Die sedierte Gesellschaft

Russen halten sich für etwas Besonderes. Streng genommen müsste es allerdings nicht Russen, sondern Russländer heißen. Das wäre die korrekte Bezeichnung für die Bürgerinnen und Bürger des Landes, in dem zwar eine Vielzahl von Völkern und Nationen lebt, die Russen aber die Titularnation stellen. Und nicht nur das. Seit dem Verfassungsreferendum 2020 hat Präsident Wladimir Putin durchgesetzt, dass das russische Volk auch als das »staatsbildende Volk« im Grundgesetz verankert ist. Das Wort russkij meint »russisch« in einem ethnisch-nationalen Sinn, rossijskij weist eine staatsbürgerliche Dimension auf und wird im Deutschen mit »russländisch« übersetzt. Die Russische Föderation müsste deshalb eigentlich Russländische Föderation heißen. Weil das aber viel zu sperrig und sehr unvertraut klingt, bleibt es bei Russischer Föderation und den Russen und Russinnen. Die Angehörigen der vielen nationalen Minderheiten sind, wenn nicht eigens erwähnt, immer mit gemeint.

Wenn Russen erklären, wer und wie sie sind, bemühen sie oft den Begriff des »homo sovieticus«, des Sowjetmenschen. Die Kommunistische Partei wollte die Russen zu Menschen erziehen, die eine soziale Gesellschaft frei von Ausbeutung und Gewinnstreben errichten, die die bürgerliche Ordnung als unmoralisch verurteilen, sich an humanistischen, altruistischen und kollektiven Werten orientieren, eine wissenschaftliche und atheistische Weltanschauung vertreten, sich nach schöpferischer Tätigkeit sehnen. Soweit die kommunistische Theorie. In der Praxis erwartete die Partei jedoch vom Volk, sich widerstandslos in die staatlich organisierte Arbeitswelt einzufügen und die allumfassende Kontrolle des öffentlichen wie privaten Lebens hinzunehmen.

Als homo sovieticus beschreiben sich heute keineswegs nur Menschen, die die Sowjetunion noch erlebt haben, sondern auch diejenigen, die nach dem Zerfall der UdSSR sozialisiert wurden. Der homo sovieticus blieb offenbar auch nach 1991 erhalten und stellte so die Kaderreserve für das nächste totalitäre System. Denn dieser Menschentyp fügt sich stets ein, ganz gleich unter welcher Ideologie, oder ganz ohne sie. Und so lange die Mehrheit der Russen und Russinnen dieses Verhalten verinnerlicht hat, ist es leicht, sie in einem Zwangssystem zu halten. Sie begehren nicht auf, sie hinterfragen nichts.

Seit 1988 erforschten die russischen Soziologen Juri Lewada und Lew Gudkow in dem von Tatjana Saslawskaja und Boris Gruschin 1987 gegründeten Gesamtsowjetischen Zentrum für Meinungsforschung (WZIOM) die Beschaffenheit dieses alten neuen Sowjetmenschen. Zunächst gingen die Wissenschaftler fest davon aus, dass er mit dem Ende der UdSSR der Vergangenheit angehören würde. Die von Michail Gorbatschow initiierte Periode von Glasnost und Perestroika – Transparenz und Umbau – euphorisierte die Gebildeten und Engagierten. Sie hatten stets eine Zeit herbeigesehnt, in der es möglich sein würde, eine demokratische Gesellschaft aufzubauen, die die Freiheit und die Menschenrechte schätzt, auf Marktwirtschaft fußt und von den besten Praktiken des Westens lernt.

Doch die Reformen wurden schon kurz nach dem Amtsantritt von Präsident Boris Jelzin durch eine tiefe Wirtschaftskrise und die darauffolgende Verarmung der Massen im Keim erstickt – während sich die ersten Oligarchen maßlos bereicherten. Die Demokratie als Gesellschaftsmodell geriet in Verruf, noch ehe sie errichtet war. Die Menschen reagierten mit Zynismus, viele waren wie gelähmt. Lewada und Gudkow stellten in ihren soziologischen Forschungen fest, dass das posttotalitäre autoritäre Regime genau auf diese Demobilisierung setzte. Statt eine neue Zukunftsvision zu vermitteln, machte sich Wladimir Putin zu Beginn seiner Herrschaft das Klima der Gleichgültigkeit, Enttäuschung und Antriebslosigkeit zunutze. Der homo sovieticus wurde Knetmasse in seinen Händen. Zunächst durch die ständige Wiederholung, dass die prowestlichen Parteien schuld seien am Zerfall der UdSSR und an der katastrophalen Wirtschaftslage. Gleichzeitig diskreditierte Putin die Menschenrechte und die bürgerlichen Freiheiten. Propagiert wurden »Ordnung«, Orthodoxie, Konservatismus, Militarismus und die Rückkehr der Großmacht Russland auf die Weltbühne. Als westliche Staaten den zweiten Tschetschenienkrieg und die zahlreichen darin begangenen Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung kritisierten, nahm die antiwestliche Stimmung der Staatsführung und ihre Neigung zum Isolationismus noch einmal deutlich zu. Wenn man überhaupt von einer Ideologie Putins sprechen kann, dann wird sie bestimmt von der »Fremdheit der westlichen Kultur«.

Für den Soziologen Gudkow wird die wachsende Demoralisierung der gebildeten Schichten, der Zynismus der Elite und deren innerer Verfall von Jahr zu Jahr offensichtlicher. »Typisch für fast alle Teile der Gesellschaft sind Konformismus und eine vorgeheuchelte Bereitschaft, sich um die Staatsmacht zu scharen, die traditionalistische Parolen verkündet und Angst vor militärischer Bedrohung, Terrorismus, fremden Einflüssen und dem Verlust der nationalen Identität schürt. Alle Unterschiede der politischen Ansichten und ideologischen Positionen werden verwischt. Die Staatsmacht ist von der Gesellschaft vollständig abgeschottet, kann von ihr in keiner Weise mehr kontrolliert werden. Damit einher geht eine kollektive intellektuelle, moralische und sogar religiöse Trägheit. Die Bevölkerung reagierte vollkommen regungslos auf die polit-technologische Demagogie des autoritären Regimes. Die Menschen waren und sind nicht in der Lage, sich eine bessere Gesellschaft und ein besseres Leben vorzustellen oder gar daran zu arbeiten. Als ›besser‹ gilt allenfalls eine Konsumsteigerung.«

Der Autoritarismus festigt sich laut Gudkow in einer solchen Gesellschaft nicht deshalb, weil er über starke politische Trümpfe – Argumente, Ziele, oder Programme zur nationalen Entwicklung – verfügt, sondern weil die Gleichgültigkeit der Gesellschaft diese unfähig macht, sich der Willkür der Staatsmacht zu widersetzen. Der fehlende Glaube an ein besseres Leben und die Erosion aller Werte wirken auf die Moral wie ein HIV-Virus. Sie zerstören das Immunsystem, das vor Gewalt und Demagogie schützt, das Widerstand gegen die Willkür der Behörden leistet, gegen die Eigenmächtigkeit von Beamten, die vorgeben, im Namen des Staates und der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung zu handeln.

Als Putin 2003 Juri Lewada, den Leiter des Meinungsforschungsinstituts WZIOM, absetzen lassen wollte, um es wie andere Institutionen auf Kreml-Linie zu bringen, verließen sämtliche Mitarbeiter die Einrichtung und setzten ihre Arbeit im neugegründeten WZIOM-A-, dem späteren Lewada-Zentrum fort. Seit Jahrzehnten erhebt das Institut empirische Daten zur Verfasstheit der russischen Gesellschaft. Gudkow, der nach Lewadas Tod 2006 die Leitung übernahm, kann heute nachweisen, »dass der repressive Staat die Mentalität der Menschen so stark geformt hat, dass sich der Sowjetmensch auch nach Auflösung der Sowjetunion erhalten hat und sich sogar reproduziert. Er ist gleichzeitig Produkt und Produzent des wiederentstandenen autoritären Staates.«

Die Bürger spüren, dass sich ihr Land nicht zum Besseren wandelt. Schon im Oktober 2007 erklärten 75 Prozent der vom Lewada-Zentrum Befragten, dass die Moral der Gesellschaft unbefriedigend sei. Nicht nur wegen der alltäglichen Aggressivität und Rücksichtslosigkeit, der wachsenden Kriminalität, der Korruption auf allen Ebenen des Staatsapparates, der schamlosen Demagogie sowie der Politiker und Funktionäre, die für nichts zur Verantwortung gezogen werden. Ein wichtiger Grund war auch, dass den Menschen die Kriterien dafür abhandengekommen seien, was richtig und was falsch ist.

Im Krieg gegen die Ukraine wird das besonders sichtbar. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach am 27. Februar 2022 in seiner Zeitenwende-Rede von Putins Krieg. Er hob ausdrücklich den Mut der russischen Kriegsgegner hervor, die gegen die Invasion protestiert hatten. Das tat er so ausführlich, dass die Ukrainer den Eindruck gewinnen mussten, auf der Straße zu demonstrieren sei eine größere Heldenleistung als die ihre, sich russischen Panzern entgegenzustellen. Die Bundestagsabgeordneten applaudierten, sicher auch in der Erwartung, dass sich die russischen Proteste noch ausweiten würden. Sich womöglich nicht nur gegen den Überfall auf das Nachbarland richteten, sondern gegen das Regime Putin insgesamt. So mancher träumte von einer Empörungswelle, die Russland erfassen und den Kampf für ein demokratisches System neu entfachen könnte. Diese Hoffnung erwies sich als Wunschdenken. Was nicht nur an der verschärften Gesetzgebung lag, die jede Kritik an der sogenannten militärischen Spezialoperation unter Strafe stellte. Sondern auch daran, dass der Kreml-Chef bereits beim Einmarsch seiner Truppen in die Ukraine Dreiviertel der russischen Bevölkerung hinter sich wusste.

Auf eine Zweidrittel- bis Dreiviertel-Kriegszustimmung kamen keineswegs nur staatliche Umfrageinstitute, sondern auch die Lewada-Soziologen. Die aber anders als die Kollegen nicht so taten, als handele es sich bei der Unterstützung für den Waffengang um eine spontane freie Äußerung der Befragten. Denn von impulsiver oder unbeschwerter Begeisterung für den Krieg konnte keine Rede sein. Allerdings sagten die Befragten auch nicht aus Angst etwas, was sie nicht dachten. Das Ja zur »militärischen Spezialoperation« ist eine lange, durch die Propaganda und die totale Informationskontrolle verinnerlichte Haltung. Es handelt sich um einen totalitären Konsens, auf den über Jahre hingearbeitet wurde.

Seit der Orangen Revolution 2004 wird die Ukraine im russischen Fernsehen mit Hass überzogen. Die Hetze gegen Kiew steigerte sich ab 2008, als die Ukraine beim Konflikt um Südossetien Georgien zur Seite stand. Für den Versuch, den russischen Einflussbereich zu verlassen, wurden beide Länder, Georgien und die Ukraine, von den Einpeitschern im russischen Staatsfernsehen gegeißelt.

Die Propaganda, so stellte Lew Gudkow fest, sorgte für eine Wiederbelebung imperialer Einstellungen. Noch im Winter 2013/14, während der Proteste auf dem Maidan, fanden drei Viertel der Russen, dass sich Russland nicht in die inneren Angelegenheiten der Ukraine einmischen sollte. Im März 2014, nach einer beispiellosen Kampagne über den angeblichen ukrainischen Faschismus, wendete sich das Blatt. Für die Meinungsforscher wurde messbar, wie sich die russische Öffentlichkeit bis Ende 2021 an den Gedanken gewöhnt hatte, dass Russland Opfer eines Angriffskrieges werden könnte. Die unablässige militaristische und antiwestliche Hysterie in den TV-Kanälen hatte ihre volle Wirkung entfaltet. Die ins Internet oder ins Ausland verdrängten unabhängigen Medien konnten dem viel zu wenig entgegensetzen. Die Angst in der Bevölkerung vor einem großen Krieg war unübersehbar. Eine große Mehrheit der Menschen war überzeugt davon, dass Russland eine Invasion der NATO bevorstand.

Die jahrelange Enthumanisierung der Ukrainer, die nur noch als Nazis und Faschisten dargestellt wurden, und die Stimmungsmache gegen den Westen, der kurz vor einem Überfall auf Russland stünde und dem Moskau schleunigst zuvorkommen müsse, verfingen. Drei Wirkmechanismen bewährten sich. Erstens die Viktimisierung: »Wir sind Opfer einer NATO-Aggression.« Zweitens die Rechtfertigung des Krieges mit einem höheren Ziel, das in der Befreiung der Bevölkerung des Donbass besteht, an der Kiew einen Genozid verübe, und drittens die Darstellung des Krieges als eine zielgenaue, räumlich und zeitlich eng begrenzte Spezialoperation.

Diese mit großem Aufwand verbreitete Lesart des russischen Überfalls war es, was der Soziologe Gudkow die Herstellung eines organisierten Konsenses nennt. Das Volk wird so lange auf die Ziele des Regimes eingeschworen, bis die große Mehrheit nicht mehr widerspricht. Eine für ein totalitäres Regime typische Vorgehensweise. Umfragen dienen dann nur noch der Kontrolle, ob die staatliche Propaganda gefruchtet hat.

Aber Zensur und Indoktrinierung allein würden die Gleichschaltung nicht erreichen, wenn den Menschen nicht zuvor die Fähigkeit abhandengekommen wäre, sich eine eigene Meinung zu bilden und die Vorgehensweise des Staates selbst kritisch zu bewerten. Womit wir wieder beim postsowjetischen homo sovieticus wären. Der wurde ganz und gar nicht zu selbstständigem Denken und Hinterfragen erzogen, sondern zu Gefolgschaft, Gehorsam und Anpassung. Als »Köder« wurde die Identifikation mit der Großmacht Russland ausgelegt. Die meisten Russen sind stolz, Bürger des größten Landes der Welt zu sein, das militärisch in der Lage ist, anderen seinen Willen aufzuzwingen. Sie gestehen ihrer Führung auch jedes Recht dazu zu, wenn es um die Wahrung russischer Interessen geht. Das Völkerrecht, die Souveränität anderer Länder, die Achtung ihre Grenzen sind nebensächlich.

Bei der Annexion der Krim 2014 verfiel die russische Bevölkerung in einen patriotischen Freudentaumel. Selbst Kritiker wie Alexej Nawalny tanzten mit. Die Beliebtheitswerte des Staatsoberhaupts stiegen von 33 Prozent auf 58 Prozent. Moskau wollte die Euphorie für den nächsten Coup nutzen, indem es prorussische Kräfte im Donbass finanziell und militärisch unterstützte und versuchte, eine separatistische Bewegung aufzubauen, die sich für »Neurussland« einsetzte, das von Luhansk über Donezk bis nach Odessa reichen sollte. Dieser Plan schlug fehl. Der nächste Expansionsversuch startete 2022.

Inzwischen schleichen sich Zweifel in die offizielle Darstellung des Krieges ein. Anders als der Kreml versprochen hat, ist er nicht schnell zu Ende gegangen, sondern dauert immer noch an. Zudem halten es viele Russinnen und Russen für denkbar, dass er sich über die Ukraine hinaus zu einem Krieg Russlands gegen die NATO ausweiten könnte. Das, so der erfahrene Meinungsforscher Gudkow, sei nicht mehr nur Produkt der Propaganda, sondern Ergebnis eines einsetzenden Nachdenkens über die Folgen des Kurses, den die Regierung eingeschlagen hat. Inzwischen trauen nur noch 53 Prozent dem Staatsfernsehen, in der Gruppe der 18- bis 24-Jährigen misstrauen ihm 59 Prozent. Besonders groß ist die Angst, dass Russland wegen des anhaltenden Widerstands der ukrainischen Armee Atomwaffen einsetzen könnte.

Aufschlussreich ist die Bewertung der eigenen Verantwortung für die vielen Toten in der Ukraine. Nach drei Monaten Krieg wollten 65 Prozent der Russen davon nichts hören, nach vier Monaten aber wuschen nur noch 57 Prozent ihre Hände in Unschuld. Dagegen gaben inzwischen 25 Prozent zu, dass sie in »gewisser Hinsicht« mitverantwortlich seien. Allerdings haben nur 28 bis 36 Prozent der Russinnen und Russen ein schlechtes Gewissen. Selbst wer dem Regime kritisch gegenübersteht, sucht und erkennt keine Möglichkeit, Einfluss zu nehmen, sondern nennt viel mehr jede Menge Gründe, den eigenen Opportunismus zu rechtfertigen. Viele geben dem Westen und dem »Russenhass« die Schuld. Gerade einmal 16 Prozent bekommen den Krieg persönlich zu spüren.

Dass also der Krieg zum Katalysator für eine Umbruchstimmung werden könnte, ist bis jetzt nicht erkennbar. Unmut in der Bevölkerung ist zwar vorhanden, aber in viel zu geringem Maße, als dass der russische Präsident und die Regierung offen angezweifelt oder gar in Frage gestellt werden würden.

Ein halbes Jahr vor der Präsidentschaftswahl 2024 hat die unabhängige Forschungsgruppe Russian Field 1600 Personen gefragt, welche Eigenschaften ihr Kandidat aufweisen müsste bzw. auf gar keinen Fall haben dürfte. 80 Prozent fänden demnach einen homosexuellen Anwärter vollkommen unannehmbar. An zweiter Stelle bei den für sie negativen Merkmalen käme eine Person, die über 70 Jahre alt wäre. 68 Prozent lehnen einen Präsidenten in diesem Alter ab. Putin ist beim Antritt seiner fünften Amtszeit 71 Jahre alt. Eine öffentliche Debatte über sein Alter, wie sie in den USA im Vorfeld der Präsidentschaftswahl im Herbst 2024 über das Alter der beiden Rivalen Joe Biden und Donald Trump stattfindet, blieb in Russland bislang aus. Ebenfalls unbeliebt, wenn auch längst nicht in diesem Maße, sind Unternehmer, Muslime, Vertreter aus dem Nordkaukasus oder den annektierten Gebieten. Am attraktivsten sind Militärangehörige. Die allerstärkste Zurückweisung als Staatsoberhaupt erfahren Frauen.

Zu kommunistischen Zeiten gab es unter Russen eine Abmachung, die freilich nirgendwo geschrieben stand: »Wir tun so, als ob wir arbeiten, weil ihr so tut, als ob ihr uns bezahlt.« Man betrog sich also gegenseitig. Die Bürger lassen »die da oben« machen. Daran hat sich in der Gegenwart nicht viel geändert. Obwohl Beamte und Angestellte in der Regierung, in den Behörden, Gerichten, Polizeistationen, kurzum im Staat, für ihre Bestechlichkeit und Rechtsbeugungen bekannt sind. Trotzdem scheint es in der Gesellschaft bis auf wenige Ausnahmen kein Bedürfnis zu geben, den Staat zu kontrollieren und zur Verantwortung zu ziehen.

Im Herbst 2012 trat das Gesetz über die »Änderung einzelner Gesetzesakte der Russländischen Föderation zur Reglementierung der Tätigkeit gemeinnütziger Organisationen, die die Funktion eines ausländischen Agenten ausüben« in Kraft. Im Sommer 2014 wurde das Menschenrechtszentrum Memorial vom Justizministerium als erster »Ausländischer Agent« registriert. Schon bevor unzählige politische Gruppen und Medien folgten, engagierten sich in staatskritischen Bewegungen höchstens zwei Prozent der Bevölkerung. Neue Parteien werden seit dem Jahr 2000 nur vom Kreml gegründet, für andere Kräfte ist es fast unmöglich. Die einzige »alte«, 1993 gegründete Oppositionspartei Jabloko spielt heute nur noch eine marginale Rolle. Als Mitglieder der Partei gegen den Ukraine-Krieg protestierten, wurden sie festgenommen.

Das politische Desinteresse der Allgemeinheit führt der Soziologe Lew Gudkow auf eine gezielte Kreml-Strategie zurück. Seiner Meinung nach werde das intellektuelle, kulturelle und moralische Niveau der Gesellschaft systematisch gesenkt, mit dem Ziel, das Selbstwertgefühl der Bürger zu unterdrücken, das heißt ihre Motivation und ihre Erfolgsorientierung zu neutralisieren und ihr Streben nach sozialer Anerkennung auszuschalten. Mechanismen, zu »den Besten« gehören zu wollen, werden unwirksam gemacht, stattdessen legt man den Menschen den Wunsch nahe, »möglichst einfach« oder »wie alle« zu sein.

Dmitri Gluchowski, Schriftsteller und inzwischen weit über Russland hinaus bekannt, interessierte sich lange überhaupt nicht für Politik. Wie viele junge Leute. Erst als Präsident Putin und Premierminister Dmitri Medwedew 2008 beschlossen, einander das Präsidentenamt zu sichern, wachte er auf. Welche Rolle spiele ich als Wähler bei einer solchen Abmachung noch, fragte er sich. Der Moskauer ist da noch keine 30 Jahre alt. Die Stadt boomt, mit der Wirtschaft ging es seit dem Jahr 2000 immer nur aufwärts, Tausende Möglichkeiten locken, die Welt scheint ihm zu Füßen zu liegen. 2001 hat er ein Journalismusstudium in Israel hinter sich. Kein Selbstfindungstrip, obwohl sein Vater Jude ist, was als Nationalität in dessen Pass vermerkt ist. Antisemitismus hat er zuvor schon zu spüren bekommen, er will sein wie die meisten: russisch, wie seine Mutter.

In Israel hatte sich ihm eine neue Welt eröffnet. Von den dorthin ausgewanderten Landsleuten hielt er sich fern, für ihn lebten sie im Gestern. Während seiner Ausbildung überraschte ihn, wie wenig er sich in der Geschichte seines Landes auskannte. Leerstellen bei der Zarenzeit, der Sowjetunion, dem neuen Russland. Er füllte sie in Jerusalem. Zurück in Moskau will er das tun, was alle machen: Geld verdienen. »Unsere ganze Generation war nur mit money machen beschäftigt. Alles drehte sich um den Rubel. Jobs, Geld, Karriere, Waren, Klamotten – Konsum war wichtig in unserem Leben.« Menschen, die Jahrzehnte lang nichts besaßen, können auf einmal wann immer sie wollen ins Ausland fliegen. Seine Eltern in ihrer 50 Quadratmeter großen Wohnung wissen zwar, wie man trotz aller Entbehrungen den Lebensmut nicht verliert, aber das ist Schnee von gestern, kein Wissen, das heute noch nützt. »Ein Wochenende in Paris, ein teures ausländisches Auto – darum ging es. Wir, die Generation der damals 20- bis 30-Jährigen, wollten den Erfolg der Oligarchen wiederholen.«

Sich um Freiheit und Zivilrechte zu kümmern, gilt als liberaler Spleen. Schließlich fühlen sich Gluchowski und seine Freunde weder von der Regierung noch vom Regime oder von der Polizei eingeschränkt oder bedroht. Er könnte in die Politik gehen, dort gibt es mehrere Möglichkeiten: Nationalist, Demokrat oder Kommunist werden. Aber weder er noch jemand aus seinem Bekanntenkreis verspürt große Lust dazu. Zu präsent ist immer noch das sowjetische Erbe. Dass man plötzlich politisch verfolgt werden könnte, wie zu Stalins Zeiten. Von der Großmutter kommen nichts als Warnungen: Mach das lieber nicht, du erreichst sowieso nichts und bringst dich nur in Gefahr! Die Eltern geben ihr recht. Sein Vater wird als Redakteur im Auslandsrundfunk so schlecht bezahlt, dass er sich lieber als Geschäftsmann versucht.

Dmitri Gluchowski sieht sich nicht als Unternehmer, ihn fasziniert das Schreiben. Sein erstes Buch »Metro 2033« trifft den Nerv der Leserschaft, 2007 wird er aus dem Stand zum Bestseller-Autor. Dystopien sind sein Fach, aus seinem Debütroman entsteht ein Computerspiel, das Moskau nach einem Atomangriff simuliert und wo Menschen nur noch in den U-Bahn-Schächten und -Stationen überleben können. Die russische Bombardierung von Charkiw liegt zu diesem Zeitpunkt noch Lichtjahre entfernt – 2022 findet die ukrainische Bevölkerung während des Angriffs nur noch in der Metro ausreichend Schutz. Für den Broterwerb heuert Gluchowski im Jahr 2002 bei verschiedenen TV-Sendern an und berichtet aus der Ukraine. Die hielt er bis dahin für eine »zweitklassige postsowjetische Nation« und glaubte, was die staatliche Propaganda erzählte, zum Beispiel, dass die Ukrainer aus russischen Pipelines Gas abzapfen. Obwohl Russland wesentlich reicher ist und viel mehr Möglichkeiten bietet, verliebt er sich in das Land.

Im Jahr 2012 wiederholte sich das Szenario der verabredeten Präsidentschaftskandidatur. Wieder entschieden Putin und Medwedew unter sich, wer kandidiert. Medwedew lässt Putin den Vortritt, obwohl er jedes Recht gehabt hätte, ein zweites Mal anzutreten. Als 2011 die Parlamentswahlen und dann 2012 auch noch die Präsidentschaftswahlen gefälscht wurden, forderten Zehntausende Demonstranten wochenlang die Annullierung der Abstimmungsergebnisse und den Rücktritt sowohl von Dmitri Medwedew als auch von Wladimir Putin. In Moskau, Sankt Petersburg und einer Reihe anderer Städte gab es Demonstrationen wie zuletzt während des Zerfalls der UdSSR 1991. Schauplatz Nummer eins war der Bolotnaja-Platz auf der Bolotny-Insel, die dem Kreml auf dem anderen Ufer der Moskwa gegenüberliegt.

In dieser Zeit wird in der Familie von Dmitri Gluchowski plötzlich wieder politisch gestritten. Alles im Land läuft in die verkehrte Richtung, findet der Sohn. Seine Eltern lassen die Rochaden von Putin und Medwedew dagegen kalt. Ihnen ist gleichgültig, wer gerade welche Position besetzt. Putin ficht es nicht an, dass die Massenkundgebungen selbst während der Präsidentschaftswahl am 4. März 2012 und darüber hinaus fortgesetzt werden, er lässt sich für sechs Jahre ins Amt bringen. Um etwas Druck aus dem Kessel abzulassen, führt er wieder direkte Gouverneurswahlen in den meisten russischen Regionen ein, was allerdings niemanden beruhigt.

Einige Kommentatoren glauben 2012, dass sich Putins Zirkel nur noch wegen des hohen Ölpreises an der Macht hält, das System in einer kommenden Wirtschaftskrise aber schnell zusammenbrechen wird. Pessimistischere Beobachter befürchten, dass die autokratischen Strukturen Russland immanent sind, unabhängig davon, wer es anführt. Tatsächlich wird unmittelbar nach den Bolotnaja-Protesten parallel zu den Strafprozessen gegen viele Teilnehmer sofort dafür gesorgt, künftigen Massenprotesten einen Riegel vorzuschieben. Das Demonstrationsrecht erfährt eine deutliche Verschärfung. Besonders tut sich der Duma-Abgeordnete Alexander Sidjakin von der Regierungspartei Einiges Russland hervor. Auf ihn geht die Erhöhung der Geldstrafen für eine Teilnahme an Kundgebungen von 2000 auf 20 000 Rubel zurück. Außerdem wird die gemeinnützige Arbeit als Strafe fürs Demonstrieren eingeführt, die früher nur bei Straftaten verhängt wurde. Später erweitert sich das Versammlungsverbot über Einzelproteste und Kundgebungen hinaus auch auf Flashmobs, Massenversammlungen und andere Veranstaltungen, die zuvor nicht unter das Gesetz zum öffentlichen Protest gefallen waren. Wer sich rechtswidrig an einem öffentlichen Platz in einer Menschenmenge aufhält, kann mit bis zu 30 Tagen Arrest bestraft werden.

Seit dem Angriff auf die Ukraine geht es weniger um Geldbußen. Die muten neben den martialischen Haftstrafen fast harmlos an. Eine »kriegskritische Position« zu äußern oder die Armee zu diskreditieren, kann jeden viel Lebenszeit kosten – zwischen drei und 15 Jahren Lagerhaft. Damit sind das Versammlungsrecht und die Meinungsfreiheit praktisch aufgehoben. Der Opposition ist somit der Boden unter den Füßen weggezogen. Wie soll sie Regimegegner mobilisieren, wenn diese fürchten müssen, für Jahre in einem sibirischen Straflager zu verschwinden. Wie soll sich Protest überhaupt noch artikulieren?

In einem fragwürdigen Verfahren fand 2020 zudem eine Verfassungsreform statt, über die eine Woche lang in einem Volksentscheid abgestimmt wurde. Putin sicherte sich darin die Macht weit über das Jahr 2024 hinaus. Bislang war die Regierungszeit eines Präsidenten auf zweimal sechs Jahre begrenzt, nun sind zwei Amtszeiten möglich, auch wenn diese nicht aufeinander folgen. Vor allem aber zählen die Präsidentschaften vor 2024 nicht. Putin kann also noch zweimal antreten. Gewinnt er diese und auch die nächste Wahl im Jahr 2030, bliebe er bis 2036 an der Spitze der Russischen Föderation. Danach bekäme er automatisch einen lebenslangen Sitz im Föderationsrat, der ihm Immunität verschaffen würde. Nach der 2020 durchgeführten Reform dürfen nur Bürgerinnen und Bürger kandidieren, die mindestens 25 Jahre dauerhaft in Russland gewohnt und das Land weder aus geschäftlichen noch aus politischen Gründen verlassen haben. Ausgeschlossen von dem Amt ist laut der neuen Verfassung auch, wer die Staatsbürgerschaft eines anderen Landes neben der russischen besitzt. All diese Punkte treffen auf einige Oppositionspolitiker zu. Die Aussicht, dass Wladimir Putin womöglich weitere zwölf Jahre im Amt bleibt und abzuwarten, ob er dann nach insgesamt 37 Jahren als Regierungschef bzw. Staatsoberhaupt mit 84 endlich abtritt, ist für viele Russinnen und Russen entmutigend.

Dmitri Gluchowski kann ihn schon jetzt nicht mehr ertragen. Wer ein anderes Volk überfällt, hat für ihn jedes Vertrauen verwirkt. Noch am Morgen des 24. Februar 2022 erhebt er seine Stimme gegen die Invasion. Er weiß, dass Schweigen als Zustimmung ausgelegt wird. Nach seinen Wortmeldungen auf unterschiedlichen sozialen Kanälen wird er in Moskau von der Polizei gesucht. Sie taucht auch bei Verwandten und Bekannten auf, beschlagnahmt seine Wohnung, lädt ihn schriftlich vor. Er flieht, wohin, ist sein Geheimnis.

Seine Bücher werden zwar nach wie vor verkauft, aber nur noch inkognito. In den Geschäften liegen sie in undurchsichtige Umschläge eingewickelt und mit der Aufschrift versehen, dass der Autor ein »Ausländischer Agent« ist. Er rechnet damit, dass sie bald ganz aus den Regalen verschwinden. Seit seinen ersten kritischen Kommentaren zum Angriffskrieg war ihm bewusst, dass er riskiert, nicht nach Russland zurückkehren zu können, und tatsächlich wurde er drei Wochen nach der Invasion zur Fahndung ausgeschrieben und in Abwesenheit zu acht Jahren Lagerhaft wegen »Falschaussagen über die russische Armee« verurteilt.

Seither verfolgt Dmitri Gluchowski die Diskussion seiner Landsleute jenseits der russischen Grenze und stellt fest, dass sich viele in diesem Krieg vor allem selbst leidtun. Seine Diagnose: toxischer Infantilismus. »Wir haben keine Zivilgesellschaft aufgebaut, anders als in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Dort setzen sich die Menschen mit allem auseinander, auch mit Kolonialismus. Nicht nur Akademiker, auch ganz durchschnittliche Bürger stellen sich Gewissensfragen. Bei uns ist sich jeder selbst der nächste. Keiner verschwendet einen Gedanken daran, dass in der Ukraine schon rund 10 000 Menschen ohne Grund umgebracht wurden. Viel beunruhigender finden sie, dass Apple Pay nicht mehr funktioniert.«

Seine Landsleute würden im Internet eher einen Ersatz für die Bezahl-App suchen als Wahrheiten über den Krieg, den Gluchowski »fast für einen Bürgerkrieg zwischen Russland und der Ukraine« hält. Schließlich seien sie doch brüderliche Nationen und Völker gewesen. Eine Auffassung, die viele Ukrainer und Ukrainerinnen noch nie geteilt haben. Wenn überhaupt handelt es sich bei Russland um einen ungeliebten großen Bruder, der über sie bestimmen möchte, und den man am liebsten nicht hätte.

Eine Versöhnung nach dem Krieg? Unvorstellbar, sagt der ansonsten sehr phantasiebegabte Autor, dessen Bücher ebenso finster sind, wie er sich die Zukunft vorstellt. Er vermutet, dass Deutschland und Frankreich einen Neuanfang geschafft haben, weil sich diese beiden Länder gerade nicht als Brudernationen verstanden haben. »Der Hass ist viel stärker, wenn er sich gegen eine Person richtet, die fast genauso ist wie du.« Dass sich die Russen zu ihrer Verantwortung oder Schuld bekennen, hält er für ausgeschlossen. Sie werden sich wegducken, indem sie behaupten, dass das nicht ihr Krieg gewesen ist, vermutet er.

Der russische Autor, der in der Sowjetunion geboren wurde und bei ihrem Zerfall gerade volljährig geworden war, hat seine ganz eigene Theorie, warum nicht mehr Menschen so wie er ihre Stimme gegen den Krieg erhoben haben. Der Grund seien verschiedene Überlebensstrategien. »Ein Russe betrachtet den Staat wie seinen betrunkenen Vater, der aggressiv ist und dem man aus dem Weg gehen muss. Er ist ein Säufer, fast immer voll und meist böse. Aber du bist von ihm abhängig, weil er dich ernährt. Er hat alle Macht, auch die, dich zu verprügeln, so oft es ihm gefällt. Um zu überleben, musst du – solange der Vater stark ist – so tun, als ob du ihn liebst. Vor allem, wenn du Angst vor ihm hast. Wenn er nach Hause kommt, versteckst du dich, um von ihm nicht bemerkt zu werden. Die Russen erheben nicht das Wort gegen den Staat, so wie auch der Sohn das besser nicht tut. Aber zuzugeben, dass du Angst vor dem Staat hast, ist demütigend, deswegen lässt man das lieber.«

Menschen wie Dmitri Gluchowski, die gut ausgebildet sind, das Ausland kennen, Talent und Ideen haben – halten sich, wenn sie noch im Land sind, von den russischen Behörden fern. Sie wollen nicht für sie arbeiten, denn sie trauen ihnen nicht. So verhält es sich bereits seit Beginn von Putins Amtszeit. Im öffentlichen Dienst machen andere Charaktere Karriere. Die Angepassten. Der Soziologe Lew Gudkow beobachtet seit Jahrzehnten, dass der Staat seine Stellen vor allem mit servilen Untergebenen besetzt. Er macht in den gebildeten Schichten einen Opportunismus aus, der jeden Wandel ausschließlich an die Staatsmacht knüpft. Andere Kräfte in der Gesellschaft verlören so an Ansehen, mit dem Ergebnis, dass es gar keine Autoritäten mehr gebe.

Der Idealismus, mit dem in den 1990er Jahren die Demokratie betrachtet wurde, ist verschwunden. Putin stellt die Reformen von damals als fatal und vom Westen aufgezwungen dar. Er knüpft lieber an die Zeit davor an, will die totalitären Züge der Sowjetmacht wiederherstellen. Schon 2011 schrieb Gudkow, dass das Regime versuche, die politische Konkurrenz, die Massenmedien, die Tätigkeit von gesellschaftlichen Organisationen, die Justiz und andere Institutionen unter seine Kontrolle zu bringen. Das blockiere jede Modernisierung. Immer mehr würden sich Traditionalismus, Nationalismus sowie etatistisch-paternalistische, antiliberale und antiwestliche Einstellungen verbreiten. In der russischen Gesellschaft herrsche politische Apathie, Passivität und Misstrauen gegen jede Art Parteien oder zivilgesellschaftliche Organisationen.

Über 20 Jahre hinweg, so lange wie er regiert, führt Putin einen Krieg gegen Andersdenkende im Inneren. Mit dem Krieg gegen die Ukraine, also nach außen, hat er das Land in eine Kriegsdiktatur verwandelt. Ein totalitäres Regime zu errichten war möglich, weil die Gewaltenteilung nach und nach aufgehoben wurde, Wahlen einzig der Bestätigung des Regimes dienen, Geheimdienste immer mehr Posten übernehmen, Zensur herrscht. Den Menschen wird inzwischen eine patriotische Ideologie aufgezwungen, die zum Maßstab für das Bildungssystem, die Kultur, Kunst und Wissenschaft sowie die Zivilgesellschaft geworden ist. Die Polizeigewalt wurde immer mehr ausgeweitet, Schlüsselpositionen in der Wirtschaft werden kontrolliert und Unternehmen für die Ziele des Regimes eingespannt. Politik und Gesellschaft haben sich militarisiert.

Seit Ende der 1990er Jahre tauchten immer mehr ehemalige KGBler in den Führungsetagen auf. Das war möglich, weil der sowjetische Geheimdienst, anders als die Staatssicherheit der DDR, nicht aufgelöst, sondern nur umbenannt worden war und niemand nach dem Zerfall der UdSSR auf seine Taten während seiner Geheimdiensttätigkeit überprüft wurde. Statt den kriminellen Charakter des Sowjetreiches aufzuarbeiten, wurden die alten Institutionen in kurzer Zeit wiederbelebt. Nicht erst von Putin, auch unter seinem Vorgänger Boris Jelzin. Dessen korrupter Zirkel, Familie genannt, stand außerhalb des Gesetzes. Jelzin benutzte die Polizei und die Justiz für seine Zwecke und sogar die Armee im ersten Tschetschenienkrieg von 1994 bis 1996. Jelzin hat die demokratischen Reformen der Gorbatschow-Ära verraten und Putin als Staatsoberhaupt installiert, der bis heute kein einziges Mal frei gewählt wurde.

Der wirtschaftliche Niedergang während der Perestroika- und Jelzin-Jahre führte in Russland nicht nur zu Lethargie und Zynismus, sondern weckte im Volk auch die Sehnsucht nach den alten Zeiten, als die Sowjetunion eine geachtete oder vielmehr gefürchtete Großmacht war, im Land Stabilität herrschte. Putin war nur zu gern bereit, den Weg zurück in die Vergangenheit einzuschlagen. Seine erste Machtdemonstration, die Teilrepublik Tschetschenien in einem zweiten Krieg zu bombardieren und den Separatisten mit einem Vokabular aus der Gossensprache zu drohen, stießen auf Wohlgefallen in weiten Teilen der Bevölkerung. Gewalt, so gaben die Menschen damals zu verstehen, wurde von ihnen toleriert.

Das Lewada-Zentrum hat die Zustimmungswerte für Putin seit seinem Erscheinen auf der politischen Bühne gemessen und während dieser Zeit immer wieder festgestellt, dass nur ein sehr kleiner Teil der Gesellschaft mit Repressionen, Zensur und Überwachung durch Polizei, Justizministerium oder Medienaufsichtsbehörde auf Linie gebracht werden musste. Ein Drittel sieht den Präsidenten, der bald so lange wie Stalin an der Macht ist, kritisch. Nun aber im Umkehrschluss zu glauben, dass die restlichen zwei Drittel positiv zu Putin stünden, stimmt nicht. Die Zahl der erklärten Putin-Sympathisanten ist etwa genau so groß wie die der Putin-Kritiker. Etwa 30 Prozent. Den entscheidenden Unterschied machen die politisch Indifferenten. Und hier kommt die Staatspropaganda ins Spiel: Die Staatsmedien unterdrücken Unmutsäußerungen und Proteststimmen und stellen die Zustimmung der loyalen Minderheit als Mehrheitsmeinung dar. Die 40 Prozent der Menschen, die sich für unpolitisch halten und sich weder dem einen noch dem anderen Lager zurechnen, werden ideologisch vereinnahmt. Ihre Haltung wird nicht respektiert, man geht über sie hinweg und spricht für sie. Kann daraus eine kritische Masse entstehen?

Das Lewada-Umfrageinstitut hat seit seiner Gründung 1987 die Stimmungen in der Bevölkerung kontinuierlich gemessen. Forschungsdirektor Lew Gudkow sagt ganz grundsätzlich: Widerstand von unten war noch nie Auslöser eines Machtwechsels in Russland.

Die ausgewiesenen Kritiker sind zu wenige, die Unpolitischen in der Mehrheit und passiv. Was Putin sehr entgegenkommt. Er fühlt sich ohnehin an keine Institution und kein Amt mehr gebunden, er ist der Woschd, der »Führer der Nation«, wie er 2007 erstmals auf dem Parteitag von Einiges Russland bezeichnet wurde. Obwohl die hohen Zustimmungswerte für Putin eintönige Staatspropaganda widerspiegeln, kann auch das Lewada-Institut keine gegenteiligen Zahlen präsentieren. Sondern nur die ernüchternde Wahrheit bestätigen, dass Putin immer dann am beliebtesten ist, wenn er Krieg führt. So war es beim zweiten Tschetschenienkrieg, beim Krieg Russlands gegen Georgien, bei der Krim-Annexion. Als er ab August 2021, ein halbes Jahr vor dem Angriff auf Kiew, davon sprach, dass Russland von außen bedroht werde, stiegen seine Werte von 61 Prozent auf 69 Prozent im Januar 2022. Ab dem flächendeckenden Angriff der russischen Armee auf die Ukraine, der »Spezialoperation«, kletterten seine Werte noch weiter nach oben, auf 71 Prozent. Selbst als die Invasion anfangs fehlschlug, stiegen sie noch einmal: auf 83 Prozent im März 2022. Dort verharren sie.

Putins Kriegsgelüste interpretieren seine Landsleute als Entschlossenheit. Was er darüber hinaus an Leistungen vorzuweisen hat, waren in den 2000er Jahren die steigenden Einkommen und ein höherer Lebensstandard. Die Aussicht auf weiter steigenden Wohlstand verflog allmählich, dafür wuchs die Überzeugung, Russlands Autorität und Einfluss in der Welt seien gewachsen, was allein Putin als Verdienst angerechnet wurde. Die Bürger goutierten auch die Modernisierung der Armee. Gudkows Fazit lautet, dass es aus Sicht der Bevölkerung keine weiteren nennenswerten Leistungen in Putins 20-jähriger Regierungszeit gebe. Was bleibe, sei das Bild, Putin handle entschlossen bei der Bekämpfung von inneren und äußeren Feinden und habe Erfahrung. Er mehre mit diesen Eigenschaften das Ansehen Russlands und verteidige dessen Sicherheitsinteressen.

Als einer der markantesten Sätze Putins wird jener aus dem Jahr 2005 zitiert, in dem er das Ende der Sowjetunion als größte Tragödie des 20. Jahrhunderts bezeichnete. Daraus schließen bis heute viele Beobachter, dass Wladimir Putin die Restauration der Union anstrebt. Das aber war zu keinem Zeitpunkt der Fall. Er verstand sich in erster Linie als Geheimdienstler und wurde nur deshalb Mitglied der Kommunistischen Partei, weil der Eintritt in den KGB nicht ohne KPdSU-Parteibuch zu haben war.

Tschekisten ziehen ihn magisch an. So wie zuvor die Straßengangs. Der kleine unscheinbare Junge, der keinerlei besondere Begabungen aufweist – nicht in der Schule, nicht im Sport – merkt schnell, dass er seine Schwäche in eine Stärke verwandeln kann, wenn er sich nur der richtigen Gruppe anschließt. Er unterwirft sich ihrem Ehrenkodex und ihren ungeschriebenen Regeln, die die Welt in »wir« und »die« einteilen. Zusammen mit der geliehenen Kraft des brutal agierenden Verbunds lehrt er die anderen das Fürchten. So ähnlich verhält es sich mit dem KGB. Er wird seine Familie, nicht die Partei. Die Eltern haben zu wenig Einfluss, weil sie fast nie da sind. Seine Mutter geht putzen, der Vater arbeitet sich zum Fabrikleiter hoch. Derweil treibt sich der Sohn auf Sankt Petersburgs Hinterhöfen herum.

Der Geheimdienst stand schon zu Sowjetzeiten über dem Gesetz. Wenn es die Situation erforderte, dem Staatswohl diente, durfte er das Recht brechen, ohne irgendjemandem rechenschaftspflichtig zu sein oder gar strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Die Beamten im KGB lebten isoliert von der sowjetischen Gesellschaft, die sie zwar beobachteten und über die sie wachten, zu der sie aber nicht gehörten. Und noch etwas unterschied sie maßgeblich von den Mitmenschen: Sie, die Spione, reisten in den Westen, der für den Normalbürger unerreichbar blieb. Sie kannten die Welt jenseits des Eisernen Vorhangs, woraus ihr Gefühl der Überlegenheit und Arroganz erwuchs. Auch wenn viele Russen Putin als einen der ihren betrachten, ist er doch gerade keiner von ihnen, den Durchschnittsmenschen. Er fühlte sich stets einer Elite zugehörig. Sein Ziel bestand nicht in der Errichtung eines fernen Kommunismus, sondern eines starken Russlands, das sich in einer Dauerkonkurrenz zu den USA sah. Die utopische Gesellschaftsversion der Kommunisten vermochte ihn nie zu locken, ganz im Gegenteil, er machte die kommunistischen Herrscher vor ihm sogar für den Zerfall des russischen Imperiums verantwortlich. Stalin und dessen Nationalitätenpolitik, die unter ihm verabschiedete Verfassung der UdSSR, die den Sowjetrepubliken das Recht auf Selbstbestimmung zubilligte, und Gorbatschow, der die Nationen gehen ließ, als sie souverän sein wollten.

Als die Union der Sowjetstaaten zusammenbrach, fühlte sich Putin abserviert. In der Stadtverwaltung von Sankt Petersburg bot die Abteilung für Außenhandelsbeziehungen die besten Möglichkeiten, sich neu zu erfinden. Er beschloss, Geld zu machen. Nicht etwa als Gründer einer eigenen prosperierenden Firma, sondern indem er erfolgreiche Unternehmer unter Druck setzen und ausnehmen ließ. Das erste Vermögen hat er vermutlich auf diese Weise erworben. Alexej Nawalny veröffentlichte nicht nur das Ausmaß von Putins heutigem Besitz, sondern zeigte auch, wie er angelegt wurde. In kitschigen Palästen, über die die Öffentlichkeit sich zum Teil lustig machte.

Bei aller Macht, allem Reichtum wird Putin aber auch als ängstlicher und unsicherer Mann beschrieben. Während der Corona-Pandemie isolierte er sich fast gänzlich von seinem Stab. Junge Leute nennen ihn seitdem den Opa im Bunker. Er hat größte Mühe, seine Wut zu kontrollieren und den Hass auf seine Kritiker zu zähmen. Er empfindet Widerworte ausschließlich als Herabsetzung seiner Bedeutung. Auch wer Russlands Größe nicht gebührend bewundert, kränkt ihn persönlich, wie 2014 nach einer Bemerkung von Barack Obama zu beobachten war. Der US-Präsident hatte beim Gipfel zur Atomsicherheit in Den Haag nach der Annexion der Krim gesagt, dass Russland nicht die größte Bedrohung für die Sicherheit der Vereinigten Staaten sei, sondern nur eine »Regionalmacht«, die aus Schwäche, nicht aus Stärke handle. Er sei besorgter darüber, dass in Manhattan eine Atombombe explodieren könne. Rührt daher Putins ständige Drohung mit dem Einsatz von Nuklearwaffen?

Lew Gudkow, der regelmäßig seine Umfrageergebnisse mit denen der staatlich gelenkten Institute vergleicht, weiß inzwischen genau, dass es nicht die Angst vor falschen Antworten ist, die die Menschen so antworten lässt, wie sie antworten, sondern dass die allermeisten Russen unangenehme Wahrheiten über ihr Land aus reinem Selbstschutz nicht an sich heranlassen. Sie befürchten, dass die bisherige Ordnung durcheinandergeraten könnte, mit der sie sich trotz allem identifizieren. Zwar gingen nach Nawalnys Enthüllungen über Putins korrupte Machenschaften zu Beginn des Jahres 2022 in den russischen Großstädten Zehntausende auf die Straße, aber eben nicht Millionen.

Der Soziologe ist heute 78 Jahre alt und lebt in Moskau. Die Leitung des Instituts hat er abgegeben, ist aber immer noch Forschungsdirektor. Sein gesamtes Leben als Wissenschaftler hat er versucht, den Charakter der russischen Gesellschaft zu ergründen, denn die Mehrheit seiner russischen Landsleute unterscheidet sich in ihrem Denken und ihren Werten maßgeblich von westlichen Bürgerinnen und Bürgern. Die Zahlen, die seine Meinungsumfragen Monat für Monat liefern, geben einen gewissen Aufschluss und verlangen dennoch immer wieder nach Einordnung. Er selbst beschreibt die Russinnen und Russen als frustrierte Individuen oder soziale Gruppen, die nach tiefen gesellschaftlichen Krisen orientierungslos geworden sind und ihre Komplexe auf einen Führer übertragen. Er stellt eine »Wahlverwandtschaft« zwischen Putin und seinem Volk fest. Beide sehen sich als Opfer, leiden an einem imperialistischen und militaristischen Syndrom und sehnen sich nach einem paternalistischen Staat. Die Bürger übertragen das Prestige des Präsidentenamts auf die Person des Amtsinhabers. Ihm schreiben sie persönliche Vollkommenheit, idealistische Ziele und edle Charaktereigenschaften zu. Und gestatten ihm, kraft seines Amtes, sich nicht an Regeln halten zu müssen. Zugleich begegnen sie ihm mit Ehrfurcht und Angst, schließlich ist er im Besitz von unbegrenzten Zwangsmitteln. Putin gibt ihnen Selbstachtung, wenn er die imperiale Vergangenheit und die historischen Siege zum Beispiel im Zweiten Weltkrieg maßlos überhöht. Er geht über die Niederlage im Kalten Krieg hinweg, erinnert dafür umso häufiger an das geistig reiche Russland mit seinen besonderen Traditionen und Werten. Der wichtigste Baustein des neuen Selbstwertgefühls entspringt aber der steten Mahnung an die Bedrohung durch die inneren und äußeren Feinde. Andere Nationen werden abgewertet, um sich selbst aufzuwerten. Gewalt ist erlaubt, sie ersetzt Recht und Gesetz.