Was für Russland das Beste wäre, nämlich die Angriffe einzustellen und seine Truppen aus der Ukraine abzuziehen, wäre nicht unbedingt auch das Beste für Oberbefehlshaber Putin. Denn Autokraten, die sich im Krieg befinden, verlieren höchst selten ihre Macht. Das haben die US-amerikanischen Politikwissenschaftlerinnen Erica Frantz und Andrea Kendall-Taylor festgestellt. Sie analysierten rund 300 autoritäre Regime seit 1946 und interessierten sich vor allem für die Frage, was die Autokraten bzw. Diktatoren zu Fall brachte. Die Antwort ist ernüchternd.
Seit dem Zweiten Weltkrieg wurde in etwa der Hälfte der Fälle, in denen ein Staatsoberhaupt gestürzt wurde, einfach ein Nachfolger ernannt und das autoritäre System bestand fort. In der anderen Hälfte der Fälle, in denen der Führer fiel, ging das Regime mit ihm unter. Wenn Diktaturen auf eine Person zugeschnitten sind, ist deren Angst, ins Exil geschickt, ins Gefängnis geworfen oder getötet zu werden, berechtigt, denn das passiert tatsächlich oft. Deswegen tun sie alles, um an der Macht zu bleiben. Wenn Autokraten und ihre Regime die Macht durch eine Revolte, eine ausländische Invasion oder einen Bürgerkrieg verlieren, ist das wiederum ein schlechter Start für eine anschließende demokratische Entwicklung, es ist dann unwahrscheinlicher, dass es zu einer Demokratie kommt, fanden die beiden Forscherinnen heraus.
Wenn Autokraten, so wie Putin, über 20 Jahre lang am Ruder sind, treten sie meist erst mit ihrem Tod ab. Und auch dann brechen nicht unbedingt andere Zeiten an. Die schlechte Nachricht lautet vielmehr: Noch nicht einmal der Tod im Amt muss eine Veränderung herbeiführen, weil in etwa 80 Prozent der Fälle das Regime überlebt. Denn die Eliten scharen sich viel eher sofort um denjenigen, der noch im Machtvakuum die Führung an sich reißt, als dass sie abwarten und das Risiko eingehen, unter neuen Bedingungen keinen Job mehr zu haben.
Nach Stalins Tod am 5. März 1953 richteten sich alle Blicke auf seine vier engsten Vertrauten Beria, Chruschtschow, Malenkow und Bulganin. Lawrenti Beria gehörte zu den Hauptverantwortlichen für den Terror während der stalinistischen Säuberungen. Er sicherte sich sofort den Posten des Ersten Stellvertretenden Ministerpräsidenten und den des Innenministers. Georgi Malenkow wurde Regierungschef. Beria, der auch das sowjetische Atombombenprogramm vorangetrieben hatte, verschmolz sein Innenministerium mit dem Geheimdienst zu einem Superministerium, was seinen Herausforderern dann doch zu viel Macht in einer Hand war. Sie befürchteten, dass er die Führung beanspruchen könnte, um die Nachfolge des toten Diktators anzutreten.
Nikita Chruschtschow erkannte die Gefahr und ließ Beria, die Nummer zwei nach Malenkow, am 26. Juni 1953 auf einer Sitzung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei verhaften. Die Gründe hatten mit dem aktuellen Machtkampf scheinbar nichts zu tun. Beria wurde wegen Spionage für Großbritannien in den 1920er Jahren und wegen angeblicher Versuche zur Beseitigung der Sowjetmacht zum Tode verurteilt und erschossen. Nach seiner erfolgreichen Intrige gegen Beria nahm sich Chruschtschow Malenkow vor und erreichte, dass dieser sich künftig mit ihm die Macht teilen musste. Die Funktion als Erster Sekretär des Zentralkomitees ging an Chruschtschow, weil sich die Partei für die Zeit nach Stalin auf eine »kollektive Führung« verständigt hatte.
Mit Teamgeist hatte Chruschtschow allerdings nichts am Hut. Drei Jahre später hielt er, der selbst tief in Stalins Regime verstrickt war, seine sogenannte Geheimrede »Über den Personenkult«. Eine Abrechnung mit Stalin und die mit ihm verbundenen Verbrechen. In der Sowjetunion machte sich allgemeine Erleichterung breit, denn damit brach die Tauwetter-Periode an, in der die meisten Gulag-Häftlinge entlassen und viele Opfer des Regimes rehabilitiert wurden. 1958 vereinte Chruschtschow schließlich alle Macht auf sich. Die kollektive Führung war vergessen. Das Tauwetter bald ebenso, denn die Daumenschrauben in der Innen- und Außenpolitik wurden wieder angezogen. Kommunistische Diktatoren herrschten noch fast 40 Jahre, wenn auch nicht mit der gleichen Härte wie Stalin. Der letzte, Michail Gorbatschow, war kein Autokrat, er ließ den Fall des Eisernen Vorhangs zu, der auch das Ende der Sowjetunion einläutete.
Wie nach Stalins Tod könnte es Russland auch nach Putins Amtsende ergehen. Der ukrainische Historiker Jaroslaw Hryzak, Professor an der Ukrainischen Katholischen Universität in Kiew, rechnet nicht mit einem schnellen Frieden zwischen Russland und der Ukraine, selbst wenn der russische Präsident plötzlich sterben würde. Denn hinter Putin stehe ein »kollektiver Putin«. Entscheidend sei nicht, dass der Diktator abgesetzt, verhaftet, zum Internationalen Strafgerichtshof nach Den Haag überstellt werde oder durch einen Putsch ums Leben komme, entscheidend sei, dass selbst nach einem solchen Szenario in 20 bis 30 Jahren ein »neuer Putin«, also ein neuer Diktator, in Russland auftauchen und alles wieder von vorne beginnen könne.
Unter den besonderen Voraussetzungen der russischen Führung und der russischen Gesellschaft stellt es daher eine fast unlösbare Aufgabe dar, Russland in einen demokratischen Staat zu verwandeln. So wie es mit Deutschland nach der Nazi-Diktatur oder mit Japan nach seiner Niederlage im Zweiten Weltkrieg geschah. Weil aber vom Charakter des russischen Staates die Sicherheit der Ukraine abhängt, verlangt Hryzak, seinem Land bei der Gestaltung der russischen Nachkriegsordnung ein Mitspracherecht einzuräumen. Denn niemand wolle ein so aggressives Land als Nachbarn haben, in dem regelmäßig Diktatoren wie Stalin oder Putin an die Macht gelangen, wo willkürliche Verhaftungen an der Tagesordnung sind, Menschen schuldlos in Straflagern verschwinden, politische Gegner vergiftet werden und – ganz wichtig – andere Länder jederzeit mit einem Überfall rechnen müssen. Für den Historiker spielt es keine Rolle, ob es sich um einen Zaren, Generalsekretär oder einen russischen Präsidenten handelt. Entscheidend sei, dieses politische System zu brechen, in dem der Herrscher an der Spitze zugleich der Besitzer dieses Landes ist. Er regiere es nicht nur, sondern verfüge darüber hinaus auch über das gesamte Eigentum Russlands, einschließlich des Lebens seiner Bürger, ohne jegliche Kontrollinstanz. Das Aufbrechen dieses politischen Monolithen, insbesondere die Entsakralisierung der Macht, die Trennung von Kirche und Staat, definiert Jaroslaw Hryzak als Agenda. Die auch einschließt, dass kein Offizier des russischen Geheimdienstes in Zukunft ein öffentliches Amt in Russland bekleiden dürfe.
Die beiden amerikanischen Politologinnen Erica Frantz und Andrea Kendall-Taylor haben sich in ihrer Studie explizit die Frage gestellt, was passiert, wenn Diktatoren in den Krieg ziehen. Sichert ein Krieg ihre Macht oder kann er für sie gefährlich werden, geht der Diktator also das Risiko ein, dass er im Krieg seines Amtes enthoben oder weggeputscht wird? Entscheidend ist das erste Kriegsjahr, so die Wissenschaftlerinnen. Denn wenn der Führer gestürzt werden soll, muss das sofort zu Beginn geschehen. Saddam Hussein ist ein Beispiel dafür: Er musste im April 2003 kurz nach Beginn des Irakkrieges untertauchen und wurde im Dezember von US-Truppen festgenommen. Zieht sich ein Krieg jedoch länger als ein Jahr hin, hilft er dem amtierenden Diktator und es sinkt die Chance, den Gewaltherrscher loszuwerden.
Frantz und Kendall-Taylor, die zu Forschungsaufenthalten in Latein- und Mittelamerika sowie in Afrika, Asien und Russland unterwegs waren, fanden weiterhin heraus, dass Diktatoren jeglicher Couleur häufig dann einen Krieg beginnen, wenn es im eigenen Land schlecht läuft. Krieg ist sogar ein sehr erfolgreiches Mittel zur Sicherung ihrer Herrschaft. »Autokraten, die sich im Krieg befinden, verlieren selten ihre Macht, denn dann gibt es für die Bürger, das Militär und die Sicherheitskräfte eines Landes keine Möglichkeit mehr, ihre Führung in Frage zu stellen.«
Ein Krieg verschafft einem autokratischen Herrscher auch dadurch Macht, dass das Kriegsrecht gilt, selbst wenn es nicht ausdrücklich ausgerufen wurde. Auch wenn die Kreml-Propaganda nicht von Krieg, sondern von einer militärischen Spezialoperation spricht, herrscht in Russland de facto Kriegsrecht, das Putins Macht verstärkt. Anders sieht es aus, wenn Diktatoren einen Krieg verlieren. Dann droht ihnen der Rauswurf. Sollte dieses Schicksal Putin ereilen, könnte es für ihn tödlich sein. Die Wahrscheinlichkeit ist der Studie von Frantz und Kendall-Taylor zufolge sehr hoch. »Führer personalistischer Diktaturen, in denen die Macht stark in den Händen einer einzelnen Person konzentriert ist, werden am ehesten gewaltsam gestürzt.« Deswegen zögern sie ein Kriegsende so lange wie möglich hinaus. Auch weil Widersacher, die zu Kriegsbeginn aus dem Land geflohen sind, wie die Hunderttausenden von Russen, heimkehren könnten. Ihr Exodus war für das Regime ein Segen, denn sie stellten die größte Herausforderung für Putin dar. Sollten sie zurückkehren, könnte eine Konfrontation beginnen, die Putin wohl lieber vermeiden würde.
Frantz und Kendall-Taylor kommen zu dem Schluss: »Der vielversprechendste Weg zur Beendigung des Krieges [in der Ukraine] ist eine stärkere Unterstützung Kiews durch die USA und Europa. Sie könnte der Ukraine zu einem entscheidenden militärischen Sieg verhelfen und Putins persönliche Ambitionen irrelevant machen. Erst wenn Putin befürchten muss, den Krieg zu verlieren, wird er aufhören zu kämpfen.« Dass Putin sich anfangs ganz allein für die Invasion aussprach, könnte ihn bei einer Niederlage besonders anfällig für einen Sturz machen.
Die amerikanischen Politologinnen haben ermittelt, dass etwa die Hälfte aller Führer, die einen Krieg verlieren, auch ihre Macht einbüßen. Aber wann hätte Putin verloren? Wann könnte überhaupt von einer Niederlage gesprochen werden? Putin hat sich Deutungsmöglichkeiten offengelassen und sich somit abgesichert. Er vermied es, seine Ziele in der Ukraine klar zu formulieren, was ihm helfen könnte, dem heimischen Publikum einen Status quo als Sieg zu verkaufen. Nur er entscheidet, wann der Krieg seinen Zweck erfüllt hat. Es ist Auslegungssache. Ein Unentschieden könnte auch genügen. Von der »Entnazifizierung«, »Demilitarisierung« oder von der »einen, russischen und ukrainischen Nation« spricht er nur noch ab und zu. So wie die Notwendigkeit eines Krieges auf Lügen aufgebaut war, könnte auch die Ausrufung des Sieges eine Lüge sein.
Am 17. Juni 2023, nach 16 Monaten Raketen- und Drohnenangriffen, Artilleriefeuer und Häuserkämpfen, vermeldete Putins Sprecher Dmitri Peskow, dass das Ziel der Entwaffnung der Ukraine bereits erreicht worden sei. Jewgeni Prigoschin, Chef der Wagner-Truppe und lange Jahre ein enger Verbündeter des Präsidenten, strafte Peskows Aussagen von der erreichten Entmilitarisierung öffentlich Lügen. Denn die habe nie zuvor über so viele und so moderne Waffen verfügt wie jetzt während des Krieges. Dank der Lieferungen aus dem Westen. Doch wer wird die Siegespropaganda in Zukunft entlarven? Eines scheint zumindest sicher: Lange leben würde auch derjenige danach wahrscheinlich nicht mehr.
Die meisten Kriege dauern nur ein paar Monate. Wird länger als ein Jahr gekämpft, ziehen sie sich dann oft über ein Jahrzehnt hin. Auch das hat die Untersuchung von Frantz und Kendall-Taylor gezeigt. Putins Gründe für die Invasion sind ideologischer Natur, was das Risiko für einen langwierigen Konflikt erhöht. Als derjenige, der das größte Interesse daran hat, das Ende hinauszuzögern, sucht er immer neue Vorwände. Zum Beispiel macht er sich die NATO-Regel zunutze, nach der ein im Krieg oder Grenzkonflikt befindliches Land nicht als Mitglied aufgenommen werden darf. Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, wann Russland versuchen würde, die NATO in diesem Punkt mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.
Ex-Präsident Dmitri Medwedew, der in seinen Äußerungen immer öfter den unzivilisierten Stil von Warlord Prigoschin kopiert und zu dessen Lebzeiten geradezu mit ihm zu wetteifern schien, wer den unflätigsten Spruch ablässt, gab vor dem NATO-Gipfel in Vilnius im Juli 2023 ganz unverblümt zu: »Wir haben nie versucht, die NATO einzudämmen. Wir haben immer nur um eines gebeten, ehemalige Teile unseres Landes nicht in die NATO einzuladen. Unser Ziel ist daher einfach: die Bedrohung durch die Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO zu beseitigen. Und wir werden es erreichen. Heute haben sogar die gesteinigten Führer des Kiewer Regimes zugegeben, dass die Bandera-Ukraine, oder wie auch immer man ihre verrottenden Überreste jetzt nennt, im Konfliktzustand nicht in die Allianz aufgenommen werden wird. Daraus ergibt sich jedoch eine sehr einfache und traurige Schlussfolgerung: Wenn die Konfliktländer nicht in die NATO aufgenommen werden, bedeutet dies, dass der Konflikt von Dauer sein wird, denn es geht um die Existenz Russlands.«
Wenn Medwedew in der Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta schreibt, dass Russland nie versucht habe, die NATO einzudämmen, unterschlägt er Putins Forderung von 2021, die Allianz möge zu ihrer Größe von 1997 zurückkehren, was heißen würde, die Osterweiterung von 1999 bis 2020 rückgängig zu machen. Da laut der Charta von Paris jedes Land sein Bündnis frei wählen darf, ging die NATO nicht darauf ein.
Ein langer Krieg bringt nicht nur mehr ukrainische Opfer und Zerstörungen, sondern verlangt auch vom Westen deutlich mehr Ausdauer, der Ukraine zu helfen. Hört der Krieg nicht auf, kann Russland noch mehr Gebiete besetzen und kontrollieren. Deswegen lautet die Schlussfolgerung, dass der Krieg möglichst kurzgehalten werden muss. Die Demilitarisierung der Krim durch die Ukraine könnte dafür von entscheidender Bedeutung sein. Wenn Kiew die Sicherheit auf der Krim mit nachhaltigen Angriffen auf Flotten- und Luftwaffenstützpunkte erschüttert und die Menschen von der annektierten Halbinsel fliehen, droht Putin eine Niederlage. Könnte er die eroberten Gebiete nicht mehr halten und verlöre er mit der Krim einen wichtigen Ausgangspunkt für Angriffe auf die übrige Ukraine, müsste er wohl ein Ende aushandeln, das weit hinter seinen Kriegszielen zurückbleibt.
Seit der russischen Annexion 2014 ist die Halbinsel, die einst lediglich die russische Schwarzmeerflotte in Sewastopol beherbergte, von Russland zu einem Militärstützpunkt aufgerüstet worden. Satellitenaufnahmen zeigen, dass es inzwischen 232 Standorte von Militäreinheiten verschiedener Teilstreitkräfte, Radar- und Luftabwehranlagen, Flugplätze und Treibstoffdepots gibt. In mehr als 60 Orten auf der Krim ist es seit Beginn des Krieges zu Explosionen gekommen, die mutmaßlich auf ukrainische Angriffe zurückgehen. Die Ukraine hat das erklärte Ziel, alle besetzten Gebiete, einschließlich der Krim, zurückzuerobern, auch mit militärischen Mitteln.
Das ukrainische Kompromissangebot vom März 2022 dürfte jedenfalls obsolet sein. Kurz nach dem Überfall auf sein Land schlug Präsident Selenskyj vor, über einen Neutralitätsstatus der Ukraine zu verhandeln und von der NATO-Mitgliedschaft abzurücken, wenn die Ukraine im Gegenzug umfängliche Sicherheitsgarantien von einer Reihe von Ländern einschließlich der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates bekäme. Auch über den Status der Krim hätte Kiew durchaus später verhandelt. Nach den Kriegsverbrechen in Butscha, Irpin, Mariupol und anderen Orten ist auf der ukrainischen Seite derzeit keine Bereitschaft mehr zum Einlenken zu erkennen.
Inzwischen ist die NATO-Mitgliedschaft für die Ukraine essentiell, denn sie kann nicht davon ausgehen, dass Moskau seinen Expansionskrieg je beendet. Im Gegenteil. Neben der Krim und Sewastopol, den sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk hat sich Russland noch die Gebiete Cherson und Saporischja einverleibt. Letztere waren noch längst nicht vollständig erobert, da fanden schon Wahlen statt, die einen Anschein von Normalität vermitteln sollten, tatsächlich aber Urnengänge im Wortsinne waren: Wahlen unter Gewehrsalven. Der Gang in improvisierte Wahllokale war lebensgefährlich und verfassungswidrig. Doch nach dem Verwaltungsakt der Gebietserweiterung der Russischen Föderation haben die sogenannten neuen Gebiete Verfassungsrang, müssen also vollständig unter Moskaus Kontrolle gebracht werden. Mit einem Ende der russischen Eroberungszüge ist auch deshalb vorerst nicht zu rechnen. Zudem baut der Kreml mit der Stationierung von Atomwaffen und russischen Einheiten in Belarus das Vasallenland immer weiter zu seinem Vorposten direkt an der EU-Grenze aus. Eine dazu dauerhafte russische Militärpräsenz in der Ukraine würde Europas Sicherheit insgesamt deutlich verschlechtern. Es ist deshalb im ureigenen Interesse der NATO-Mitglieder, mit der Aufnahme der Ukraine in das Verteidigungsbündnis ein deutliches Zeichen in Richtung Moskau zu senden. Kiew hat im September 2022 ein beschleunigtes Aufnahmeverfahren beantragt, das das Reglement eigentlich gar nicht vorsieht.
Die Sicherheitsexpertinnen Claudia Major und Margarete Klein greifen in ihrem Strategievorschlag »Dauerhafte Sicherheit für die Ukraine« auf ein historisches Vorbild zurück. Da die NATO-Regel, kein Land im Krieg aufzunehmen, mehr und mehr zur Fußangel wird, müsste man sie freier auslegen. Sie erinnern an eine erfolgreiche Vorgehensweise 1955, als Westdeutschland aufgenommen wurde – ohne die DDR, die als sowjetischer Satellitenstaat mit sowjetischen Truppen auf ihrem Territorium fest in den Ostblock und den militärischen Warschauer Pakt eingebunden war. Analog könnten die nicht besetzten Gebiete der freien Ukraine unter den Schutz der NATO gestellt werden. Die okkupierten Gebiete dürften keinesfalls als russisches Territorium anerkannt werden. Die Ukraine ihrerseits wäre verpflichtet, militärische Aktionen für die Befreiung nur in Absprache mit der Allianz durchzuführen. Wären alle Gebiete schließlich zurückerobert, könnte das gesamte Land NATO-Mitglied werden.
Einwände gegen diese Vorgehensweise lassen sich viele finden. Wo soll die Grenze verlaufen? Die Front, die sich mal in die eine, mal in die andere Richtung verschiebt, kann es nicht sein. Wird eine graue Zone definiert, mit neutralen Flächen entlang der Front? Können Länder wie die Türkei oder Ungarn von der Idee überzeugt werden? Und wie holt man die ins Boot, die sogar gegen Sicherheitsgarantien für die Ukraine sind? Wären westliche Truppen als Garantiemacht in der Ukraine ein Kompromiss, wie sie der Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, ins Gespräch brachte?
Die NATO jedenfalls würde durch den ukrainischen Beitritt gestärkt werden, denn auch ohne Mitgliedschaft werden die Kiewer Streitkräfte schon jetzt immer enger an die NATO herangeführt. Bei der militärischen Zusammenarbeit, Ausbildung, Ausrüstung und den Waffensystemen nähert sich die ukrainische Armee dem Stand des Bündnisses an, was die viel wichtigere Voraussetzung für eine volle Mitgliedschaft ist. Außerhalb der NATO müsste sich die Armeeführung nicht zwingend mit den Partnern absprechen, was die Möglichkeit von riskanten Alleingängen in sich birgt. Das politische Signal, dass die NATO die Ukraine langfristig durchaus in ihrem Kreis haben möchte, wurde durch den neuen NATO-Ukraine-Rat gesetzt. Der trat beim NATO-Treffen im litauischen Vilnius im Juli 2023, wo er ins Leben gerufen wurde, zum ersten Mal zusammen. Streit in der NATO über die ukrainische Mitgliedschaft kann in Kriegszeiten niemand gebrauchen. Viel dringender gilt es zu verhindern, dass Russland in ein weiteres Nachbarland einmarschiert.
Die letzte Entscheidung, ob Diktatoren einen Krieg beginnen bzw. wann sie ihn beenden, fällt immer mit Blick auf die innenpolitische Lage. Putins Image ist durch die militärischen Rückschläge und die Prigoschin-Revolte beschädigt. Die beiden US-Politologinnen Frantz und Kendall-Taylor fanden heraus, dass seit 1946 nur sieben Prozent der autoritär regierenden Persönlichkeiten während eines Krieges, den sie begonnen hatten, abgesetzt wurden. Vielmehr darf Putin damit rechnen, dass der Krieg ihn schützt. Zum Beispiel vor den Eliten. Die wurden, wenn sie das Land nicht verließen, während des Krieges mundtot gemacht. Hohen Beamten ist sogar untersagt, außer Landes zu reisen. Die Kapazitäten der russischen Armee und der Nationalgarde sind durch den Krieg gebunden. Ein Coup des Militärs ist deswegen eher unwahrscheinlich. Überdies sind viele höhere und mittlere Offiziere gefallen. Das schränkt die Handlungsfähigkeit der Armee ein. Die russischen Sicherheitsdienste dagegen profitieren vom Krieg. Putin verlässt sich auf sie, sie sind Teil seines Repressionsapparates. »Diktatoren, die sich die Loyalität bewaffneter Akteure bewahren, können widrigen Umständen bemerkenswert trotzen«, heißt es in der Studie der US-Amerikanerinnen. Auch wirtschaftliche Not allein bewirke nur selten die Destabilisierung eines Autokraten. Zudem würden Autokratien, die auf eine Person zugeschnitten sind, unbeeindruckt auf viele Kriegstote reagieren, solange die politisch wichtigsten Gruppen nicht betroffen sind. Das ist mit ein Grund dafür, weswegen das Regime die Soldaten in den ärmsten und entlegensten Regionen bzw. in Gefängnissen rekrutieren lässt, nicht aber in den europäischen Metropolen des Landes.
Und dennoch fühlt sich der Präsident seines Lebens offenbar nicht mehr sicher. Wenn er reist, was inzwischen fast so selten wie bei Kim Jong-un geschieht, benutzt er einen Spezialzug. Genau wie der nordkoreanische Diktator und schon dessen Vater. Als Putin im zerstörten und besetzten Mariupol sowie in der Teilrepublik Dagestan auftauchte, die besonders viele Männer an die Front schicken musste, zweifelte so mancher, ob er gerade dem echten Putin begegnet war. Wurde nicht doch ein Double vorgeschickt?