Die 12-jährige Maria aus Jefremow in der Nähe von Tula soll sich in der Schule Gedanken über die »militärische Spezialoperation« machen. Sie malt ein Bild von einer Frau mit einem Kind auf ukrainischer Erde. Den beiden nähern sich Raketen aus Russland. Marias Lehrerin ist alarmiert, sie trägt die Zeichnung zur Direktorin und die meldet das Mädchen der Polizei. Der alleinerziehende Vater, Alexej Moskalew, wird in die Schule und später ins Polizeipräsidium bestellt, danach verhören FSB-Mitarbeiter Vater und Tochter. Das Kind ist inzwischen völlig verängstigt und weigert sich, zur Schule zu gehen.
Am Morgen des 30. Dezember 2022, als der Vater gerade zur Arbeit aufbrechen will, halten drei Polizeiwagen vor dem Haus, außerdem ein Fahrzeug vom Katastrophenschutz. Ein Dutzend Männer vom FSB und von der Polizei steuern auf den Eingang zu und dringen dann in die Wohnung ein. Vater und Tochter lassen die Hausdurchsuchung über sich ergehen. Anschließend fliehen sie und verstecken sich drei Monate lang in einem Nachbarort. Als man sie entdeckt, wird der Vater zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilt, weil er sich im Internet ebenfalls kritisch über den Krieg geäußert hat. Außerdem wollen ihm die Behörden das Sorgerecht entziehen. Maria soll in einer Ersatzfamilie untergebracht werden. Erst im letzten Augenblick holt die Mutter den Teenager zu sich.
Wieder gibt es statt eines Aufschreis in der Bevölkerung nur vereinzelte Stimmen, die sich angesichts der Unerbittlichkeit bei der Verfolgung politisch Andersdenkender ihren Kommentar nicht mehr verkneifen können. Doch der Rest schweigt. Auch zu dem zynischen Foto, das unter der Überschrift »Die neue Mode an russischen Schulen« ins Netz gestellt wurde: Ein Kind – es ist nicht auszumachen, ob Junge oder Mädchen – mit Sturmhaube auf dem Kopf, die nur die Augen erkennen lässt, hält mit beiden Händen einen übergroßen Vorschlaghammer. Gepostet wurde es von Wagner-Chef Prigoschin, dessen Leute im November 2022 ihren ehemaligen Kameraden mit einem solchen Hammer vor laufender Kamera hingerichtet haben.
Putins Regime ist schon viele Jahre auf die Gleichschaltung der Gesellschaft ausgerichtet. Dass nun schon Schüler durch Denunziation, Einschüchterung und Gewaltverherrlichung auf Linie gebracht werden, ist eine neue Qualität. So soll der Nachwuchs offenbar desensibilisiert werden.
Dem Schicksal, das Maria aus Jefremow drohte, entgingen viele Kinder aus der Ukraine nicht. Zu den schlimmsten Verbrechen, die Russland dort verübt, gehört die Verschleppung von Kindern. Die russischen Behörden rechtfertigen den Abtransport Tausender Mädchen und Jungen mit Evakuierungs- und Rehabilitationsmaßnahmen für die Kinder. Die Zahlen gehen weit auseinander. Die ukrainische Seite gibt mindestens 14 000 an, Russland selbst brüstet sich, bis zu 150 000 Kindern endlich ein »richtiges« Zuhause gegeben zu haben. Ukrainische Menschenrechtsaktivisten setzen die Zahl noch viel höher an, sie gehen von bis zu 200 000 Minderjährigen aus, von denen oft jede Spur fehlt.
Die Charkiwer Helsinki-Gruppe, das Zentrum für bürgerliche Freiheiten, das 2022 den Friedensnobelpreis erhielt, oder auch die Ostukrainische Juristen-Gruppe sowie das Kiewer Institut für strategische Forschung und Sicherheit – sie alle dokumentieren diese Art von Kriegsverbrechen. Dass die Deportation von minderjährigen Ukrainern eine vom Kreml zumindest unterstützte, wenn nicht gar initiierte Aktion war, zeigte das offizielle russische Staatsfernsehen. Nur zwei Wochen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine war zu sehen, wie eine blonde Frau in gepunkteter Seidenbluse in Putins Büro vorstellig wurde und an einem kleinen Besprechungstisch gegenüber dem Präsidenten Platz nahm. Es handelte sich um die 38-jährige Marija Lwowa-Belowa, die russische Ombudsfrau für die Rechte von Kindern, die in einem weichen Russisch ihr Anliegen vortrug. »Zu uns sind über 1000 Kinder gekommen und unsere Mitbürger, die ja ein großes Herz haben, stehen schon Schlange, um diese Kinder aufzunehmen. Aber dafür braucht es einige Gesetzesänderungen.« Welche Kinder auf welche Weise nach Russland gekommen waren, sagte sie nicht, Putin fragte auch nicht nach.
Tatsächlich handelte es sich um ukrainische Jungen und Mädchen, die nicht etwa gekommen waren, sondern die man mit Hilfe der Kreml-treuen Behörden in den sogenannten Donezker und Luhansker Volksrepubliken unter anderem aus Waisenheimen im Donbass in die Russische Föderation gebracht hatte. Die Zahl der Internet-Suchanfragen zu Adoptionen schnellte seit Lwowa-Belowas Putin-Besuch nach oben. Offenbar interessierten sich plötzlich viele Russen für »Adoption, Kinder, Donbass«. Die Internet-Suchmaschine Yandex verzeichnete einen Anstieg von 200 Anfragen im Februar auf 13 000 jeweils im März und April 2022. Unzählige Menschen verspürten offenbar plötzlich den Wunsch, ein Kind anzunehmen, und erfuhren, dass das gar nicht so einfach war. Durch das inszenierte Gespräch ließ der Präsident die Öffentlichkeit wissen, was er vom Parlament erwartete: ein beschleunigtes und vereinfachtes Verfahren, das die zügige Vermittlung von aus der Ukraine verschleppten Minderjährigen an russische Familien erlaubt.
Für die ukrainische Bevölkerung ist der Kinderraub eine Katastrophe in mehrfacher Hinsicht. Die russischen Angriffe kosten viele ukrainische Menschenleben. Auch wenn die Zahlen geheim gehalten werden, schätzen Beobachter sie auf weit über 100 000 allein im ersten Kriegsjahr. Soldaten und Zivilisten. Im Land fehlen außerdem mindestens acht Millionen Menschen, die geflohen sind. Über ein Drittel möchte im Ausland bleiben, ein Drittel ist unentschlossen, nur 35 Prozent wollen auf jeden Fall zurückkehren. Je länger der Krieg dauert, desto weniger Menschen werden es in der Ukraine.
Einst, nach der Erlangung der Unabhängigkeit 1991, hatte die Ukraine über 51 Millionen Einwohner. Wegen der abnehmenden Geburtenrate schrumpfte die Zahl bis 2022 auf knapp 40 Millionen. Seit dem russischen Einmarsch bekamen die Ukrainerinnen noch weniger Kinder, die Geburtenrate sank auf 0,8 und dürfte kaum schnell wieder steigen. Denn es fehlen die jungen Paare, die Familien gründen könnten. Sie kämpfen, sind geflohen, verletzt oder gefallen. Wenn der Krieg lange dauert, noch mehr Ukrainer gehen und nur wenige zurückkehren, prognostiziert die Europäische Union dem Land einen Rückgang auf 33 Millionen Menschen. Da sich Russland auch noch an der hoffnungsvollsten nächsten Generation vergreift, könnten es noch weniger werden.
Statt die Kinder aus den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten vor den Kriegshandlungen zu evakuieren und sie umgehend den ukrainischen Behörden zu übergeben, begann Marija Lwowa-Belowa, die Unterbringung in Waisenhäusern und Pflegefamilien auf russischem Territorium zu organisieren und eine Art Zwangsrussifizierung einzuleiten. Diese Vorgehensweise ist Teil einer hybriden Kriegsführung. »Für die Ukraine ist es ein Krieg der verspäteten Dekolonisierung, ein Krieg um die endgültige Freiheit, während Russland versucht, die Ukraine zu rekolonisieren«, sagt Maria Mälksoo vom Zentrum für Militärstudien an der politikwissenschaftlichen Fakultät der Universität Kopenhagen. Die Russifizierung der ukrainischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten erfolge gemäß Putins Verständnisses, dass Ukrainer und Russen sowieso ein Volk seien. Hinzu käme die Sowjetisierung. In der UdSSR sei die einheitliche kommunistische Ideologie entscheidend gewesen, die ethnische Zugehörigkeit hätte marginale Bedeutung gehabt.
Argumentativ verfolgt Putin eine Doppelstrategie: Auf der einen Seite unterdrückt er das Zugehörigkeitsgefühl der Ukrainer zur ukrainischen Nation zugunsten einer möglichst gleichgeschalteten russischen Gesellschaft, auf der anderen Seite verbreitet er die wahrheitswidrige Behauptung, dass die moderne Ukraine eine Erfindung der Sowjetära sei. In seinem revisionistischen Aufsatz über die »Historische Einheit von Russen und Ukrainern« stellte er 2021 die Ukraine als einen künstlichen Staat dar, der sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR historisch russische Gebiete angeeignet habe. Weil Russland beraubt worden sei, müsse nun die historische Gerechtigkeit wiederhergestellt werden. Die Gebiete samt der Bevölkerung müssten zurück in den Bestand Russlands gebracht werden.
Wie das bewerkstelligt werden könnte, hat Timofei Sergejzew dargelegt. Der Polit-Technologe verfolgte einen noch radikaleren Ansatz. Er schlug Krieg als Mittel der Umerziehung und Auslöschung der Identität vor. Für ihn treffe die Ukrainer eine Kollektivschuld, weil sie ihre »antirussische Regierung« unterstützt hätten: »Die weitere Entnazifizierung dieser Bevölkerungsmasse besteht in der Umerziehung, die durch ideologische Unterdrückung der nazistischen Einstellungen und strenge Zensur erreicht wird: nicht nur im politischen Bereich, sondern notwendigerweise auch im Bereich der Kultur und der Bildung. Die Bandera-Spitze muss liquidiert werden, ihre Umerziehung ist unmöglich. Der gesellschaftliche ›Sumpf‹, der ihn aktiv und passiv durch Handeln und Nichthandeln unterstützt hat, muss die Härten des Krieges ertragen und die Erfahrung als historische Lektion und Sühne für seine Schuld verinnerlichen.« Diese »Kolumne« hat nach ihrer Veröffentlichung im April 2021 selbst in Russland einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Nach nur wenigen Tagen wurde sie von der Internetseite der staatlichen Agentur RIA Novosti gelöscht. Doch ein halbes Jahr später ging Moskau nach ebendiesem Szenario vor. Der russischen Invasion folgte die Russifizierung.
Auch führende Politologen wie Sergej Karaganow, Alexander Kramarenko, Fjodor Lukjanow und Dmitri Trenin setzen in ihren Empfehlungen für den Kreml 2023 auf die Umerziehung der ukrainischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten. Der Annexion müsse eine »intensive ideologische Indoktrination ähnlich der in der DDR mit der Verdrängung nationalistischer Elemente« folgen. Außerdem schlagen sie vor, die westliche Ukraine, auf der rechten Uferseite des Dnipro, in einen landwirtschaftlichen Randbezirk zu verwandeln, der die Nutzung für militärische Zwecke verhindert. Ihrer Meinung nach besteht das Wichtigste bei der Lösung der »Ukraine-Frage« darin, die Region in »einen freundlichen Puffer an unseren Grenzen zum Westen« zu verwandeln.
Die Autoren, die dem Kreml die Entwicklung Sibiriens als neue große nationale Idee schmackhaft machen wollen, denken an die Umsiedelung von ein bis zwei Millionen Menschen aus der Westukraine dorthin. Entweder in schon bestehende Städte oder neu zu bauende. Sibiriens Entwicklung könnte der russischen Elite eine »grandiose Aufgabe« bescheren und sie abbringen von westlichen Ideen. Ausführen müssten sie Menschen aus der Westukraine. Dieses auszugsweise bekannt gewordene Pamphlet mit dem Titel »Probleme und Lehren aus der jüngeren Geschichte der Außenpolitik Russlands und die Möglichkeit ihrer Korrektur« sollte nach der Erfahrung mit Putins Aufsatz über die angebliche Einheit von Russen und Ukrainern nicht vorschnell abgetan werden. Die grausame Wahrheit ist, dass der Kreml diese ungeheuerlich klingenden Pläne jeweils umzusetzen versucht. Worten folgen Taten.
Dass die Ombudsfrau für Kinderrechte die Adoptionsverfahren in Russland rasch vereinfachen möchte, hat nur einen Grund: die Russifizierung der besetzen Gebiete voranzutreiben. Ein Kind aufzunehmen war 2012 deutlich erschwert worden. Nicht, weil es keine Adoptionen in Russland mehr geben sollte, die fanden ohnehin kaum statt, sondern weil man sie Bürgern »unfreundlicher Länder« verwehren wollte. Sogar die Vermittlung von Kindern mit körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen wurde beendet, obwohl sich ihrer in Russland kaum jemand annimmt.
Am 28. Dezember 2012 wurde das sogenannte Dima-Jakowlew-Gesetz erlassen, das seinen Namen von dem russischen Jungen bekam, den sein amerikanischer Adoptiv-Vater in seinem Auto vergessen hatte und der wegen der Hitze darin erstickt war. Sein Tod wurde von den russischen Medien ausgeschlachtet als ein Fall systemischer Verantwortungslosigkeit ausländischer Adoptiveltern ihren russischen Schützlingen gegenüber. Doch in Wahrheit zielte das neue Gesetz nicht auf die Kinder und deren neue Eltern, sondern es war eine Antwort auf das Einreiseverbot, das der US-Kongress 2012 in der Amtszeit von Barack Obama gegen russische Beamte verhängt hatte. Und zwar gegen jene, die am Tod des russischen Steueranwalts Sergej Magnitzki beteiligt gewesen sein sollen. Der Magnitzki Act und das Dima-Jakowlew-Gesetz sind ein typisches Beispiel von tit for tat – wie du mir, so ich dir – im russisch-amerikanischen Verhältnis. Doch wie so häufig wurde die Rache an den USA auf dem Rücken der eigenen Staatsbürger ausgetragen, in diesem Fall auf dem von kranken und beeinträchtigten Kindern, die oft nur im Ausland noch eine Chance auf Förderung und Entwicklung haben.
Nun, da ukrainische Kinder schnellstmöglich russische Staatsbürger werden sollten, drückte der Kreml-Herr aufs Tempo. Sein Erlass über die vereinfachte Adoption ausländischer Kinder trat bereits im Frühsommer 2022, nur acht Wochen nach Putins Gespräch mit Marija Lwowa-Belowa, in Kraft.
Die Deportationen der ukrainischen Kinder begannen schon vor der russischen Invasion. Mykola Kuleba, Leiter der Organisation Save Ukraine und bis 2021 Kinderbeauftragter der Ukraine, hat verfolgt, dass Jungen aus Kinderheimen in den Separatistengebieten im Donbass schon seit 2014 nach Russland gebracht wurden. Dort, so sagt er, seien sie umerzogen und in die russische Armee eingegliedert worden. Somit dürften einige von ihnen heute ihre Waffen gegen ihr Heimatland richten.
Die Suche nach den verschleppten Kindern beschränkt sich seit Februar 2022 nach Aussage der Menschenrechtsaktivistin Vera Jastrebowa keineswegs nur auf Mädchen und Jungen aus Kinderheimen. Schon bald wurden auch Kinder aus intakten Familien, die der Krieg auseinandergerissen hatte, mitgenommen. Die verzweifelten Familien, die ihre Töchter und Söhne zurückhaben wollen, sind mit der Suche in dem riesigen Nachbarland vollkommen überfordert. Ukrainische Behörden und Hilfsorganisationen unterstützen sie, doch Erfolge können sie nur vereinzelt melden.
Die Menschenrechtlerin der Ostukrainischen Juristen-Gruppe Vera Jastrebowa und Pawel Lisjanski vom Institut für strategische Forschung und Sicherheit in Kiew sammeln seit Jahren Informationen über die Kinderverschleppungen und stellten bei Kriegsbeginn einen entscheidenden Unterschied fest. Vor der russischen Invasion hatten sie kaum Kontakt zu den Offiziellen in den sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Danach verbesserte sich paradoxerweise ihr Verhältnis zu den dortigen Politikern, Beamten der Polizei, Jugendämtern und Justizbehörden. Sie alle gaben jetzt bereitwillig Auskunft, denn sie alle einte der Frust. Sie fühlten sich überflüssig, beiseitegeschoben, seitdem die russischen Besatzer das Kommando in den Separatistengebieten übernommen hatten. Und so manchem ging inzwischen ein Licht auf, dass es Moskau vielleicht doch nicht so gut mit ihnen, den Kollaborateuren, meinte. Denn die erste russische Zwangsmobilmachung fand ausgerechnet in den sogenannten Volksrepubliken statt. Das Unvorstellbare wurde im großen Stil wahr: Moskau verpflichtet Ukrainer, gegen Ukrainer zu kämpfen.
Viele Männer im Donbass wurden direkt von ihren Arbeitsplätzen, beispielsweise aus Bergwerken, abgeholt und an die Front geschickt. Zurück blieben Familien ohne ihre Ernährer. Den Müttern mit zwei oder drei Kindern unterstellten die Jugendämter, allein nicht in der Lage zu sein, mehr als ein Kind versorgen zu können, und nahmen ihnen das zweite und dritte Kind weg. Neue Gesetze in den okkupierten Gebieten erlauben das. 38 000 Fälle von Sorgerechtsentzug zählten die beiden jungen Juristen im ersten Kriegsjahr. Sie sind geübt im Aufdecken von Menschenrechtsverletzungen in der Ostukraine, denn sie dokumentieren sie bereits seit 2014, noch während ihres Jurastudiums. »Für die neuen russischen Besatzer haben die Separatisten ausgedient, sie werden nicht mehr gebraucht«, sagt Pawel Lisjanski.
Der russische Staat bemüht sich, der Kinderverschleppung einen legalen Anstrich zu geben. Die Abgeordneten der Duma änderten, wie vom Kreml bestellt, zuerst die Adoptionsgesetze in der Russischen Föderation, dann in den sogenannten Volksrepubliken. Denn die ukrainischen Kinder sind für Russland in mehrfacher Hinsicht wertvoll. Zum einen geht es um die Akzeptanz des Krieges bei der russischen Bevölkerung, ist Vera Jastrebowa überzeugt: »Durch diese Vorgehensweise verbreitet sich die Botschaft, dass Russland im Krieg nichts verliert. Es bekommt nicht nur neue Gebiete hinzu, sondern auch schnell Ersatz für gefallene Wagner-Söldner oder Soldaten.« Einen anderen Grund sieht sie in Russlands demografischer Situation. Zwar machen Russen 80 Prozent der Bevölkerung aus, doch ihre Geburtenrate sinkt rapide, die ethnischer Minderheiten in der Russischen Föderation ist 50 Prozent höher. Mitgenommen würden blonde Kinder mit hellen Augen, erfuhren Vera Jastrebowa und Pawel Lisjanski von ihren Informanten. Ultranationalisten wie Ex-Kulturminister Wladimir Medinski störe es schon lange, dass die Zahl nicht slawisch aussehender Kinder in Russland seit 2015 immer mehr zunehme. Die genaue Summe der entführten Kinder können auch Vera Jastrebowa und Pawel Lisjanksij nicht angeben. Es seien sehr viel mehr, als die ukrainische Seite zugibt, denn sie fürchtet den Vorwurf der Eltern, die ukrainischen Kinder nicht ausreichend vor den Besatzern geschützt zu haben. »Unsere Recherche freut weder Russland noch die Ukraine.«
Betroffen sind auch Kinder, die zurückgelassen wurden, wenn ihre Eltern beim sogenannten Filtrationsprozess festgenommen wurden. Auf der Flucht aus dem Kriegsgebiet wurden Ukrainer an Straßensperren überprüft. Sie durften nur dann in die unbesetzten ukrainischen Gebiete weiterfahren, wenn die russischen Soldaten sie nicht für aktive Unterstützer der Regierung in Kiew hielten. Eltern, auf deren Handys proukrainische Slogans zu lesen waren oder die die falschen Tattoos trugen, wurden inhaftiert. Die zurückbleibenden Kinder wurden eingesammelt. Und es wurden auch Schüler verschleppt, die dem Unterricht fernblieben. Viele Eltern wollten nicht, dass ihre Söhne und Töchter nach russischem Lehrplan unterrichtet werden, wie das von der Besatzungsmacht vorgeschrieben wurde. Denn die neuen Geschichtslehrbücher stellten die demokratische Protestbewegung auf dem Maidan beispielsweise als »Neonazi-Staatsstreich« der Ukraine dar und den Krieg als notwendige militärischen Spezialoperation gegen die Faschisten in Kiew.
Obwohl in der Ostukraine hauptsächlich Russisch gesprochen wird, hat die ukrainische Regierung die Verbreitung der Landessprache forciert. Als die Moskau-treuen Separatisten im Mai 2014 die Macht übernahmen, gab es in Donezk 750 ukrainische Klassen, in denen die Mädchen und Jungen auf Ukrainisch unterrichtet wurden. Im Jahr 2016 schlossen die Kreml-treuen Erfüllungsgehilfen alle ukrainischen Klassen, weil es für sie angeblich nicht genügend Schüler gab. 2017 wurde die ukrainische Sprache als Pflichtfach gestrichen. 2020 verkündeten die sogenannten Volksrepubliken, dass Ukrainisch nicht mehr Staatssprache ist. Eltern, die ihre Kinder nicht in die russifizierten Schulen schickten, riskierten, dass ihnen das Sorgerecht mit der Begründung entzogen wurde, sie würden ihren Söhnen und Töchtern das Recht auf Bildung verwehren.
Für die besetzte Region Cherson wurde verfügt, dass alle nach dem 24. Februar 2022 geborenen Kinder automatisch russische Staatsbürger sind. Internationale Organisationen sehen darin einen groben Verstoß gegen das Völkerrecht. Am 27. Januar 2023 erklärte der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge Filippo Grandi: »Die Verleihung der russischen Staatsbürgerschaft an [ukrainische Kinder] oder deren Adoption widerspricht den Grundprinzipien des Schutzes von Kindern in Kriegssituationen.«
In Russland werden die eingesammelten ukrainischen Kinder in sogenannten Familienbildungszentren untergebracht, wo sie, bevor sie zur Adoption freigegeben werden, neue Dokumente und damit die russische Staatsbürgerschaft bekommen. Oft gibt man ihnen auch andere Namen, was die Chance, sie je wiederzufinden, extrem verringert. Die potentiellen russischen Väter und Mütter müssen spezielle Kurse absolvieren und systemtreu sein. So wie Marija Lwowa-Belowa, die russische Ombudsfrau für die Rechte von Kindern. Sie ist aus russischer Sicht über jeden Zweifel erhaben. Als Putin sie ein knappes Jahr später, am 16. Februar 2023, erneut im Kreml empfängt, spricht er von sich aus die Adoptionen von »unseren« Kindern aus dem Donbass an. Die fänden ja schon seit neun Jahren statt. Woraufhin Lwowa-Belowa bestätigt, die Zahl der Bewerber, die ein ukrainisches Kind adoptieren wollten, steige stetig. Die interessierten Eltern kämen aus vielen Regionen. Zudem hätte Ramsan Kadyrow, der Präsident von Tschetschenien, mit besonders schwierigen, bereits straffällig gewordenen Jugendlichen ein militärisch-patriotisches Training absolviert. Was der für seine Brutalität bekannte Kadyrow den ukrainischen Minderjährigen beibringt, erläutert sie nicht.
Doch es ist bekannt, dass die Kadyrowzy unter anderem in Mariupol gekämpft haben. In der von den russischen Einsatzkräften zerstörten Hafenstadt »fand« Lwowa-Belowa etwa 30 Kinder, die zunächst eine sehr negative Sicht auf Russland gehabt hätten. Als sie in die Moskauer Region gebracht wurden, äußerten sie sich auch ablehnend über Präsident Putin. Sie hätten die ukrainische Hymne gesungen und »Ruhm der Ukraine« gerufen, doch schon im September 2022 konnte die Kinder-Kommissarin Erfolge vermelden. Auf einer Sitzung der Bürgerkammer in Moskau berichtete sie, dass die Waisenkinder aus Mariupol in ihren neuen Familien »gelehrt wurden, Russland zu lieben«.
Marija Lwowa-Belowa ist eine Machtpolitikerin, die sich als Übermutter stilisiert. Im Föderationsrat repräsentierte sie ihre Region Pensa, die über 600 Kilometer von Moskau entfernt an der Wolga liegt. Doch dort, im Oberhaus des russischen Parlaments, war sie nur eine von 170 Regionalabgeordneten. Erst als der Präsident sie 2021 zur Kinderbeauftragten ernannte, wurde sie bekannt. Auf diese Aufgabe hatte sie sich offenkundig schon länger vorbereitet. Sie betreut 13 Kinder mit Behinderungen bzw. sorgt für deren Pflege, adoptierte mit ihrem Mann, einem Software-Ingenieur, der später Priester wurde, vier Kinder. Zusammen mit den fünf leiblichen hat das Paar neun Kinder. Im August 2022 verkündete sie die Adoption des damals 15-jährigen Filip aus Mariupol.
Seine Geschichte wurde im Zargrad TV dargestellt, allerdings in der russischen Version. Der Junge, der seine Mutter früh verloren hatte, aber von seinem Vater und dessen Frau versorgt wurde, versteckte sich während des russischen Beschusses der Stadt wie viele andere Einwohner in einem Keller. Als eines der rund 30 Kinder aus Mariupol wurde er nach Donezk und von dort nach Russland gebracht. Filip war also mitnichten ein Waisenkind. Die Kinderschutzbeauftragte rapportierte die »Fortschritte« des Teenagers. Ihm gefalle es nun in Russland. Schon bei ihrer ersten Begegnung mit Filip habe sie gewusst, dass er zu ihr gehöre. Seitdem postet sie regelmäßig Fotos mit ihm auf Social Media, auch wie er im September 2022 den russischen Pass entgegennimmt.
So arglos sich der Kreml-Chef und die Funktionärin geben, so wenig ändert das etwas an der Tatsache, dass sie gemeinsam den Weg frei gemacht haben für die massenhaften Deportationen von ukrainischen Kindern. Ein Vergehen, das der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag als Völkermord einstuft. Lwowa-Belowa machte gute Miene zu bösem Spiel: »Es ist schön zu wissen, dass unsere Arbeit für die Kinder unseres Landes von der internationalen Gemeinschaft wahrgenommen wird.« Chefankläger Karim A. A. Khan stellte am 17. März 2023 einen Haftbefehl gegen den Präsidenten der Russischen Föderation und dessen Ombudsfrau aus. Noch nie wurde das Staatsoberhaupt eines so großen Landes zur Fahndung ausgeschrieben. In Moskau ein Schock. Den sonst so lautstarken Kreml-Propagandisten verschlug es zunächst die Sprache. Doch dann feuerten sie umso härter zurück. Der Moderator des russischen Staatsfernsehens, Wladimir Solowjow, forderte einen »sofortigen Atomschlag« gegen jedes Land, das es wagen könnte, den russischen Staatschef zu verhaften.
Ex-Präsident Dmitri Medwedew drohte, das Gericht mit einer Hyperschallrakete anzugreifen. Sowohl Putin als auch seine Ombudsfrau sind fortan so lange gesuchte Personen, bis sie festgenommen und dem Gericht überstellt werden. An die russischen Eliten ist der internationale Haftbefehl ein Signal, dass Putin nicht mehr als legitimer Ansprechpartner betrachtet und er persönlich für den Krieg verantwortlich gemacht wird.
Schon in der Begründung des Fahndungsaufrufes heißt es, dass die Vorverfahrenskammer aufgrund der in unabhängigen Untersuchungen gesammelten und analysierten Beweise bestätigt habe, dass es hinreichende Gründe für die Annahme gebe, dass Präsident Putin und Frau Lwowa-Belowa für die rechtswidrige Deportation und Verbringung ukrainischer Kinder aus den besetzten Gebieten der Ukraine in die Russische Föderation strafrechtlich verantwortlich seien und damit gegen Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe a (vii) und Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe b (viii) des Römischen Statuts verstoßen hätten.
»Zu den […] festgestellten Vorfällen gehört die Deportation von mindestens Hunderten von Kindern, die aus Waisenhäusern und Kinderheimen entführt wurden. Viele dieser Kinder wurden […] inzwischen in der Russischen Föderation zur Adoption freigegeben. Das Gesetz wurde in der Russischen Föderation durch Präsidialdekrete von Präsident Putin geändert, um die Verleihung der russischen Staatsbürgerschaft zu beschleunigen und so die Adoption durch russische Familien zu erleichtern.« Diese Handlungen hätten Russlands Absicht offenbart, die Kinder dauerhaft aus ihrem eigenen Land zu entfernen. Kinder als Kriegsbeute – für den Obersten Staatsanwalt in Den Haag war damit eine rote Linie überschritten.
Schwarz auf weiß erfahren die Eltern, Verwandten, Freunde und Aktivisten, die diese Machenschaften dokumentiert haben, dass die internationale Gemeinschaft nicht nur Notiz von den mutmaßlichen Kriegsverbrechen nimmt, sondern gewillt ist, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Die ukrainischen Opfer bekommen damit sehr viel mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung als Menschen in vielen anderen Kriegen dieser Welt. Schon kurz nach Bekanntwerden der Verbrechen im Kiewer Vorort Butscha hatte Khan erklärt, dass in der Ukraine ein komplexes und breites Spektrum an mutmaßlichen internationalen Verbrechen geschehen sei und er nicht zögern werde, weitere Anträge auf Haftbefehle zu erlassen, wenn die Beweislage dies erfordere.
Die Ukraine hat das Römische Statut zwar selbst nicht ratifiziert, erkannte aber seit dem Krieg im Osten ihres Landes ab 2014 die Befugnisse der internationalen Richter an und erlaubt ihnen, bei Hinweisen auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen auf ihrem Staatsgebiet zu ermitteln.
Auch wenn die Aussichten gering sind, dass Putin und seine Kinderrechtsbeauftragte eines Tages tatsächlich vor dem Gericht in den Niederlanden Rede und Antwort stehen, kommt Den Haag schon jetzt das Verdienst zu, wichtige, ihnen zugeschriebene Verbrechen publik gemacht zu haben. Putin eilt künftig der Ruf des Parias voraus. Sein Bewegungsradius dürfte sich stark einschränken. Seine Isolation nimmt aber vermutlich auch auf andere Weise zu. Wer außer Politikern vom Schlage Xi Jinpings und Alexander Lukaschenkos reist jetzt noch nach Moskau? Können sich Kanzler Olaf Scholz und der französische Präsident Emmanuel Macron noch einmal an den sieben Meter langen Tisch im Kreml setzen, und sei es für Friedensverhandlungen? Wird sich der Mann, der pompöse Auftritte in goldenen Palästen zu brauchen scheint wie die Luft zum Atmen, bald einsam fühlen?
Der eine oder andere seiner Untergebenen schläft möglicherweise schlecht, denn dem Haftbefehl gegen den Chef könnten weitere folgen, zum Beispiel wegen der Angriffe auf die zivile Infrastruktur in der Ukraine. Auch das gilt als Kriegsverbrechen. Dass der Internationale Strafgerichtshof nicht mit den Kleinen anfängt und den Großen laufen lässt, erstaunt Juristen. Ebenso, dass die Beweise vor der Anklageerhebung vorgelegt wurden. Putin und Lwowa-Belowa wissen somit nicht nur, was genau ihnen zur Last gelegt wird, sondern wie groß ihre Chancen sind, die Kläger vom Gegenteil zu überzeugen.
Keineswegs alle Vertragsstaaten des Gerichtshofes dürften gewillt sein, Putin tatsächlich festzunehmen und nach Den Haag zu überstellen, sollte er einen Fuß auf ihren Boden setzen. Verpflichtet wären dazu alle, denn das Gericht verfügt nicht über eigene Polizeikräfte. Insgesamt fünf Präsidenten hat der Internationale Strafgerichtshof bislang zur Fahndung ausgerufen. Vor Putin waren das Laurent Gbagbo aus der Elfenbeinküste, Omar al-Baschir aus dem Sudan, Muammar Gaddafi aus Libyen und Slobodan Milošević aus Serbien. Putin ist der zweite amtierende Präsident, der sich dem Weltstrafgericht stellen soll, zuvor hat Den Haag einen solchen Haftbefehl 2008 gegen den ebenfalls noch regierenden al-Baschir erlassen, dem Völkermord vorgeworfen worden war. Trotzdem unternahm al-Bashir weiter Auslandsreisen, auch in Länder, die das Römische Statut ratifiziert hatten, wie Südafrika. In Johannesburg war die Justiz nicht schnell genug für seine Festnahme. Al-Baschir verließ ein Gipfeltreffen der Afrikanischen Union wenige Stunden, bevor ein südafrikanisches Gericht über seine Verhaftung entscheiden konnte. Obwohl al-Baschir 2019 durch einen Militärputsch gestürzt wurde und die neue Regierung ihn nach eigenem Bekunden an Den Haag ausliefern wollte, ist das bis heute nicht geschehen.
Nun wird es auch für Putin künftig zumindest schwerer sein, sich als unbescholtener Mann in anderen Ländern blicken zu lassen. Am BRICS-Gipfel in Südafrika 2023 nahm er nur virtuell teil.
Das Beispiel der ehemaligen Sowjetrepublik Armenien zeigt, dass sich Putin selbst in Moskaus Einflusssphäre nicht sicher fühlen kann. Das kleine Land hat kurz nach dem Haftbefehl gegen Putin das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofes ratifiziert. Gagik Melkonjan, ein Abgeordneter der Nationalversammlung und Mitglied der Regierungspartei, forderte Putin öffentlich auf, besser in seinem eigenen Land zu bleiben. Sollte er nach Armenien kommen, müsse er verhaftet werden, denn Armenien, sehe sich an die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs gebunden. Ein mutiger Schritt, denn die kleine Kaukasus-Republik bezieht ihre Energie zu 100 Prozent aus Russland und ist wirtschaftlich fast vollständig von Moskau abhängig. Für eine so eindeutige Haltung hat das große Deutschland länger gebraucht.
Die Ukrainer schmerzt es, wie Russland mit ihren Kindern umgeht. Andererseits gibt es in der ukrainischen Gesellschaft ein sicheres Gespür dafür, die junge Generation vor einer unfreiwilligen innerlichen Zerstörung oder Demoralisierung zu bewahren, damit nicht auch sie noch zu Putins Kriegsbeute wird. Viele Kinder haben zunächst nicht begriffen, warum russische Soldaten ihr Land überfallen haben. Sie und ihre Eltern hatten Russland nichts getan. Kaum jemand trägt derzeit in der Ukraine eine so große Verantwortung wie die Pädagogen, schließlich hängt es maßgeblich von ihnen ab, in welchem Geist die Schüler heranwachsen. Welche Art von Staatsbürger das Land später übernimmt.
Seit Putins aggressivem Vorgehen gegen ihr Land fragen sich die Menschen von Lemberg bis Mariupol nicht mehr, was ihre Nation von der russischen unterscheidet. Putins herbeigeredete Einheit von Russen und Kleinrussen, wie Ukrainer gern abschätzig genannt werden, hat es auch früher nie wirklich gegeben. Der Graben wird mit jedem neu eroberten Ort, mit jedem zusätzlich zerstörten Haus, jedem toten Zivilisten und jedem gefallenen Soldaten immer tiefer. Die Abscheu gegen alles Russische wächst, der Gedanke an eine gemeinsame Zukunft scheint absurd zu sein. Und dennoch gilt: Der große Nachbar wird nach dem Krieg nicht verschwinden. Sie werden mit ihm leben und auskommen müssen, sogar, wenn es ihr Land nicht mehr vollständig geben sollte. Eine Zukunft mit Russland empfinden sie als regelrechte Zumutung. Kaum jemand kann sich heute vorstellen, wie das funktionieren soll. Zu groß sind die Verluste und Verletzungen. Und doch wissen viele Ukrainer schon jetzt genau, dass allein Rache kein Weg sein kann, weil sie denjenigen, der hasst, zerstören kann. Diesen nachträglichen Sieg wollen die wenigsten Putin gönnen. Doch der Umgang mit dem großen Land, das sich als unberechenbar und mörderisch erwiesen hat, muss erlernt werden. Auch in den Schulen. Als stünden die nicht ohnehin bereits vor völlig neuen Anforderungen, als wäre der Kriegsalltag nicht schon beschwerlich genug. Geht es doch auch im Klassenraum oft um das pure Überleben. Deswegen wird immer wieder trainiert, es bei Luftalarm innerhalb von drei Minuten in den Keller zu schaffen. »Jeder Schüler, jede Klasse muss die Flucht durchs Treppenhaus immer wieder üben«, sagt Tetjana Schwez.
Ihr Lyzeum liegt im Stadtzentrum von Kiew, in der Nähe von Regierungsinstitutionen, über denen der Luftraum ganz besonders geschützt wird. Die Lehrerin, die ursprünglich aus Charkiw kommt, erlebt, dass die jüngeren Schulkinder auf Luftalarm oft ganz besonnen reagieren. Anders als die Älteren, die schon mal die Nerven verlieren. Alle im Lehrerkollegium wissen, dass sie ihren Schülern vor allem so viel Stabilität wie möglich vermitteln müssen. Wenn die Sirenen den Alarm auf dem Handy anzeigen, sie sie von draußen hören, eilen sie hinunter und setzen den Unterricht in den inzwischen gemütlich eingerichteten Kellerräumen fort. Wenn es keinen Strom gibt, kommen die Taschenlampen zum Einsatz, dann reden sie einfach oder spielen mit den Kindern. Die Jugendlichen legen ihre Telefone nur aus der Hand, wenn sie müssen, sie verfolgen die aktuellen Meldungen aus den Kampfgebieten, ist sich Tetjana Schwez sicher. »Vor allem mit den Ältesten sind wir in engem Austausch. Die Schüler wollen etwas zum Kampf gegen den Feind beitragen. Einmal haben sie sich entschlossen, Hackerangriffe auf russische Internetseiten zu starten.« Die Vize-Schuldirektorin ist schon 2014 aus der Ostukraine geflohen. Acht Jahre später holte der Krieg die Lehrerin in Kiew ein. Sie beobachtet, wie unterschiedlich Kinder auf die Anspannung reagieren. »Dem einen sieht man äußerlich gar nichts an, der nächste kriecht in eine Ecke und verschanzt sich dort, andere fühlen sich geborgener, wenn man sie in eine Decke einwickelt. Oder sie halten sich einfach bei den Händen.« Die Schulpsychologin ermuntert die Lehrerkollegen, die Kinder genau anzuschauen. Olga Perekopajko ist ein Glücksfall für die Schule, sowohl für die Mädchen und Jungen als auch für das Personal. Schon seit dem Beginn des Krieges in der Ostukraine betreut sie Familien, deren Väter, Söhne und auch Mütter oder Töchter dort kämpfen. 60 000 Frauen beteiligen sich militärisch an der Verteidigung ihres Landes.
Olga Perekopajko beobachtet, wie der Krieg für die Kinder zur Dauerbelastung wird. Sie vermissen ihre Eltern, die kämpfen müssen, und haben Angst, dass sie nicht mehr nach Hause zurückkommen. Zwei von drei Ukrainern haben einen Verwandten oder nahen Bekannten in Frontnähe. 94 Prozent der Ukrainer vertrauen ihrer Armee, 93 Prozent bringen den Soldaten hohe Anerkennung entgegen, sagen die Umfragen. Die Werte sind seit vielen Monaten unverändert.
Die Kinderhilfsorganisation der Vereinten Nationen, Unicef, schätzt, dass mindestens anderthalb Millionen ukrainische Kinder von Depressionen, Angstzuständen und anderen psychischen Problemen bedroht sind. Die Schulpsychologin versucht ihnen zu helfen, mit der dauernden Unsicherheit fertig zu werden und durchzuhalten. Für ihr späteres Leben als Erwachsene ist es wichtig, dass die Kinder psychisch gesund bleiben und Stress abbauen lernen.
Olga Perekopajko zeigt ihnen, dass Schreien hilft, oder mit den Füßen aufzustampfen – einfach richtig Krach zu machen. Auch im Keller, um den Luftalarm zu überstehen, der manchmal Stunden dauern kann. Brüllen befreit, auch gemeinsames Singen. Die Jungen und Mädchen haben einen ukrainischen Rap-Hit vom »Kalush-Orchestra« einstudiert, der beim Eurovision-Wettbewerb gewonnen hat. »Stefania« heißt das Siegerlied. Es zu singen, macht sie fröhlich. Der Zusammenhalt unter den Jugendlichen sei jetzt viel fester als vor dem Krieg, den allergrößten Wandel aber gebe es bei ihrer Leistungsbereitschaft, stellt die Schulpsychologin fest. »Die Kinder sagen: Wir wollen nicht so dumm sein wie die Russen. Deswegen wollen sie lernen. Das ist eine Motivation, die wir niemals zuvor auch nur annäherungsweise erreichen konnten.«
Aber Olga Perekopajko sieht auch, dass sich die Schüler wegen des Stresses, den der Krieg für sie bedeutet, sehr viel schlechter konzentrieren können, sie jede Menge vergessen. Was sie gestern noch gut konnten, sei heute einfach weg. In Kiew gibt es zwar keine Kampfhandlungen, aber wenn die Sirenen heulen, fürchteten sich die Kinder und Jugendlichen nicht nur vor den russischen Raketen, sondern entwickelten oft auch starke Hassgefühle. Das verunsichert die Schüler und auch ihre Eltern, die sich Sorgen machen, dass ihre Töchter oder Söhne verrohen. Das wollen sie keinesfalls, denn das hieße in ihren Augen, so zu werden wie die russischen Angreifer. Das Nationale Institut für Demografie hat ermittelt, dass sich 94 Prozent der Bevölkerung ihr Land als eine funktionierende Demokratie wünschen, 92 Prozent bestehen auf der Befreiung aller besetzten Gebiete und 82 Prozent lehnen einen Frieden ab, der nur unter Aufgabe des Donbass und der Krim zu haben wäre. 86 Prozent unterstützen die in der Verfassung festgeschriebene NATO-Mitgliedschaft als Ziel, mehr als je zuvor.
Die Gesellschaft ist zusammengerückt, das ist auch in dem Kiewer Lyzeum spürbar. Die Psychologin zeigt den Schülern und auch deren Eltern, wie sie mit negativen Gefühlen besser zurechtkommen. Sie ermuntert sie, den Hass und die Angst zuzulassen, denn das sei in ihrer Lage normal. Damit würden diese Gefühle legalisiert: Du empfindest Hass? Weil es einen Auslöser dafür gibt. Du möchtest, dass Moskau brennt? Du hast ein Recht auf diesen Wunsch. Aber diese Wut kostet dich sehr viel Energie. Lass uns überlegen, wie man die nutzen kann, nicht um jemandem zu schaden, sondern für das eigene Wohl. Dann schlägt sie etwa vor, den ukrainischen Soldaten an der Front zu schreiben oder einen Kuchenbasar zu veranstalten und mit dem Geld Spielzeug für ein Kind zu kaufen, das seinen Vater verloren hat.
Das Verhältnis der Schüler untereinander und auch zu ihren Pädagogen beschreiben diese als viel offener als vor dem Krieg. Olga Perekopajko scheut sich nicht, ihren Schülern zu erzählen, wie sie selbst mit ihrem eigenen Hass umgeht. Dass sie bei einem Marathon mitgelaufen ist, der zu Ehren der gefallenen Helden stattfand. »Du meldest dich für zweieinhalb, fünf oder zehn Kilometer an und bekommst den Namen und die Geschichte deines Helden. Für ihn und vor allem für seine Familie rennst du.« Damit der Schulalltag im Krieg nicht nur aus Sorgen und Angst besteht, organisiert die Schulleitung immer wieder kleine Feste. Die Schüler im Ausland bekommen zusätzlich samstags und sonntags Unterricht, damit sie den Anschluss an den heimischen Lehrplan nicht verlieren.
Für die Pädagogen bedeutet das eine enorme Belastung, aber niemand klagt. Jeder an seinem Platz ist aufgefordert, für den Fortbestand der Ukraine zu tun, was er oder sie kann, keiner beschwert sich. Denn alle kennen die Antwort auf die Frage: Was würden unsere Leute an der Front dazu sagen? Entsprechend selten wenden sich die Lehrerinnen an die Schulpsychologin. Die erkennt dennoch, wem es zu sehr zu schaffen macht, sich im Krieg immer zuerst um die Kinder kümmern zu müssen. Auch sie selbst ist für die Schüler immer erreichbar, selbst wenn sie sich noch spät abends bei Olga Perekopajko melden, wimmelt sie keinen ab. Dass ihre Kraft dafür reicht, hat sie nicht zuletzt einem Psychologen-Kollegen aus Armenien zu verdanken, der sie per Internet in einer Supervision aufbaut und stützt. Vor allem, wenn sich die schlechten Nachrichten häufen.
Wie negativ ihre Schüler auf das Verhältnis zu Russland blicken, lässt die passionierte Lehrerin Tetjana Schwez mitunter erschaudern: »Ein Jugendlicher glaubt, dass es unser Schicksal ist, mit einem solchen Nachbarn zu leben, der uns niemals in Ruhe lassen wird, mit dem wir immer kämpfen werden. Selbst wenn dieser Krieg aufhört. Er geht davon aus, dass er immer auf der Hut sein muss, weil es jederzeit wieder Krieg geben kann.« Die stellvertretende Schulleiterin belastet, dass ihr Freundeskreis deutlich geschrumpft ist. Nur eine einzige russische Freundin hält noch den Kontakt zu ihr. Inzwischen hat sie die, die schweigen, aus ihrer Adressliste gelöscht.