Auch ohne Jewgeni Prigoschin wird die bekannteste der russischen Privatarmeen weiterhin als ein Instrument des Kremls für die verdeckte Kriegsführung eingesetzt werden. Dass all die »Vorarbeit« auf mehreren Kontinenten aufgegeben, dass auf die weitere Ausbeutung wertvoller Rohstoffe verzichtet werden wird, ist keinesfalls anzunehmen. Denn die »Erfolge« sind nicht zu übersehen. Seit 2018 ist auf dem afrikanischen Kontinent in 31 Ländern ein signifikanter Demokratieabbau zu verzeichnen, der nicht nur auf eine schwache Zivilgesellschaft zurückzuführen ist, sondern maßgeblich von außen befeuert wurde. Hauptakteur ist Russland. Die Afrika-Politik des Kremls besteht in der Untergrabung der Demokratie. Moskau sucht vorzugsweise Kontakte zu autoritären Regimes oder Ländern mit schwachen demokratischen Institutionen. Mit ihnen will es sich verbünden, denn die meisten stehen, genau wie Russland, isoliert da.
In den Vereinten Nationen torpediert Russland demokratische Prozesse auf offener Bühne, etwa durch Blockaden von UN-Resolutionen, in denen zum Beispiel Menschenrechtsverletzungen afrikanischer Regimes oder Wahlfälschungen verurteilt werden sollen. Effizienter ist jedoch die verdeckte Einmischung in den Ländern selbst, deren Ausmaß nur geschätzt werden kann. In den ohnehin instabilen Staaten, die sich in schweren Krisen befinden, gibt es immer empfängliche Gruppen, die mit Waffen geködert werden können. So ist es kein Zufall, dass sich Russland in jenen sieben Ländern engagiert, in denen die meisten Menschen auf dem Kontinent vertrieben worden sind.
Elf der 23 afrikanischen Länder, in denen Russland aktiv ist, befanden sich bereits vor Ankunft der Wagner-Armee in einem Konflikt. Das sind drei Viertel aller afrikanischen Länder, die gegenwärtig in einer Krise stecken. Moskaus hybride Kriege in Afrika richten sich stets gegen die Befürworter der Demokratie. Meist soll eine Kreml-freundliche Regierung an der Macht gehalten oder ihre Amtszeit über die verfassungsmäßig vorgeschriebenen Fristen hinaus verlängert bzw. ein Putsch unterstützt werden. Das Arsenal reicht von Desinformationskampagnen gegen liberal gesinnte Politiker und Aktivisten sowie gegen die früheren westlichen Kolonialmächte über Einmischung in Wahlen bis hin zur Kampfeinsätzen der paramilitärischen Wagner-Einheiten. Zusätzlich zu offiziellen Rüstungsexporten werden im Tausch gegen Rohstoffe und Bodenschätze noch illegale Waffengeschäfte abgeschlossen. Als käme nicht ohnehin mehr als genug russisches Militärgerät in diese Länder. Zwischen 2014 und 2019 stieg laut dem Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstitut Russland mit 49 Prozent zum größten Rüstungslieferanten in Afrika auf, von 2018 – 2022 schickte Moskau immer noch 40 Prozent der Waffen, mit großem Abstand folgten die USA mit 16 Prozent und China mit zehn Prozent. Das Africa Center for Strategic Studies zählte 17 Länder, in denen russische Propagandisten seit 2018 gezielt Desinformationen verbreiteten, 15 Staaten, in denen sich Russland in Wahlen einmischte und 14, bei denen es unrechtmäßige Machtansprüche unterstützte.
Russlands Zusammenarbeit mit den antidemokratischen Kräften verlängert die Krisen, weil Vermittlungsversuche gezielt unterminiert werden. Die Söldner aus dem fernen Russland sollen in Afrika auch amerikanische Interessen vereiteln und sich mit den Autokraten verbünden, denen die Einhaltung der Menschenrechte mehr als lästig ist. Die Legionäre räumen im Auftrag afrikanischer Regierungen Oppositionelle der jeweiligen Länder aus dem Weg, schrecken vor Mord, Massenhinrichtungen, Kindesentführungen und Vergewaltigungen nicht zurück.
Im Oktober 2021 setzten sudanesische Militärs die Übergangsregierung ab, die 2019 nach dem Sturz von Langzeit-Diktator Omar al-Baschir gebildet worden war. Nach Berichten des US-Senders CNN soll es die Gruppe Wagner gewesen sein, die die paramilitärische Einheit Rapid Support Forces (RSF) mit Waffen versorgt hat. RSF war zusammen mit der sudanesischen Armee für den Putsch gegen al-Baschir verantwortlich gewesen. Seit Oktober 2021 regierten RSF-Chef Mohammed Hamdan Daglo und Militär-Oberbefehlshaber Abdel Fattah al-Burhan das Land gemeinsam. Ursprünglich sollten sie die Macht 2022 an eine zivile Führung übergeben. Mitte April 2023 kam es schließlich zu einem Machtkampf zwischen den Fraktionen der herrschenden Militärs. CNN zufolge hat Russland die RSF mit Boden-Luft-Raketen ausgestattet und dadurch erheblich gestärkt.
Während der Fehde zwischen Daglo und Burhan soll Russland bereits im Juli 2022 tonnenweise Gold aus dem Sudan ausgeflogen haben. Von den korrupten sudanesischen Behörden hatten die Wagner-Söldner für ihre Dienste unter anderem Schürfrechte für Gold erhalten. In diese illegalen Geschäfte war Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin gleich mehrfach involviert: einmal über seine Söldner, aber auch über die sudanesische Firma Meroe Gold, die dem russischen Unternehmen M Invest gehört. Nach Ansicht der USA ist M Invest eine Tarnfirma der Gruppe Wagner. Zusätzlich zu den finanziellen Interessen verfolgt Moskau aber auch geostrategische militärische Ziele, zum Beispiel die Errichtung von Militärstützpunkten wie den in der Hafenstadt Port Sudan am Roten Meer.
In Mali hat die russische Einmischung den Konflikt der Behörden mit den Islamisten im Norden des Landes nicht nur verlängert, sondern sogar noch ausgeweitet. Auch die Nachbarländer Niger und Burkina Faso wurden stark erschüttert. Ab 2013 sollte die MINUSMA-Friedenstruppe der Vereinten Nationen, der Deutschland mit angehört, die Krise lösen. Doch nach zwei Putschen 2021 und 2022 regiert in Mali eine militärische Übergangsregierung, die die UN-Friedenstruppe loswerden und lieber mit den Wagnerianern zusammenarbeiten möchte. Grund für die Bundesregierung, die Bundeswehr aus dem Land wieder abzuziehen. Frankreich entschied sich für seinen Rückzug bereits 2022, nachdem sich die Beziehungen zur malischen Militärjunta rapide verschlechterten. Sie hatte den französischen Botschafter ausgewiesen sowie fällige Wahlen verschoben. Ein zusätzliches Dilemma wird sichtbar, wenn sich heute in afrikanischen Ländern UN-Blauhelm-Soldaten und private Sicherheitsfirmen gegenüberstehen: Die meisten Friedenssoldaten stellen gegenwärtig Pakistan, Bangladesch, Nigeria, Indien, Ghana, Kenia und Uruguay. Ihr professionelles Ausbildungsniveau kann mit dem der Kämpfer der Privatmilizen nicht mithalten.
Die russischen Söldner sollen nun das malische Militär ausbilden und hochrangigen Beamten Schutz bieten. Das Außenministerium in Moskau bestätigte das Geschäft, betonte aber, dass die russische Regierung nichts damit zu tun habe. Gleichzeitig begann in Mali eine groß angelegte pro-russische PR-Kampagne, ähnlich wie in der Zentralafrikanischen Republik, wo junge Leute in T-Shirts mit dem Aufdruck »Je suis Wagner« für Fotos posierten. Oberst Assimi Goita, der sich in Mali zweimal an die Spitze des Staates putschte, wurde auf Plakaten zusammen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin abgebildet. Beide stecken in Kampfmonturen und haben Waffen in den Händen. Eine Fotomontage, denn so zeigte sich Putin bislang noch nie. Unter dem Foto heißt es auf Französisch, dass das Volk sie unterstütze.
Parallel zur »Ausbildungsmission« der russischen Söldner begannen die Firmen Alpha Development und Marko Mining, die eigens von Prigoschins Imperium neu gegründet worden waren, mit der Erkundung von Goldminen in Mali.
In Mosambik lässt sich die Privatarmee mit Sitz in Sankt Petersburg mit Erdgas bezahlen, in der Zentralafrikanischen Republik mit Gold, Diamanten und Edelhölzern. Die unappetitlichen Dienste sind so einträglich, dass der Kreml nicht freiwillig auf sie verzichten wird. Vollkommen unklar ist bislang, wer die wertvollen Ressourcen bisher zu Geld machen durfte und in wessen Kasse es landete. Die für Russlands inoffizielle Außenpolitik so nützliche Truppe wurde vom russischen Staat finanziert, wie Putin erst zugab, als der Söldnerchef nicht mehr nur anderen beim Putschen helfen wollte, sondern sich auch einmal selbst daran versuchte. Doch hat Prigoschin in all den Jahren den Profit selbst eingestrichen oder musste er etwas abgeben? An wen? Und wer hat es jetzt auf das lukrative Geschäft abgesehen? Das Gerangel an den Fleischtöpfen dürfte längst im Gange sein.
Die Ausbeutung der afrikanischen Schätze ist ohne Zweifel eine wichtige Einnahmequelle für Russland geworden. Auch als Absatzmarkt, nicht nur für Waffen, sondern auch für Waren, die vor dem Krieg nach Europa verkauft werden konnten, bekommt der Kontinent mit seinen 1,5 Milliarden Bewohnern eine immer größere Bedeutung.
Doch die russische Afrika-Politik kennt ausschließlich Destruktion. Statt mit Soft Skills Konflikte zu lösen, Arbeitsplätze zu schaffen, Infrastruktur zu errichten, also eine nachhaltige Entwicklung und damit auch anhaltend gute Beziehungen zu fördern, setzt Moskau auf den Machterhalt der Despoten.
Russlands Politik in Afrika trägt aber auch in anderer Hinsicht Früchte. Sie sorgt dafür, afrikanische Staaten bei Abstimmungen der Vereinten Nationen in New York auf Putins Seite zu ziehen. Beispielsweise wenn es um seinen Angriffskrieg in der Ukraine geht. Bei Mali und auch bei Nicaragua ist dies gelungen. Hatte sich Mali bei der ersten Resolution am 24. März 2022 noch enthalten, stimmte es am 23. Februar 2023 dagegen, die Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine auf das Schärfste zu missbilligen, wie es in dem Antrag hieß. Eine noch größere Kehrtwende vollzog Nicaragua, das ein Jahr zuvor den Krieg verurteilte und nun gegen eine Missbilligung auftrat. Damit waren es nicht mehr nur fünf Gegenstimmen, einschließlich der russischen, sondern sieben. China und Indien enthielten sich erneut, Brasilien stimmte der Verurteilung Russlands zu, was eine Überraschung war, hatte man doch nach dem Wechsel von Lula da Silva ins Präsidentenamt mit einer russlandfreundlicheren Positionierung gerechnet.
Wie schnell sich Putin hingegen von Partnern abwenden kann, erlebte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Beide pflegten über viele Jahre engen Kontakt. Doch nach dem Massaker der Hamas an der israelischen Zivilbevölkerung am 7. Oktober 2023 wartete man lange auf eine Beileidsbekundung des russischen Präsidenten. Ursache war Putins Enttäuschung darüber, dass Netanjahu nicht seiner Kriegsbegründung gefolgt war, bei der Regierung in Kiew handele es sich um eine faschistische Junta, gegen die Russland vorgehen müsse. Der ansonsten sehr wendige israelische Regierungschef schloss sich zwar weder Sanktionen gegen Russland an, er lieferte auch keine Waffen an die Ukraine, doch die Volte, ausgerechnet den jüdischen Präsidenten der Ukraine als einen Nazi darzustellen, hatte er nicht mitgemacht. Im Gegenzug ließ sich Putin Zeit, für die Angehörigen der israelischen Opfer mitfühlende Worte zu finden. Dagegen beeilte er sich, Vertreter der palästinensischen Terrororganisation im Kreml zu empfangen.
Dass die Russische Föderation immer noch ihr Veto-Recht im Weltsicherheitsrat nutzen darf, erzeugt zunehmend mehr Unmut. Obwohl die russische Regierung mit dem Angriffskrieg massiv gegen die UN-Charta verstößt, legt sie Wert auf die Anwesenheit in diesem Gremium, das sie selbst nicht respektiert, sondern schwer in seinem Ansehen beschädigt. Ähnlich verhält es sich mit dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen. Eine große Mehrheit der Vollversammlung der Vereinten Nationen hatte nach den mutmaßlichen Kriegsverbrechen der russischen Armee im ukrainischen Butscha für eine Aussetzung der Mitgliedschaft Russlands aus dem Menschenrechtsrat gestimmt. Ein Jahr später kandidierte Moskau wieder für einen Sitz. Die geheime Wahl wurde als Test dafür gesehen, wie salonfähig das Aggressorland wieder ist. Das Votum war erfreulich einhellig. Für Bulgarien und Albanien stimmten 160 bzw. 123 Länder in der UN-Vollversammlung, Russland unterlag mit 83 Stimmen. Die Hoffnung, dass sich die Länder des sogenannten globalen Südens auf seine Seite schlagen, ging nicht auf.
Putins Strategie ist immer gleich. Seine Politik, ob innen oder außen, hat die Aushöhlung der Institutionen zum Ziel. Die UN-Charta wird unterlaufen, Wahlen werden gefälscht und somit als Abbild des wahren Kräfteverhältnisses entwertet. Ob Faschismus, Nazis, Demokratie, Föderation, Menschenrechte, Terrorbekämpfung, Parlamente, Justiz, Presse bis hin zum Krieg, der Spezialoperation genannt wird – all diese Bezeichnungen hat Putin ihres Sinns beraubt. Er verwendet sie in einer Weise, die mit ihrer ursprünglichen Bedeutung nichts mehr zu tun hat. Fatal ist, dass viele Menschen in Russland glauben, man spreche immer noch dieselbe Sprache. Doch Putin und seine Propagandisten haben wie viele andere Institutionen auch ihre Muttersprache gekapert und sind dabei sie zu entkernen. Der Schaden ist gigantisch, denn im Bewusstsein vieler Russinnen und Russen – und dort, wohin die Inhalte der russischen Trollfabriken reichen – geht das Wissen um die ursprüngliche Bedeutung von Worten verloren und die Menschen merken nicht, dass von völlig unterschiedlichen Dingen die Rede ist, wenn zum Beispiel von der Presse gesprochen wird, damit aber keine unabhängige Berichterstattung gemeint ist, sondern diese den Propagandakanälen längst Platz gemacht hat.
Schon seit Jahren wird eine Reform des UN-Sicherheitsrates angemahnt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der dort im September 2023 als Gast geladen war, wurde deutlicher als andere Kritiker zuvor. Die Veto-Macht in Händen des Aggressorstaates habe die UNO in eine Sackgasse geführt, man solle Russland das Veto-Recht entziehen. Alle Maßnahmen der UNO, sei es durch den Sicherheitsrat oder die Generalversammlung, die diese Aggression hätten stoppen können, seien durch das Privileg, das dem Aggressor mit diesem Sitz eingeräumt wird, zunichte gemacht worden. Die Menschheit setze ihre Hoffnungen nicht mehr auf die UNO, wenn es um die Verteidigung der souveränen Grenzen der Nationen geht. Im gegenwärtigen System sei die Suche nach echten Lösungen durch das Streben nach einem Kompromiss mit Mördern ersetzt worden. Die 193 Mitgliedsstaaten sollten das Veto eines Mitglieds im Sicherheitsrat mit Zweidrittelmehrheit »suspendieren« können, schlug er vor. Der Rat solle größer werden und Deutschland einen ständigen Sitz einräumen. Selenskyj bekam viel Unterstützung. Vor allem den afrikanischen Ländern sprach er mit dem Ruf nach Reformen aus dem Herzen. Unter anderem, weil Russlands Einmischung die Friedensbemühungen der Vereinten Nationen auf dem Kontinent untergrabe. Dort finde die Mehrheit der UN-Blauhelm-Missionen statt. Doch im Rat seien immer nur drei afrikanische Staaten ohne Veto-Recht erlaubt. In fast der Hälfte der Sicherheitsratssitzungen 2022 würden afrikanische Themen behandelt, aber noch immer werde viel mehr über Afrika statt mit Afrika gesprochen.
An Russland selbst prallen solche Worte ab, weil man sich in Sicherheit wiegt, und das zu Recht, bislang zumindest wurde keine Reform des obersten UN-Gremiums angekündigt, geschweige denn das Veto-Recht Russlands in Frage gestellt, auch wenn bekannt ist, welche Strategie es beispielsweise in afrikanischen Staaten verfolgt. Und so konnte Außenminister Sergej Lawrow bereits zwei Tage nach Prigoschins Aufstand im Juni 2023 zur gewohnten Tagesordnung übergehen: Die Söldnergruppe Wagner werde trotz ihres abgebrochenen Aufstands in Russland weiter ihre Einsätze als »Ausbilder« in Mali und der Zentralafrikanischen Republik ausführen. Die Revolte der paramilitärischen Organisation werde die Beziehungen zwischen Moskau und seinen Verbündeten nicht beeinträchtigen.
Es sagt eine Menge aus über eine Regierung, die eine solche Bande finanziert und für ihre Zwecke einspannt. Spätestens Prigoschins Tod wäre ein Anlass gewesen, sich ihrer zu entledigen. Hat sie doch Putins Macht auf offener Bühne angegriffen. Regierungschef Michail Mischustin stach als einer der wenigen hervor, die sich überhaupt mit dem Präsidenten solidarisierten, das Schweigen in der politischen Klasse war bezeichnend. Prigoschin hatte sich unmittelbar nach dem Putsch gerechtfertigt. Er sei aus rein patriotischen Motiven nötig gewesen. Seine Organisation würde ausschließlich im Interesse Russlands agieren, auch in Afrika und im arabischen Raum. Aber aufgrund von Intrigen habe die Existenz der Wagner-Gruppe am 1. Juli beendet werden sollen. Dagegen habe man protestieren wollen, jedoch nicht, um die Obrigkeit im Land zu stürzen. Tatsächlich hatte Verteidigungsminister Schoigu verlangt, dass sich die Privatarmee in die regulären Streitkräfte einfügt. Sein Ziel war es gewesen, Prigoschin das Kommando zu entziehen und dessen Alleingänge damit zu beenden.
Nach Prigoschins Tod muss der Umgang mit der Spezialeinheit neu geordnet werden. Auch ihre zukünftige Führung steht zur Debatte. Eine Zeitlang sah es so aus, als ob die Wagner-Truppe – unter welcher Führung auch immer – von Belarus aus ihr Unwesen in Richtung NATO-Grenze treiben könnte. Doch statt der mindestens 5000 erwarteten Söldner, für die schon Feldlager errichtet worden waren, tauchten dort nur 500 auf. Womöglich hat Putin noch während der Meuterei, als er Verhandlungen mit Prigoschin, vermittelt durch Lukaschenko, zustimmte, den Amtskollegen in Minsk nicht nur benutzt, sondern auch getäuscht. Putin hatte mutmaßlich nie vor, in Belarus ein Ausbildungslager oder einen Wagner-Stützpunkt zu installieren. Es war Lukaschenko, dem dieser Vorschlag gefiel. Für Putin hätte er bedeutet, dass die »Musikanten«, wie die Wagner-Leute auch bezeichnet werden, nach ihrem Umzug nach Belarus deutlich dichter an Moskau herangerückt wären. Ihr bisheriger Standort in Molkin im Gebiet Krasnodar war fast 1400 Kilometer von der russischen Hauptstadt entfernt, der in Belarus wäre nur noch 700 Kilometer weit weg gewesen. Damit stünde die Truppe im Ernstfall viel schneller vor den Kreml-Toren, als dem Präsidenten lieb sein kann. Trotzdem hat allein die Idee, die Wagnerianer nach Belarus zu schicken, in Polen, in den baltischen Ländern und in der NATO für Nervosität gesorgt.
Einen Monat nach dem vermeldeten Tod des Milizenführers hieß es aus Kiew, dass die Wagner-Söldner wieder im Osten der Ukraine gesichtet worden seien. Ob sie aus Russland oder Belarus gekommen waren, blieb zunächst im Dunkeln. Auch ob sie inzwischen Verträge mit Russlands Verteidigungsministerium abgeschlossen hatten und nun unter dessen Oberkommando an der Front kämpften. Putin bemühte sich ganz augenscheinlich nicht mehr, Distanz zu der Einheit zu wahren. Als sei es eine Angelegenheit von allerhöchstem Interesse, empfing er einen der Wagner-Kommandeure, Andrej Troschew, mit dem er vor laufender Kamera die Zukunft des umstrittenen »Orchesters« besprach.
Troschew ist ein alter Bekannter, Oberst im Ruhestand, vielfach ausgezeichnet. Er war in Afghanistan, Tschetschenien und Syrien, wo er an den allerersten Wagner-Operationen für Diktator al-Assad teilnahm. In Prigoschins Unternehmen bekleidete er die Funktion des Exekutivdirektors der Kampftruppe. Troschew gehört zum Petersburger Kreis, wurde wie Putin dort geboren, ist aber zehn Jahre jünger als dieser. Im Dezember 2016 lud Putin ihn zusammen mit Dmitri Utkin zu einem Empfang im Kreml ein. Auf Protokoll-Fotos von der Veranstaltung ist an Troschews Jacke der Orden »Held Russlands« erkennbar. Ob er ihn frisch verliehen bekommen hatte, ist ungewiss, denn das Dekret des Präsidenten, das üblicherweise diese Auszeichnung annonciert, ist nicht öffentlich zugänglich.
Der drahtige Offizier hatte sich nach der Meuterei von Prigoschin distanziert. »Sedoi«, der »Grauhaarige«, wie er sich nennt, genießt erkennbar Putins Vertrauen, denn schon bei einem Kreml-Treffen Ende Juni 2023, an dem Prigoschin noch teilnahm, schlug der Präsident den anwesenden Söldnern vor, ihren Dienst unter Troschews Kommando fortzuführen. Er ist die graue Eminenz im Wagner-Imperium, zuständig für die Aufrechterhaltung des Geheimhaltungsregimes sowie für die personelle, finanzielle und informationelle Sicherheit. Er dürfte damit Zugang zu den sensibelsten Daten haben.
Den damals noch lebenden Prigoschin hat der Seitenwechsel Troschews wohl schockiert, denn vermutlich kennt keiner die internen Strukturen der Prigoschin-Unternehmen besser als der Sicherheitschef. An Troschews Seite bei dem Gespräch im Kreml Ende September 2023 saß der stellvertretende Verteidigungsminister Junus-bek Jewkurow, der wenige Tage nach dem vermeldeten Prigoschin-Tod sowohl in Burkina Faso, in Mali als auch in Libyen gesichtet worden war. Quellen wie das russische Investigativportal The Insider und die New York Times berichteten, dass der Vize-Minister sogar schon vor Prigoschins Flugzeugabsturz in Afrika war. Sein Besuch soll der »Neuverhandlung der Beziehungen« gedient haben, was wohl im Klartext bedeutete, dass sich die Regierung sowohl die Firmen als auch die Aufträge des »Dirigenten« sichern wollte. Außerdem kündigte Jewkurow an, dass die Söldner in Afrika bleiben werden, aber künftig unter der Führung des russischen Militärgeheimdienstes GRU. Der Auslandsgeheimdienst SWR wiederum soll laut The Insider Anspruch auf die Trollfabriken erhoben haben.
Kurz nach Jewkurows Trip wurde bekannt, dass das Wagner-Unternehmen auf dem afrikanischen Kontinent durch eine militärische Sicherheitsfirma namens Konvoi ersetzt werden soll. Ob Konvoi das umbenannte Wagner-Corps sein wird oder es sich dabei tatsächlich um eine Neugründung handelt, ist noch nicht bekannt. Nur dass Konvoi von der zweitgrößten Bank Russlands, der VTB, finanziert werden soll, und von Unternehmen, die mit dem Putin-Vertrauten Arkadi Rotenberg verbunden sind.
Hinter den Kulissen des Prigoschin-Imperiums ist also vieles in Bewegung geraten. Mit den größten Auseinandersetzungen ist beim Kampf um Prigoschins zahlreiche Firmen zu rechnen. 149 Unternehmen sind es offiziell. Deren Kontrolle könnte Pawel Prigoschin anstreben, sein 25-jähriger Sohn. Wenn es ihm denn gelänge. Denkbar, dass sein Widerstand gegen die Enteignung der väterlichen Besitztümer für ihn lebensgefährlich wird. Die Gesamteinnahmen des Firmenkonglomerats sollen im Jahr 2022 rund 75 Milliarden Rubel betragen haben, also über 730 Millionen Euro. Wohlbemerkt umfasst diese Summe nur die bekannten und sichtbaren Geschäfte. Aber selbst in diesem Fall hat Prigoschin zur Gruppe der 200 reichsten Russen gehört. Nicht eingerechnet sind in diese Einnahmen die fast eine Milliarde Euro staatlicher Subventionen für die Privatarmee, die Putin zugegeben hat, sowie noch einmal fast eine Milliarde Euro für die Concord-Betriebe, die die Privat-Armee verpflegten.
Der Bonner Politikwissenschaftler Andreas Heinemann-Grüder vergleicht die russische Privatmiliz Wagner mit den Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes der SS und mit der Waffen-SS während des Nationalsozialismus sowie mit Todesschwadronen, also terroristischen Gruppen, die im Auftrag oder mit Billigung eines Staates morden. Die Gruppe Wagner sei eine staatsterroristische Verfügungsgruppe und damit Inbegriff dessen, was die russländische Propaganda dem extrem nationalistischen ukrainischen Regiment Asow vorhalte.
Dass nichtstaatliche Akteure überhaupt Gewalt ausüben dürfen, erhöht die Gefahr für einen innerrussischen Machtkampf, der Putin am Ende das Amt kosten könnte. Diese Büchse der Pandora hat er selbst geöffnet. Ihn würde mindestens eine Mitschuld treffen, sollte sein Reich nach einem verlorenen Krieg gegen die Ukraine in einem Bürgerkrieg versinken und zerfallen. Letzteres Szenario wird von der russischen Propaganda immer wieder wie der Teufel an die Wand gemalt. Es soll Unsicherheit schüren und die Menschen warnen, dass ihre Zukunft ohne Putin noch düsterer aussehen würde.
Es ist der Präsident selbst, der nichts gegen die Gründung von immer mehr Privatarmeen in Russland unternimmt. Vermutlich hält er sie für ein zusätzliches Gewaltinstrument in seinen Händen, jenseits der regulären Sicherheitskräfte. Aber spätestens nach Prigoschins Extratour dürfte auch er ahnen, dass diese Truppen außer Kontrolle geraten und sich gegen ihn richten können. Im für ihn schlimmsten Fall könnte ihm sogar der immer stärker aufgeblähte Apparat der Silowiki, der bewaffneten Organe, nichts mehr nützen.
Der Politologe Abbas Galljamow hat dem Ex-Söldnerboss Prigoschin ein großes zerstörerisches Potential bescheinigt. Jemand wie er hätte tatsächlich einen Bürgerkrieg auslösen können. Bürgerkrieg meine in dieser Situation nicht, dass eine Partei gegen eine andere kämpft, sondern jeder gegen jeden. Viele nähmen wahr, dass im gesamten Land eine explosive Stimmung herrsche. Der russische Politologe Wladimir Pastuchow beschrieb es mit einem Bild: Es sei wie bei einem Benzinkanister, von dem bereits Dämpfe aufsteigen, und es genügt, dass diese sogenannten Turbo-Patrioten oder jemand von der Regierung ein brennendes Streichholz daranhalten. Und schon geht das Ganze hoch.