Nürnberg, Dezember 1498

Helena erwachte früh an diesem windigen Dezembermorgen, weil sich das Kind in ihr bewegte. Es war wie ein leichtes Flattern unterm Nabel, und sie legte beide Hände auf den Bauch, um es besser zu spüren. Am Anfang, als ihre Blutung ausgeblieben war, hatte sie nur Zorn und Widerwillen empfunden. Sie wollte kein Kind mit diesem Mann, nichts, was sie sichtbar mit ihm verband. Oh, natürlich, sie hatte sich mit Konrad arrangiert, hatte sich abgefunden mit seiner Gleichgültigkeit und damit, dass er nachts zu ihr ins Bett kam. Er behandelte sie nicht schlecht, sie hatte keinen Grund zur Klage. Als sie ihm von ihrer Schwangerschaft erzählte, war er sogar von seinem Stuhl aufgesprungen und hatte sie lachend in der Stube herumgeschwenkt. Ein Erbe, das bedeutete das Fortdauern der Dynastie und den Beweis seiner Manneskraft – was wollte man mehr von einer Ehefrau? Sie hingegen konnte sich nicht freuen. Wie sollte sie ein Kind lieben, das so war wie er? Jeden Tag dachte sie daran, dass sie ihr Erstgeborenes hatte hergeben müssen. Das hätte sie lieben können, ja, aber dieses, das da kommen würde, gezeugt in einem Akt beiderseitiger Gleichgültigkeit? Von einem Mann, den sie nicht liebte, nicht einmal respektierte, sondern bestenfalls ertrug? Monatelang grübelte Helena und haderte mit sich selbst. Doch mit dem ersten Strampler, den das Kind in ihrem Bauch machte, waren all die schwarzen Gedanken verflogen. Sie begann sich auf das kleine Wesen zu freuen und die Tage und Wochen zu zählen. Zum ersten Mal in ihrem Leben, so dachte sie, würde sie etwas ganz für sich haben. Dich nimmt mir keiner weg, flüsterte sie oft, du gehörst ganz mir, und ich will ganz für dich da sein.

Das Kind, war Helena überzeugt, würde ihr auch das Leben im Haus am Weinmarkt erträglicher machen. Denn außer Konrad, der meist schon vormittags ins Familienkontor am Burgberg ging und oft erst spätabends heimkam, hatte sie nur die alte Apollonia, eine junge Magd vom Land namens Mina und den immer griesgrämigen Stubenknecht Reser zur Gesellschaft. Mit Reser hatte sie ohnehin nichts zu reden, außer ihm Arbeiten aufzutragen. Die kleine Mina war ein schüchternes Ding und sagte kaum ein Wort, erledigte aber ihre Aufgaben schnell und gewissenhaft. Und Apollonia, die schon seit ihrer Jugendzeit bei den Hellers Hausschafferin war, behandelte die neue junge Hausfrau abweisend und von oben herab. Sie war Konrads Amme und Kinderfrau gewesen und vergötterte ihren Herrn maßlos. Mit untrüglichem Instinkt hatte sie schon nach der verunglückten Hochzeitsnacht gespürt, dass das Paar sich nicht verstand. Und sie hatte sofort Partei für Konrad ergriffen. Nicht, dass sie unverschämt zu Helena gewesen wäre oder sich offen geweigert hätte, die von ihr angeschafften Arbeiten zu erledigen, nein, so weit ging die Alte nicht. Aber sie vergällte der neuen Hausfrau durch ihre mürrische Art, durch ihre Kälte und ihre schlechte Laune jeden einzelnen Tag. Helena war froh, wenn sie Apollonias verkniffene Miene unter dem fest zugezurrten dunklen Kopftuch nicht sehen und ihre galligen Bemerkungen nicht anhören musste; sie blieb deshalb immer öfter der Küche und den Haushaltsräumen fern und ließ die Alte selber wirtschaften. Wenn das Kind endlich auf der Welt war, so hoffte Helena, hätte sie wenigstens in der Zukunft fröhliche Gesellschaft und eine Aufgabe. Und jemanden, der sie liebte und den sie lieben konnte.

So achtete sie peinlichst darauf, nichts zu tun, was der Schwangerschaft abträglich sein konnte: Sie hob nichts Schweres, aß keine blähenden Bohnen- und Linsengerichte mehr, verzichtete auf allzu lange Gänge. Und sie ging jeden Tag zur Kirche, stellte eine Kerze auf und betete um eine glückliche Niederkunft und ein gesundes Kind.

Genau dies hatte sie auch am Samstag vor dem ersten Advent vor. Während Konrad noch tief und fest neben ihr schlief – er war erst weit nach Mitternacht und ziemlich angetrunken ins Bett gekommen –, stand sie leise auf und zog sich an. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, schloss sie die Tür der Schlafkammer hinter sich und ging die Treppe zum ersten Stock hinunter, wo die Wohnräume lagen.

In der guten Stube sah es wüst aus. Auf dem großen Kastentisch standen ganz offensichtlich die Reste eines Gelages: Leere und halb volle Becher und Pokale, eine Platte mit angetrocknetem Käse, einigen abgenagten Hühnerknochen und Brotbrocken, schmutzige Messer und Holzbrettchen. Überall war Wein verschüttet; es roch nach abgestandenem Alkohol. Ein Fenster stand offen, und der kalte Morgenwind wehte herein. Als Helena es schließen wollte, sah sie unten auf dem Pflaster eine Lache mit Erbrochenem. Sie verzog angewidert das Gesicht – Gott sei Dank war ihre Morgenübelkeit schon vorüber! Dann begann sie mit einem Seufzer, das Durcheinander aufzuräumen. Sie trug alles hinüber zur Anrichte, wo schon einige leere Krüge und Karaffen standen. Dabei trat sie mit dem linken Fuß auf etwas Hartes. Sie bückte sich und hob es auf: Es war ein beinerner Würfel mit schwarz eingebrannten Augen. Suchend sah sie sich um und entdeckte ganz hinten auf der geschnitzten Eckbank das dazugehörige Brett mit den Spielsteinen. Konrad hat also mit Freunden Puff oder Tricktrack gespielt, dachte Helena. Sie wunderte sich, dass sie davon nichts mitbekommen hatte, aber seit sie schwanger war, schlief sie oft wie ein Stein.

»Apollonia!«

Die Alte erschien so schnell, als ob sie schon vor der Stubentür gewartet hätte. Dürr, wie sie war, mit ihrer scharfkantigen Nase, den weit auseinander stehenden Augen und den stets dunklen Kleidern erinnerte sie Helena an eine Krähe. Mit einem Blick erfasste die Hauswirtschafterin das nun schon etwas gelichtete Durcheinander im Raum.

»So, so, da hat der Konrad wohl gestern Abend noch Besuch gehabt. Ja, die Männer müssen halt immer mal über die Stränge schlagen, die brauchen das.« Sie machte sich an der Anrichte zu schaffen und würdigte Helena kaum eines Blickes.

»Ich geh heut in die Frühmesse«, versetzte Helena, »kannst du mir schnell eine Kleinigkeit als Morgenessen richten? Ein Eierschmarren wäre gut.« Schwangere brauchten viel Eier und Milch, damit das Kind gedieh, das hatte die Hebamme erst kürzlich gesagt.

»Ich komm grad aus der Speis’. Eier sind keine da«, erwiderte Apollonia kurz angebunden. »bloß Brot und Käs'. Ich richt’s dann her.« Sie schlurfte hinunter in die Küche und werkelte geräuschvoll herum, während Helena weiter in der Stube aufräumte. Schließlich öffnete sie das Wandschränkchen, in dem sie das Haushaltsgeld aufbewahrte, das sie wöchentlich von Konrad bekam. Sie brauchte ein paar Münzen für den Klingelbeutel und wollte außerdem auf dem Rückweg von der Kirche über den Hauptmarkt gehen und fürs Mittagessen einkaufen. Zu ihrer Verblüffung war die kleine Geldlade leer bis auf zwei Viertelpfennige und einen Schreckenberger, der seit der letzten Münzverschlechterung ohnehin nichts mehr wert war. Gerade als sie Apollonia rufen wollte, kam die Alte mit dem Frühstück zur Treppe herauf.

»Apollonia, hast du vielleicht etwas vom Haushaltsgeld genommen? Gestern waren noch acht Gulden und etliches Kleingeld da, und heut ist alles weg!«

Die Wirtschafterin erstarrte ob dieser Frage, stellte mit einem Ruck Brot und Käse ab und fing an zu keifen. »Ich war schon im Dienst der Familie, als Ihr noch gar nicht geboren wart, Frau Helena. Und noch nie, noch nie hab ich was genommen, was nicht mir gehört. Ihr wisst genau so gut wie ich, dass ich immer erst frag, bevor ich an die Geldlade geh! Das muss ich mir nicht gefallen lassen, dass Ihr mich beschuldigt.«

»Ich beschuldige dich nicht, Apollonia«, beschwichtigte Helena, »ich frag dich ja bloß.«

»Alles tu ich Euch zu Gefallen!« Die Stimme der Alten wurde lauter. »Das ist nicht recht von Euch, mich zu verdächtigen. Ich weiß schon, dass Ihr mich nicht leiden könnt, aber deshalb bin ich noch lang keine Diebin!« Ihre Lippen waren nur noch ein dünner Strich, und sie ereiferte sich so, dass ihr ohnehin blasses Faltengesicht ganz weiß vor Aufregung wurde. Sie machte eine Bewegung zur Tür. »Ich geh mich jetzt beim Herrn beschweren, das tu ich, Ihr könnt Euch drauf verlassen!«

»Über was willst du dich denn bei mir beschweren, Loni?« Konrad war unbemerkt die Treppe heruntergekommen und stand jetzt breitbeinig in der Tür. Er trug einen wollenen Hausmantel; sein Gesicht war verquollen, die Haare verstrubbelt. »Und wieso macht ihr zwei so einen Krach, dass ich aufwache?«

Helena trat zu ihrem Mann. »Das Haushaltsgeld ist weg, Konrad. Und gestern war es noch da, ich weiß es genau. Irgendwer muss es herausgenommen haben.«

Konrad rieb sich die Augen und blinzelte die beiden Frauen verschlafen an. »Und deshalb regt ihr euch auf? Das war ich, gestern Abend. Ich hab’s gebraucht.«

Apollonia gab ein triumphierendes »Ha!« von sich und sah die verblüffte Helena mit feindseligem Blick an.

»Wieso hast du nicht das Geld genommen, das du immer in deinem Schreibtisch hast?« Helena verstand nicht ganz.

»Hab ich doch. Es hat nur nicht ganz gereicht.«

»Was? Du hast doch immer mindestens fünfzig Gulden im Haus! Und warum brauchst du so spät abends überhaupt so viel?«

Konrad grinste. »Tja, wie das so geht, ich hab beim Würfeln verloren – Pech im Spiel, Glück in der Liebe, so heißt’s doch, oder? Wie wunderbar das auf uns zutrifft, mein Schatz!« Er sah seine Frau vorwurfsvoll an. »Deshalb brauchst du die Apollonia nun wirklich nicht zu verdächtigen, die würde sich nie im Leben an unserem Geld vergreifen.«

Helena fand sich zu Unrecht gescholten. »Ich hab sie nicht verdächtigt, Konrad, ich hab sie nur gefragt, ob sie was genommen hat.«

»Geh, Loni, sei nicht beleidigt«, Konrad nahm seine alte Amme demonstrativ in den Arm. »Die Helena wird schon noch merken, was du für eine Perle bist, gell?«

»Die treibt mich noch aus dem Haus«, sagte Apollonia anklagend, »wart’s nur ab, Konrad, irgendwann lass ich mir das nicht mehr gefallen und geh!« Dann verschwand sie aus dem Zimmer, zufrieden über ihren Sieg.

»Kannst du eigentlich nicht mit der Apollonia auskommen?« Konrad war verstimmt. »Sieh zu, dass das anders wird, ich will keinen Streit im Haus, hörst du? Und jetzt geh ich wieder ins Bett, ich hab einen Brummschädel und mir ist kotzübel.«

Helena stiegen die Tränen in die Augen. Seit sie schwanger war, hatte sie ohnehin nah ans Wasser gebaut, und Konrads Parteinahme für die Hauswirtschafterin hatte sie getroffen. Jetzt würde es noch schwerer werden, mit der missgünstigen Alten auszukommen. Aber was ihr fast noch schlimmer erschien, war die Tatsache, dass Konrad offenbar die riesige Summe von über fünfzig Gulden verspielt hatte! Mein Gott, dafür könnte man sich ein halbes Haus kaufen, ging es Helena durch den Kopf. Und er wirft es zum Fenster hinaus! Dabei war die finanzielle Situation ihres Mannes, das hatte er ja schon in der Hochzeitsnacht zugegeben, nicht besonders rosig. Im Grunde genommen verspielte er ihr Geld, nicht seines. Und das seines ungeborenen Kindes. Helena riss sich zusammen und putzte sich die Nase. Sie durfte sich nicht aufregen, das war schlecht für die Schwangerschaft. Langsam ging sie ins Erdgeschoss, wo die Lager- und Vorratsräume lagen. Die Tür zur Speisekammer stand offen, und sie lugte hinein: Im Regal stand ein ganzer Korb voll mit frischen Hühnereiern!

Wütend warf sie die Tür zu, zog ihre hölzernen Trippen an, schlang einen pelzgefütterten Mantel um und machte sich auf den Weg zur Kirche.

 

Philipp traf die Hübschlerinnen vorm Zeughaus in der Pfannenschmiedsgasse. Die gemeinen Töchter waren wie immer samstagmorgens unterwegs zur Kirche, angeführt vom Frauenwirt und der Wirtin. Ihre roten Kopftücher flatterten im böigen Winterwind, als sie durch den Schneematsch stapften, der den Hauptmarkt bedeckte. Eigentlich lag das Frauenhaus ja auf der Lorenzer Stadtseite, und die Mädchen hätten deshalb in die Lorenzkirche zur Messe gehen sollen, aber der dortige Pfarrer hatte schon vor längerer Zeit klargemacht, dass er in seinem Gottesdienst keine feilen Weiber duldete. So waren nur die Frauenkirche oder die Sebalduskirche geblieben, und die Hübschlerinnen hatten sich für Letztere entschieden.

Der Mönch hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, die Frauen beim wöchentlichen Kirchgang zu begleiten. Wenn man von Hans Kieser absah, der selten anders als knurrig und bärbeißig auftrat, war das Grüppchen meistens in fröhlicher Aufregung. Die Mädchen genossen ihren freien Tag, so gut es ging, und Philipp, der sich in der Stille des Klosters oft unbehaglich fühlte, ließ sich gern von ihrem Lachen und ihrer guten Laune anstecken.

An diesem Samstagmorgen stellte er jedoch sofort fest, dass die allgemeine Stimmung getrübt war. Es wurde weniger als sonst gelacht auf dem Weg zur Messe, die Mädchen gingen ruhig nebeneinander her und unterhielten sich nur leise. Philipps Blick fiel schließlich auf Grete, die ganz hinten ging. Ihr Gesicht mit der narbigen Wange war aschfahl und sie hatte sichtlich Mühe, sich aufrecht zu halten. Ab und zu blieb sie stehen, ganz offenbar war ihr übel.

»Grete, was ist mit dir?« Philipp hatte sich zurückfallen lassen und nahm jetzt stützend Gretes Arm. Die Angesprochene wehrte ab.

»Lasst mich nur, Vater, es geht schon. Mir ist nur seit ein paar Tagen nicht wohl.«

»Hast was Falsches gegessen?«

»So wird’s sein«, versetzte Grete. »Geht nur zu den andern, Vater, ich komm schon zurecht. Mir ist am liebsten, man lässt mich in Ruh, wenn’s mir schlecht geht.«

Philipp akzeptierte die Zurückweisung. Er mischte sich weiter vorn unter die anderen Mädchen. Anna und Cilli, die wie immer zusammensteckten, warfen hin und wieder einen Blick auf Grete.

»Singrien, möcht ich wetten«, versetzte Cilli trocken und wies mit einer Kopfbewegung auf Grete, die jetzt die Hände auf den Unterleib presste, »ich weiß doch, wie’s einem da geht.«

»Meinst du?« Anna war skeptisch. »Aber die Grete ist doch immer so vorsichtig! Zehn Jahre im Geschäft, hat sie neulich erst gesagt, und nie in Kindsnöten. Sie benutzt doch immer diese Kräuterkügelchen, und da ist doch auch ihr gläsernes Amulett, auf das sie so schwört … «

»Ja, wem’s hilft!« Cilli zog verächtlich einen Mundwinkel hoch. Sie hielt nichts von solchem Unfug. »Schau sie dir doch an. Außerdem hab ich’s in den letzten Tagen öfters in ihrer Kammer rumpeln hören. Da ist sie bestimmt vom Tisch gesprungen. Na, und wenn das nichts hilft, dann bleibt bloß Singrien – oder die Herrgottsnadel.« Sie schüttelte sich.

»Was ist eigentlich drin in dem Trank außer Efeu und Immergrün?« Anna wusste, dass die Frauenwirtin das Gebräu für den Fall der Fälle bereithielt.

Cilli zuckte die Schultern. »Vermutlich Sadebaum oder Ackerwinde. Waldfarn könnt auch sein. Poleiminze? Nieswurz? Keine Ahnung. Die Gunda rückt das Rezept nicht raus. Na, Hauptsache es hilft.«

Anna nickte gedankenverloren. Viele der Mädchen hatten schon Austreibungen durch Pflanzentränke hinter sich, Cilli selber war eine von ihnen. Wenn es mit dem Kräuterabsud nicht klappte, dann holte Gunda meist die alte Katharina aus dem Irrergässchen, eine frühere Hebamme. Aber die von ihr angewendete Methode, die Leibesfrucht mittels eines langen Metalldrahtes abzutreiben, war gefährlich – man konnte dabei leicht verbluten oder hinterher am Fieber sterben. Gott sei Dank, dachte Anna und schlug vorsichtshalber das Kreuz, bin ich bis jetzt verschont geblieben. Tatsächlich hatte sich bei ihr noch nie eine Schwangerschaft eingestellt. Es kam ihr plötzlich in den Kopf, dass dies vielleicht sogar an dem Medaillon lag, das nun schon einige Jahre in ihrem Besitz war. Vielleicht, überlegte sie, bringt es seinem Besitzer ja wirklich Glück, so wie es damals die Brandauerin zu ihrer Tochter gesagt hatte …

Während sie noch nachdachte, war das Grüppchen schon am Kirchenportal angelangt. Wie immer, so waren die Frauen auch an diesem Dezembersamstag bereits eine Viertelstunde vor Beginn der Messe in der Kirche. Das war von der Obrigkeit so gewünscht – sie sollten die ihnen zugewiesenen Plätze am hinteren Ende der Frauenbankreihen einnehmen, ohne mit den tugendhaften Gemeindemitgliedern in Berührung zu kommen. Das Wort Gottes durften die Huren zwar hören, aber dabei doch keine echte Gemeinsamkeit mit den anständigen Bürgern pflegen.

Die Mädchen traten in die noch leere Kirche, schlugen nacheinander mit weihwasserbenetzten Fingern das Kreuz und steuerten dann ihre Plätze an. Nur Grete setzte sich nicht zu den anderen auf die letzte Bank. Sie wehrte die Hand des Mönchs ab, der inzwischen wieder zu ihr gekommen war, und strebte mit unsicherem Schritt dem Hauptaltar zu. Anna wechselte einen besorgten Blick mit Cilli, dann gingen sie dem Mädchen in einigem Abstand nach. Demütig kniete sich Grete auf die Stufen vor den Altar, faltete die Hände und begann, lange und inbrünstig zu beten. Währenddessen füllte sich die Kirche langsam. Die Menschen schauten missbilligend auf die drei Hübschlerinnen vor dem Altar.

»So eine Frechheit«, zischte eine Stimme, »billiges Weiberpack.«

Grete sank immer mehr in sich zusammen. Anna und Cilli befürchteten, dass man sie aus der Kirche werfen würde, wenn dies noch lange dauerte, und so zogen die beiden Frauen die Kniende hoch, um sie wegzuführen. Anna bückte sich, um Gretes heruntergeglittenes Hurentuch aufzuheben, und unterdrückte einen Aufschrei: Dort, wo Grete gekauert hatte, machte sich ein großer hellroter Fleck auf der Stufe breit. Langsam führten sie Grete an den Frauenbänken auf der rechten Seite entlang nach hinten; rote Tropfen markierten ihren Weg auf den grauen Steinfliesen. Plötzlich stöhnte die Schwangere auf und krallte die Hände in den Unterleib. Ihre Füße gaben nach, und sie sackte in Cillis Armen zusammen. Die wusste sich nicht anders zu helfen, als Grete auf einen der geschnitzten Kirchenstühle sinken zu lassen, die für die Mitglieder der edlen Familien reserviert waren. Anna fächelte ihr mit dem zusammengelegten Hurentuch Luft zu. Sofort versammelte sich eine tuschelnde Menge um die drei Frauen, angeführt von einigen Patrizierdamen, deren Plätze in der Nähe lagen. Eine Hure im vornehmsten Betgestühl, dort wo sonst sittsame, ehrbare Frauen saßen – das war ungeheuerlich! Diese Frau besudelte den Stuhl einer der ihren! Böse Bemerkungen fielen, während sich Grete hilflos vor Schmerzen krümmte.

»Raus mit denen, aber sofort!«, zischte die Paumgartnerin und drückte ihr Taschentuch vor die Nase, als ob ihr der Geruch der feilen Weiber unerträglich sei. Andere stimmten ihr bei, und schon packte eine der kostbar in Pelz und Samt gekleideten Frauen Anna unsanft am Arm. Cilli bekam die ersten Knüffe und Schläge ab und begann, sich zu wehren. Ein Tumult entstand.

Philipp hatte von der Hurenbank aus die Szene beobachtet und drängte sich jetzt durch die Menge nach vorn.

»Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!«

Mit abwehrend erhobenen Händen stellte sich der Mönch vor die drei Hübschlerinnen. »Um der Jungfrau Maria willen, ihr Frauen, seht ihr nicht, dass hier Hilfe gebraucht wird?«

Was Philipp jedoch selber sah, war nicht die zusammengekrümmte Gestalt Gretes. Vor seinem geistigen Auge stand ein anderes Bild: Eine Hand, die sich ihm Hilfe suchend entgegenreckte, ein angstgeweiteter Blick, sprudelndes Wasser. Er hörte den hellen Schrei, und wieder schlug die Woge über ihm zusammen wie so oft; er konnte nichts dagegen tun. Er stand einfach nur da und war unfähig, sich zu rühren, wie damals …

»Wir wollen die hier nicht! Sollen die liederlichen Pritschen doch daheim bleiben!« Wieder war es die Paumgartnerin, die ihre Stimme erhob.

Auf einmal teilte sich die Menge, und Helena trat in den Kreis, gehüllt in ihren vornehmen Pelzmantel. Die junge Patrizierin stand da wie angewurzelt und brachte zunächst kein Wort heraus: Der Kirchenstuhl, auf dem Grete saß, gehörte ihr, trug das Hellersche Wappen! Der Rock der Hure war bis zu den Knien nach oben gerutscht, und an ihren Beinen rann das Blut herab. Und daneben sah Helena ihren Bruder, den Mönch, weiß wie die Wand, als ob er gerade ein Gespenst gesehen hätte.

»Es ist Euer Platz, Hellerin«, keifte eine der Frauen, »da könnt Ihr Euch nie wieder hinsetzen! Lasst das Luder hinauswerfen!«

»Sie braucht eine Hebamme, Euer Ehrbarkeit!« Annas Stimme riss Helena aus ihrer Erstarrung. Und neuerlich blickte die junge Patrizierin in dieses seltsame Augenpaar, das sie aus irgendeinem Grund immer wieder verfolgte. Aber es war keine Zeit zum Nachdenken. Helena wandte den Kopf und sah sich suchend in der Kirche um. Ganz hinten erkannte sie den Hausarzt der Familie, wie er gerade den Mittelgang betrat.

»Doktor Schedel«, rief sie über die Köpfe der anderen hinweg und winkte, »Doktor Schedel, hierher, schnell, Eure Hilfe wird gebraucht.«

Hartmann Schedel, der renommierte Arzt und Freund der Familie, lief mit schnellen Schritten herbei, sah Gretes blutigen Rock und das rote Rinnsal, das unter dem Stuhl hervorsickerte, und erkannte sofort die Situation. Er wehrte ab. »Nein, Hellerin, tut mir Leid, hier kann ich nichts tun.«

»Aber Doktor, Ihr seht doch, wie schlecht es um die Frau steht.« Helena begriff nicht. »Ich komm für die Kosten auf.«

Schedel schüttelte nochmals bedauernd den Kopf. »Darum geht es gar nicht, meine Liebe. Ich bin studierter Mediziner, und außerdem ein Mann. Für Krankheiten, die mit der weiblichen Natur zusammenhängen, sind wir Physici nicht zuständig, darüber lehrt man uns nichts. Hier liegt offenbar ein zu starker Monatsfluss vor, mehr kann ich nicht sagen. Ich würde aber vorschlagen, wir tragen die Frau erst einmal hinaus. Die Kirche ist kein Ort für solche Dinge, wie auch immer.«

Ein paar Männer packten an, und gemeinsam schafften sie Grete nach draußen. Unter dem prunkvollen Hellerschen Wappen auf dem Kirchenstuhl war das Holz mit dunklem Blut getränkt. Helena wurde plötzlich übel, und sie schwankte leicht.

»Eure Hand, Doktor. Würdet Ihr so gut sein und mich nach Hause bringen?«

 

Erst als sich die Menge wieder verlaufen hatte und der Messner anfing, das Blut aufzuwischen, war Philipp wieder in der Lage, sich zu bewegen. Sein Gesicht war grau, und auf seiner Brust lag ein Druck wie von tausend schweren Steinen. Er zwang sich, die Kirche langsam zu verlassen. Draußen lehnte er sich an die Kirchenmauer und atmete die frostige Winterluft tief in seine Lungen. Dann begann er zu laufen, schneller und immer schneller, bis er keuchend und mit schmerzenden Stichen in der Seite die rettende Pforte des Barfüßerklosters erreicht hatte. Er zog sich zum Beten in die Kapelle zurück und verließ die heilige Stätte erst nach Stunden. An diesem Abend holte er seit langem wieder einmal die Geißel hervor.

 

Nachdem unter den Kirchgängern keine Hebamme zu finden war, brachte man Grete auf einer Trage zurück ins Maukental. Dort bettete man die inzwischen Bewusstlose auf einen der langen Tische in der großen Stube. Das Blut tropfte unaufhörlich ins Stroh auf dem Boden, und das Gesicht der Hure wurde mit jeder Minute fahler.

Auch die Frauenwirtin war kreidebleich vor Aufregung.

»Ich hab ihr nicht mehr gegeben als sonst auch«, greinte sie, »ehrlich! Ich kann nichts dafür!« Von einem Mädchen zum anderen lief sie, immer mit der gleichen Beteuerung auf den Lippen.

»Halt den Mund, Gunda«, sagte Cilli irgendwann leise, »und fang an zu beten.«

Als endlich die Hebamme kam, war Grete nicht mehr zu retten. Kurz vor Mittag starb sie, ohne noch einmal das Bewusstsein wieder erlangt zu haben.

Tags darauf verweigerte der Pfarrer der Lorenzkirche der toten Hure eine christliche Beerdigung. Ein feiles Weib auf dem Gottesacker zu begraben, so sagte er, würde unweigerlich dazu führen, dass die Seelen der hier begrabenen frommen Männer in Versuchung geführt würden und keine Ruhe fänden. So verscharrte man Grete ohne Zeremonie in einem Armesündergrab auf dem Johannisfriedhof.