettes quietschte. »Ich brauche einen Begleiter an meiner Seite. Vor der Reise nach Berlin dachte ich, Durbollière könnte das sein. Aber wie es aussieht …« Sie legte den Kopf schief.

»Wie es aussieht, dürfte der Marquet an diesem Abend schon etwas anderes vorhaben.«

»Würdest du mir den Gefallen tun?«

»Dazu muss ich wissen, worum es geht.«

»Gib mir noch ein paar Tage, bevor ich dich einweihe. Ich will erst eine bestimmte Sache klären.«

Lächelnd sah er sie an. »Wenn ich dich auf den Ball begleiten soll, müsste ich erst mal nachsehen, ob mein Frack gebügelt ist.«

»Könntest du das deiner Frau erklären, dass du diesen Abend mit mir verbringst?«

»Ich brauche Susan nichts zu erklären.«

»Wieso nicht?«

Er sah Violet an. Sie saßen in seinem Büro, es war kurz vor Mitternacht. Max war Chefredakteur der BBC. In dieser Position hätte er ein repräsentativeres Büro benützen können, ein größeres, mit einem schöneren Ausblick. Aber er wollte es nicht anders. Dies war der Ort, an dem er denken konnte und schreiben wollte. Ein Waschbecken, falls er übernachtete, das Feldbett, dunkle Jalousien, um die Sonne auszusperren. In diesem Raum war es immer dämmerig. Es war ein Ort der Gedanken und Ideen. Es war ein Ort, an dem Geschichten ihren Anfang nahmen oder im Papierkorb landeten. Max liebte dieses Büro. Er mochte sein Bett. Allerdings war es zu schmal für zwei.

Max schloss Violet in seine Arme. Er strich ihr Haar beiseite und küsste die verletzte Stelle an der Schläfe. Zärtlich küsste er ihren Mund. Gemeinsam sanken sie zurück. Das Feldbett knackte, aber es hielt stand.