Der russischen Zivilgesellschaft lag und liegt ihr Land am Herzen. Auf vielfältige Weise hat sie versucht, die Missstände zu erkennen und zu beseitigen, wobei ihr immer mehr Steine in den Weg gelegt wurden. Nun erlebt sie seit Jahren, wie der Staat unter Putin gegen die eigenen Bürger kämpft, sie ihrer Rechte beraubt. Putins Plan, den Widerstand in der Bevölkerung zu brechen, ist fast vollständig aufgegangen. Die starken kritischen Köpfe haben Russland verlassen. Das ist ganz im Sinne des Kremls, denn er kann eine große Anzahl politischer Gefangener nicht gebrauchen, nach denen bei jeder Gelegenheit gefragt würde, wie das bei Alexej Nawalny der Fall ist. Es ist einfacher, wenn alle fort sind. Die meisten von ihnen beobachten von Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Litauen, Lettland, Estland, Polen, Tschechien, Georgien oder den USA aus, wie sich der Krieg in der Ukraine entwickelt.
Anfangs atmeten sie kurz auf, als sie sahen, dass Russland ein schneller Sieg verwehrt blieb. Seither warten sie darauf, wann der Stellungskrieg in seine entscheidende Phase eintritt, und hoffen, dass der Westen die Ukraine entschlossener unterstützt, um die russische Armee schneller zu einem Abzug zu bewegen. Für den Fall, dass der Krieg andauert, rechnet der Soziologe Lew Gudkow mit fünf bis sieben Jahren des Niedergangs in Russland. Sollte Putin in der Ukraine verlieren und dadurch sein Amt einbüßen, würde sich für die Opposition ein Zeitfenster für Reformen öffnen. Vorstellungen, welcher Art der Umbau sein müsste, haben einige prominente Oppositionspolitiker durchaus. Sie reichen von der Föderalisierung Russlands über eine parlamentarische Republik, mit weit größeren Befugnissen für die Duma und sehr viel kleineren Vollmachten für den Präsidenten, bis hin zu einer Neugestaltung der russischen Wirtschaft.
Michail Chodorkowski, in London lebender Ex-Ölmagnat, plädiert für eine Re-Privatisierung der wichtigsten Unternehmen, die sich momentan in den Händen von rund 100 Familien befänden. Als ehemaliger Oligarch spricht er heute offen und selbstkritisch über die ungerechte Aneignung der sowjetischen Betriebe durch einige wenige Personen, die, wie er, schneller als andere die Zeichen der Zeit verstanden und für sich auszunutzen gewusst hätten. Dass seine Lehre daraus nicht Verstaatlichung lautet, vor allem jener Firmen, die Bodenschätze und fossile Energieträger fördern und verarbeiten, hat einen Grund. Er befürchtet, dass verstaatlichte Unternehmen dann von Beamten verwaltet werden würden, die sie sich erneut als Privatbesitz aneignen könnten.
Chodorkowski, der 2001 zusammen mit dem ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger die Bildungsorganisation Open Russia Foundation gründete, hat nach dem 24. Februar 2022 ein »Antikriegskomitee« ins Leben gerufen. Der ehemalige Schachweltmeister und Oppositionspolitiker Garri Kasparow wiederum schuf das Forum Freies Russland. In der Free Russia Foundation wiederum engagiert sich die Ehefrau des zu 25 Jahren Haft verurteilten Journalisten Wladimir Kara-Murza. Außerdem gibt es die Bewegung »Für ein freies Russland« des ehemaligen Duma-Abgeordneten Gennadi Gudkow. Diese bei Weitem nicht vollständige Aufzählung zeigt, dass es allerhand zu Widerstand bereite Organisationen gibt, die noch dazu von ambitionierten Persönlichkeiten geführt werden, aber keine großen Gruppen hinter sich versammeln können. Das größte Manko der liberalen Opposition besteht jedoch darin, dass sie nicht mit einer Stimme spricht. Kasparow und Chodorkowski regten deshalb an, in einem »Russischen Aktionskomitee« die Kräfte zu bündeln, doch es will nicht recht gelingen, weil Gennadi Gudkow in Frankreich mit dem »Russischen Demokratischen Club« eine ähnliche Idee hatte. »Es gibt zwischen uns fast keine politischen Differenzen«, versucht der Ex-Parlamentarier Gudkow zu beruhigen. Warum sie sich trotzdem nicht auf eine gemeinsame Führungsfigur verständigen können oder wollen, erklärt er nicht. Nur so viel: »Das politische Exil ist eine Herausforderung.« Es gebe viele Selbstmorde, zerstörte Familien, Tendenzen zu Alkoholismus und Drogenkonsum. Der Unterschied zur belarussischen Opposition mit Swetlana Tichanowskaja als erklärter Siegerin der Präsidentschaftswahl 2020 an ihrer Spitze könnte nicht größer sein.
Jenseits von Appellen hört man von den russischen Politikern im Ausland kaum konkrete Forderungen wie etwa die Freilassung politischer Gefangener. Auch der Kampf gegen die russische Propaganda ist ausbaufähig. Russinnen und Russen in der Heimat werden kaum erreicht, weil sich niemand explizit an sie wendet. Die Oppositionellen in der Diaspora haben darüber hinaus offenbar auch keinen Plan, wie die Hunderttausenden Russen, die vor der Einberufung in die Armee geflohen sind, einzubeziehen wären.
Die Zeit des Exils ist der klassische Moment für die Arbeit an einem ausformulierten Regierungsprogramm und die Verständigung auf eine Exilregierung, die signalisiert, im Ernstfall bereitzustehen. Stattdessen vernimmt man vor allem eine große Kakophonie. Viele präsentieren eigene Vorstellungen, die kaum abgestimmt oder gar gemeinsam beschlossen wurden, aber umso mehr die geistigen Urheber in den Mittelpunkt stellen. Kaum auszumachen ist, an welche gesellschaftlichen Gruppen sich die Oppositionellen wenden, wen sie mit ihren Regierungsideen begeistern wollen. Es ist viel von den Absendern die Rede, aber wenig von den Adressaten, bemängelt der Soziologe Lew Gudkow. Mit den Umfrageergebnissen seines unabhängigen Lewada-Zentrums handelt er sich immer wieder Ärger ein. Denn sie unterscheiden sich in Bezug auf die Zustimmung der russischen Bevölkerung zum Regime und zum Krieg nicht wesentlich von staatlichen Instituten. Lew Gudkows Zahlen werden vor allem von Regierungsgegnern in Zweifel gezogen. Sie wollen einfach die Realitäten nicht anerkennen, konstatiert der Forschungsdirektor. Aber die rund 1000 Mitarbeiter, die ins ganze Land ausschwärmen, um Menschen zu befragen, stellen seit Jahren das Anwachsen einer rückwärtsgewandten totalitären Stimmung innerhalb der russischen Bevölkerung fest. »Das ist etwas, was die Opposition nicht sehen will, weil sie sonst ihr eigenes Scheitern eingestehen und schweigen müsste. Deswegen leugnet sie unsere Daten und Ergebnisse, statt sie hinzunehmen.«
Von denjenigen, die sich zur Opposition zählen, sind einige in Russland geblieben. Oft, weil sie ihre Familie nicht zurücklassen wollen oder sich selbst zu alt bzw. zu krank fühlen. Manchen fehlt auch das Geld für das Exil oder der Mut für einen Neuanfang im Ausland. Die meisten halten im Moment die Füße still, machen sich unsichtbar. Aber manche setzen ihre politische Arbeit im Untergrund fort. An vielen Orten bekommt man eine leise Ahnung, dass es durchaus noch Menschen gibt, die den Krieg kritisch betrachten und ihn beim Namen nennen. Überall im öffentlichen Raum gibt es kleine Hinweise.
Auf dem Geländer einer Brücke in Kreml-Nähe hat jemand zwei kleine Knetfiguren positioniert. Eine Frau und einen Mann jeweils mit Schal und Mütze in den Farben der ukrainischen Flagge. In den winzigen Händen halten sie Schilder, auf denen steht: Hört auf zu töten! Ein kleines Ensemble, das man mit einer Hand wieder in der Jackentasche verschwinden lassen kann. An einer Hauswand hängt eine Kinderzeichnung mit der Bildunterschrift: Die Ukrainer sind nicht unsere Feinde. An Bushaltestellen, Metroeingängen, in Schaufenstern kann man Kriegsproteste entdecken: Stoppt den Krieg! Beteilige dich nicht am Krieg! Wie viele Jahre Haft bekommt man, wenn man zum Frieden aufruft? Das Fernsehen sagt nicht die Wahrheit. Schweig nicht! Schließe dich der Antikriegsbewegung an! – daneben steht ein QR-Code mit Kontaktdaten zu Gleichgesinnten. Manche Botschaften muss man erst entschlüsseln. »ГРУЗ 200« ist ein Hinweis auf russische Kriegstote: Gruz heißt Fracht, 200 steht für die sterblichen Überreste eines Soldaten. Früher kamen sie in Zinksärgen nach Hause zurück, heute in Leichensäcken. Alle diese Aktionen ähneln sich: Sie sind unaufwändig vorzubereiten, die Utensilien gut zu transportieren, man kann sie zur Not sofort zerstören, um nicht haftbar gemacht zu werden. Alle zeugen von großer Angst, erwischt zu werden.
In einer Onlinekonferenz im Sommer 2023 berichten Aktivisten der russischen Zivilgesellschaft einem kleinen Kreis von ausländischen Journalisten, dem sie vertrauen, über die Bedingungen ihrer Arbeit. Sie sind nervös, denn für sie alle steht viel auf dem Spiel. Verrät sie jemand, drohen viele Jahre Haft. Deswegen nennt keiner seinen Namen, manche haben Mützen oder Fake-Brillen auf, damit man sie nicht erkennt. Andere sprechen so leise, dass man sie kaum versteht. Nur eine Person gibt sich mehr oder weniger deutlich zu erkennen.
Kirill, Mitte 30, berichtet, dass er und seine Mitstreiter Diskussionen für Landsleute organisieren, die sich ausdrücklich als apolitisch bezeichnen. Ihr Bedürfnis zu reden sei trotzdem riesig, die Angst, sich politisch die Finger zu verbrennen, ebenso. In fünf verschiedenen Städten schlagen Kirills Gruppen Themenabende vor, zum Beispiel zum Kolonialismus oder zu »Auswegen aus Kriegssituationen in der Geschichte«. Sie annoncieren diese Veranstaltungen, die in den Wohnungen von Teilnehmern stattfinden, in sozialen Netzwerken. Sei es vor dem Krieg vor allem um den Austausch gegangen, suche man jetzt eher die moralische Unterstützung in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten, von der man vielleicht schon geglaubt hat, es gebe sie überhaupt nicht mehr. Häufig schreiben sie auch Briefe an politische Gefangene, um ihnen zu verstehen zu geben, nicht vergessen zu sein. Das ist immer noch möglich.
Daria aus einer Stadt im europäischen Teil Russlands, genauer will sie es nicht sagen, bietet Opfern von häuslicher Gewalt sichere Orte an. Sie hat sich mit Antikriegsinitiativen zusammengeschlossen. Psychologen, die mit Daria und ihren Mitstreitern kooperieren, hätten eine deutliche Zunahme von sexueller Gewalt registriert. Auch, weil es immer mehr Täter gebe, Männer, die verroht und traumatisiert von der Front zurückgekehrt seien. Die verletzlichsten Gruppen bekämen dies besonders zu spüren. Die Homophobie habe sehr stark zugenommen, auch die Aggressionen gegen Transgender-Personen, was mehr Menschen als zuvor in den Selbstmord treibe.
An dem vertraulichen Onlinetreffen russischer Oppositioneller nimmt auch eine Aktivistin teil, nennen wir sie Mascha, die lange in einer deutsch-russischen Organisation tätig war. Sie hilft vor allem Flüchtlingen, die eine Übernachtung unmittelbar vor ihrem Grenzübertritt nach Finnland brauchen, indem sie ihre eigene Wohnung zur Verfügung stellt. Mascha berichtet, dass sie immer mehr junge Menschen trifft, die noch nie internationale Kontakte gehabt hätten. Um diese Selbstisolation zu durchbrechen, würde sie für kleine Gruppen Auslandsreisen organisieren. Sie, die früher eng mit deutschen Partnern im Austausch war, erzählt außerdem, wie allein sich die Oppositionellen in Russland fühlen würden. Ehemalige Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisationen, die das Regime verboten hat, würden nicht mehr miteinander kommunizieren. Es sei völlig unklar, wer überhaupt noch im Land oder in den Untergrund verschwunden sei.
Ein Mann mit Hipster-Bart erzählt von Wochenendhäusern, die als Rückzugsorte für Gruppen dienen, die ungestört diskutieren wollen. Das Antikriegsprojekt, von dem der junge Oppositionelle erzählt, nennt sich »Datscha«. Thematisch ginge es oft um Diktatur und Schuld. Einmal hätten sie sich mit Karl Jaspers beschäftigt, weil sie verstehen wollten, wie es um die Verantwortung des Einzelnen an dem – in diesem Fall – von Russland verursachten Unglück bestellt ist, wer wohl später zur Rechenschaft gezogen werden könnte. Der Hipster hält ein Heftchen in die Kamera: »Die Schuldfrage«, erschienen 1946. Es handelt sich um eine Vorlesung Jaspers’ an der Universität Heidelberg über die Schuld des deutschen Volkes an den Verbrechen des Nationalsozialismus. In der Diskussion in der Datscha hätten sie Deutschland durch Russland ersetzt und seien die vier Schuldbegriffe durchgegangen: die kriminelle Schuld, die politische Schuld, die moralische Schuld und die metaphysische Schuld.
Kriminelle Schuld müsse durch die Gerichte der Siegermächte oder durch eine neu aufgebaute Gerichtsbarkeit festgestellt werden, ohne Verjährung. Politische Schuld treffe für die zu, die das Regime miterrichtet und es am Laufen gehalten hätten. Moralische Schuld könne man nur dem Einzelnen, dem Mitläufer zuschreiben, zum Beispiel für die Selbsttäuschung, mit der er das brutale Herrschaftssystem verharmlost, gebilligt und hingenommen hat. Dort, wo die »Solidarität mit dem Menschen als Menschen« verloren gegangen sei, »wenn ich überlebe, wo der andere getötet wird«, handele es sich um metaphysische Schuld. Mit dem Vorwurf der Kollektivschuld müsse man dagegen vorsichtig sein, meint der junge Mann aus der Onlinerunde, weil die Verbrechen von Einzelnen in dem pauschalen Vorwurf untergehen könnten, alle hätten sich irgendwie schuldig gemacht. Dann könne es passieren, dass sich am Ende niemand angesprochen fühle. Die Schuldfrage treibt die Aktivisten sichtbar um, denn sie sorgen sich, dass die Mehrheit der Menschen sie verdrängen und somit nichts aus dem Krieg lernen könnte. Dass sich die Aktivisten trotz der erschwerten Umstände weiter engagieren, begründen sie mit ihrer Sorge um ihr Land, das ohne Menschen wie sie eine noch schlechtere Zukunft hätte. Sie fragen sich, ob es dem Regime tatsächlich gelungen ist, die russische Zivilgesellschaft auszulöschen, oder ob sie zu einem späteren Zeitpunkt zu neuem Leben erweckt werden kann. Die Zweifel überwiegen.