Ein unvergessliches Wochenende
Reisende haben oft viel zu wenig Zeit, sich in Ruhe alles anzusehen. Wer kann schon monatelang durchs wilde Schottland ziehen, wie der Engländer Samuel Johnson im Jahr 1773? Wer hat zwei Jahre Zeit, wie Maria Sibylla Merian und ihre Tochter von 1699 bis 1701 nach Surinam und wieder zurück zu reisen? Vielleicht möchten Sie nicht gleich die gesamten Sommerferien in der Vergangenheit verbringen, sondern nur kurz ausprobieren, wie sich das anfühlt. Hier drei unverbindliche Vorschläge für unkomplizierte, interessante Wochenendausflüge.
Granada, 1350 bis 1450
Im frühen 8. Jahrhundert erobern Krieger aus Nordafrika, später Mauren genannt, die heutigen Gebiete von Spanien und Portugal. Die Mauren sind Anhänger des Islam, einer brandneuen Religion, die es bis dahin in Europa nicht gibt. Nicht einmal hundert Jahre sind vergangen seit dem Tod von Mohammed, dem Gründer des Islam. Zu dieser Zeit leben auf der Iberischen Halbinsel die Westgoten. Dreihundert Jahre zuvor sind es die Vandalen. Die nächsten fünfhundert Jahre die Mauren. Völker, Armeen und Könige geben sich die Klinke in die Hand. Unter der Ägide der Mauren erlebt das Gebiet lange Perioden der Stabilität und zivilisatorische Glanzzeiten, mit Zeichen des Fortschritts, von denen man anderswo in Europa nur träumen kann:
Straßenlaternen, gepflasterte Wege, Bibliotheken, Kanalisation, Kunst, Wissenschaft.
Im 11. Jahrhundert entsteht bei den christlichen Machthabern der Nachbarländer der unbändige Wunsch, die Iberische Halbinsel in Besitz zu nehmen oder, wie sie es sehen, das Land für das Christentum zurückzuerobern. Nach und nach drängen die christlichen Armeen die Mauren zurück, in langen, verwickelten, komplizierten Kriegen. Mitte des 13. Jahrhunderts sind die meisten großen Städte in der Hand der Christen. Zur selben Zeit, im Jahr 1232, entsteht ein neuer maurischer Staat, wie Phönix aus der Asche: das Emirat von Granada, beherrscht von der Familie der Nasriden. Das Emirat umfasst die heutigen Städte Granada, Malaga und Almería im Osten von Andalusien, geschützt von hohen Bergen, mit fruchtbaren Ebenen und Häfen an der Mittelmeerküste. Die Nasriden halten einen brüchigen Frieden mit dem Feind nebenan, unter anderem, indem sie ihm größere Mengen Gold schicken. Das Emirat überdauert mehr als zweihundertfünfzig Jahre. Es ist der letzte islamische Staat in Westeuropa – und ein hervorragendes Ziel für Zeitreisende.
Wenn Sie lediglich einen oberflächlichen Eindruck von der maurischen Kultur in Europa bekommen möchten, benötigen Sie gar keine Zeitreise. Sie können genauso gut die erhaltenen Monumente in der Gegenwart betrachten. Die Alhambra, der Palast der Nasriden, eine Art Stadt innerhalb der Stadt Granada, ist heute viel leichter zu besichtigen als zur Zeit des Emirats. Zugegeben, viele der kostbaren Malereien sind mittlerweile verblichen oder übermalt, Wände zerbröckelt, Türme zerstört. Die später hinzugekommenen Renaissancebauten sehen ganz schön
hässlich aus. Dafür haben Sie Ihre Ruhe. Gerade in den letzten hundertfünfzig Jahren der Nasriden wird in der Alhambra fröhlich vergiftet, erdolcht und intrigiert. Beinahe jeder Herrscher stirbt eines unnatürlichen frühen Todes. Auch nach dem Ende der Nasriden wohnen in der Alhambra vor allem bis an die Zähne bewaffnete Soldaten. Erst im späten 19. Jahrhundert entwickelt sich die Alhambra zu einem legitimen Tourismusziel.
Wenn Sie mehr über die Nasriden erfahren möchten, dann sollten Sie etwa sechshundertfünfzig Jahre in die Vergangenheit reisen. Im Jahr 1333 beginnt mit der Machtübernahme von Yusuf I. die goldene Ära von Granada. Innerhalb der nächsten zwanzig Jahre wird die Alhambra vollendet. Die erste Pestwelle erreicht Granada im Jahr 1348, im selben Jahr wie England und Frankreich. Der Politiker, Poet, Gelehrte und überhaupt universal talentierte Ibn al-Khatib aus Granada ist davon überzeugt, dass die Pest eine ansteckende Krankheit ist, und hat dafür handfeste empirische Beweise. Damit stellt er sich gegen das weit verbreitete Dogma, das Krankheiten als Strafe Gottes sieht.
Als Besucher sollten Sie die Pestjahre meiden und in sicherem Abstand nach 1350 zu den Mauren reisen. Abgesehen davon kann Ihnen in Granada an einem Wochenende nicht viel passieren – solange Sie sich nicht in die Nähe der Grenze wagen, an der es auch in Friedenszeiten immer wieder zu Scharmützeln mit den Spaniern kommt, und solange Sie sich von den Herrscherfamilien fernhalten, bei denen es beinahe wöchentlich Mord und Totschlag gibt.
Es ist ein großartiges Jahrhundert in Granada. Während
der Herrschaft der späten Nasriden wohnen etwa fünfzigtausend Menschen in der Stadt. Zum Vergleich: London erreicht im 14. Jahrhundert zum ersten Mal hunderttausend Einwohner, wird dann jedoch von der Pest entvölkert. Köln, Neapel, Prag haben in etwa so viele Einwohner wie Granada. Konstantinopel, Paris, Mailand sind größer. Die Menschen wohnen dicht gedrängt, in Häusern mit wenigen Fenstern, die über Kanäle mit fließendem Wasser versorgt werden. Die Straßen sind für mittelalterliche Verhältnisse sauber. Während es in London vielerorts bestialisch nach Kloake stinkt, wird in Granada das Abwasser unterirdisch abgeführt. Am Ende des 15. Jahrhunderts besucht der Nürnberger Gelehrte Hieronymus Münzer die Stadt und ist begeistert: «Ich glaube nicht, dass es in ganz Europa etwas Ähnliches gibt. Alles ist von solcher Pracht, so majestätisch, so erlesen gestaltet, dass man sich im Paradies wähnt.»
Beim Spaziergang durch das Granada der Nasriden können Sie leicht das Gefühl bekommen, immer beobachtet zu werden. Ständig ist irgendetwas weiter oben als man selbst, Terrassen, Balkone, Hügel. Die verwinkelten Gassen der Stadt wirken wie Teile eines Labyrinths, in dem sich Licht und Schatten, Berg und Tal abwechseln. Die Architektur reflektiert die ständige Bedrohung durch den Feind vor den Toren.
Im Zentrum der Stadt finden Sie die phantastische, riesige Moschee, sechzig mal hundert Meter groß. Nach 1492 wird die Moschee durch die neue Kathedrale ersetzt, darum ist sie wirklich nur in der Vergangenheit zu besichtigen. Ringsum können Sie sich in Vorstädten verlaufen, die über die Ebene und die Hügel verteilt sind. Im Viertel
Albaicín haben Sie den besten Ausblick auf die Alhambra mit ihren Türmen und Zinnen. Die Stadtteile haben ihre eigenen Mauern, die tagsüber offen sind, aber nachts geschlossen werden.
Direkt neben der Moschee, in der Alcaicería, wird an hunderten Ständen mit Seide gehandelt, einem der wesentlichen Produkte der Stadt. Nebenan, in der Calle Oficios, steht seit 1349 die Madraza
, die muslimische höhere Schule, an der unter anderem Philosophie, Astronomie, Mathematik gelehrt wird. Märkte gibt es im Zentrum und in vielen Vororten, laute, geschäftige Orte. Abgesehen von der großen Moschee finden Sie Dutzende kleinere, mit Minaretten, von denen mehrmals täglich zum Gebet gerufen wird. In den Straßen treffen Sie Menschen von unterschiedlicher Herkunft und Lebensart, reiche Händler, Soldaten, Handwerker, die je nach Gewerbe in speziellen Straßen oder Vierteln wohnen, sowie Landarbeiter, die in Dörfern vor den Stadtmauern leben. Frauen genießen wesentlich mehr Rechte als in der christlichen Umgebung, aber wie sich das auf ihre Präsenz im Stadtbild Granadas auswirkt, müssen Sie vor Ort herausfinden.
Die Bevölkerung ist muslimisch, abgesehen von wenigen sesshaften Juden und zeitweilig anwesenden Christen. Das Emirat ist ein fortschrittliches Land: Es gibt eine amtliche Sprache, an die sich keiner hält. Offiziell spricht man das, was wir heute «Klassisches Arabisch» nennen, die Sprache, auf der das moderne Standardarabisch beruht. Hören werden Sie auf den Straßen aber vor allem Andalusisches Arabisch, das heute beinahe ausgestorben ist. Wenn Sie ein bisschen Arabisch sprechen, können Sie sich vermutlich verständlich machen, zumindest wenn Ihr Gegenüber
ein wenig Geduld mitbringt. Verstehen werden Sie allerdings wenig. Aber das ist heute auch noch so, wenn Sie ein fremdes Land aufsuchen und nur die offizielle Version der Sprache kennen. Vielleicht kommen Sie gelegentlich mit ein paar Vokabeln aus dem modernen Spanisch durch, aber viel können Sie damit nicht ausrichten. Ansonsten bleibt Ihnen natürlich immer noch die Verständigung mit Händen und Füßen. Wenn Ihnen daran liegt, längere Gespräche mit den Einheimischen zu führen, dann erkundigen Sie sich bei Ihrem Reiseveranstalter nach den gängigen Preisen für einen Dolmetscher.
Sie könnten den Bewohnern von Granada davon erzählen, dass ihre schöne Stadt hundert Jahre später den Spaniern gehören wird. Sie könnten von der Verfolgung und Diskriminierung der andalusischen Muslime nach 1492 berichten. Erwarten Sie sich nicht zu viel davon: Entweder ahnen einige das schon, oder man wird es Ihnen nicht glauben, oder aber es interessiert keinen. Das Jahr 1492 ist schließlich noch weit weg. Menschen sind nicht besonders gut darin, über Zeiträume von Jahrzehnten oder Jahrhunderten zu planen. Selbst wenn Sie ein paar Leute davon überzeugen können, dass bald Hunger, Krieg, Elend, Vertreibung oder Unterdrückung drohen, werden die wenigsten lieber freiwillig fünfzig Jahre vorher in die Fremde ziehen. Wer es dennoch ausprobieren möchte, kann seine Überredungskünste schon einmal in der Gegenwart an Leuten testen, die in Überschwemmungsgebieten oder in der Nähe von Vulkanen wohnen.
Neapel, 1750 bis 1800
Reisende, die sich nicht entscheiden können, ob sie das Wochenende mit Kultur, Natur oder Party verbringen möchten, sollten sich Neapel genauer ansehen, vielleicht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Bis 1759 ist Karl III
. König von Neapel, aber dann erbt er den spanischen Thron und überlässt die herrliche Stadt zähneknirschend seinem Sohn Ferdinand III
., der erst acht Jahre alt ist. Neapel ist zu diesem Zeitpunkt mit vierhunderttausend Einwohnern die drittgrößte Stadt Europas. Die meisten der Einwohner leben in Armut, aber wenn Sie es schaffen, sich in den Kreisen der Elite zu bewegen, wird es Ihnen an nichts mangeln. Jedenfalls solange Sie den Gestank aushalten – die geruchsneutrale Entsorgung von Abwässern und Abfällen gehört leider nicht zu den Stärken von Neapel.
Ansonsten ist es unglaublich schön in der Stadt. «Nirgendwo in Europa griffen Kultur und Natur dramatischer ineinander, keine Königsstadt des Kontinents kannte so blaues Wasser und so strahlenden Himmel», schreibt der Historiker Leonhard Horowski in seinem Buch «Das Europa der Könige». Die Paläste der Stadt quellen über von Kunstwerken. Während Mitteleuropa sich durch die Kleine Eiszeit friert, bietet Neapel angenehme Temperaturen, umgeben von Meer auf der einen und Bergen auf der anderen Seite. Direkt neben der Stadt erhebt sich der Vesuv, ein Vulkan, der immer wieder zum Leben erwacht, die Erde aufbricht, Staubwolken ausatmet und glühende Steine spuckt.
Sie werden eine Zeit erleben, in der Berge nicht
ausschließlich als furchteinflößend und hinderlich gelten wie in der ferneren Vergangenheit, sondern immer öfter als erhaben und beeindruckend, wenig später sogar als romantisch. Ihre Gastgeber werden es also verstehen, wenn Sie Ihrer Bewunderung für den Vulkan Ausdruck verleihen, was noch hundert Jahre früher für Befremden gesorgt hätte. Zudem sind Sie nicht der einzige Besucher – Bildungsreisen nach Neapel gehören zum guten Ton, unter anderem bei Engländern, die sich genau wie Sie als Touristen bezeichnen (obwohl sie mit der Kutsche oder dem Schiff anreisen, nicht mit der Zeitmaschine).
Am Abend treffen sich die Touristen mit den lokalen Würdenträgern im Teatro di San Carlo, einem gigantischen Opernhaus, eröffnet im Jahr 1737. Oper ist so etwas wie der Superheldenfilm des 18. Jahrhunderts, nur mit singenden Kastraten. Mit sechs Stockwerken, hundertachtzig Logen, mehr als tausend Sitzplätzen und verschwenderischer Vergoldung kommt das Teatro größer, prächtiger und wahnsinniger daher als alle anderen Häuser dieser Art in Europa. Die Bühne ist groß genug für spektakuläre Schlachtenszenen mit hunderten Statisten und echten Pferden. Tatsächlich bemerkt der Komponist Louis Spohr im Jahr 1817, das Teatro di San Carlo sei zu groß für die Oper, weil leise Stellen sich in der riesigen Halle verlören. Erwarten Sie nicht, dass Opern so klingen, wie Sie es von modernen Aufzeichnungen kennen. Bewundern Sie stattdessen die bombastische Architektur, die zu sensationellen Klangeffekten führt. (Lesen Sie mehr zu diesem Thema im Kapitel «Konzerte ohne Klingeltöne».)
Wer im 18. Jahrhundert nach Neapel reist, befindet sich im Zentrum der musikalischen Welt, jedenfalls wenn man
«Welt» im etwas eigenartigen Sinne von «drei oder vier Königreiche in Europa» versteht. Die besten Komponisten Europas drängen sich darum, eine Oper für Neapel zu schreiben. Ortsansässige Komponisten wie Scarlatti, Pergolesi, Durante, Paisiello werden weltberühmt. Der neapolitanische Stil, eine Mischung aus spätem Barock und früher Klassik, beeinflusst Quantz und Gluck, später Haydn und Mozart.
Wenn Sie ein Instrument beherrschen, das zu dieser Zeit in Mode ist, zum Beispiel Querflöte, Geige oder Cello, können Sie sich bei Sir William Hamilton beliebt machen, der seit 1764 als britischer Botschafter in Neapel lebt. Hamilton ist ein ehrgeiziger Hobby-Musiker, außerdem ehrgeiziger Hobby-Vulkanologe und ehrgeiziger Hobby-Antiquitätensammler. Andererseits sind die regelmäßigen Partys in Hamiltons diversen Villen bei den englischen Touristen so beliebt, dass Sie vermutlich auch ohne Querflöte daran teilhaben können.
Stonehenge, 3000 bis 2000 vor unserer Zeitrechnung
Und jetzt etwas völlig anderes. Fahren Sie übers Wochenende zum Zelten in die Gegend, die wir heute England nennen, vier- bis fünftausend Jahre zurück in die Vergangenheit. Es ist die Zeit, in der Stonehenge entsteht, im heutigen Wiltshire im Süden der Insel. Garantiert nicht finden werden Sie Opernhäuser, Burgen, Perücken, Moscheen, Querflöten, lange Tischreden oder die Pest. Vielleicht sehen Sie stattdessen Tiere, die im heutigen Großbritannien schon
lange ausgestorben sind: zum Beispiel den bei Zeitreisenden beliebten Auerochsen, den Urahnen des modernen Rindes, ein großes Tier, das aber friedlich ist, solange man es nicht nervt. Die Einheimischen werden Sie ganz sicher nicht verstehen, egal, welche Sprache Sie reden. Um Geld müssen Sie sich auch nicht kümmern, das ist noch nicht erfunden. Stattdessen wird mit irgendwelchen nützlichen Dingen Tauschhandel betrieben. Es ist in mancher Hinsicht eine überaus praktische Zeit.
Im Gegensatz zu heute ist England überwiegend bewaldet. Wenn Sie das Zelt vergessen, bauen Sie sich einen Unterstand aus Ästen und Zweigen. Brennholz gibt es genug, nur ist es leider oft nass. Wenn Sie Glück mit dem Wetter haben, können Sie Ihre Mahlzeiten über dem Lagerfeuer kochen. Ansonsten ernähren Sie sich einfach von mitgebrachten Erdnüssen und Käsebroten.
Sie befinden sich in der späten Phase der Jungsteinzeit. Die Bewohner der Insel haben das Herumstreunen aufgegeben und gehen zu einer sesshaften Lebensweise über. Tiere werden domestiziert, Getreidesorten gezüchtet, Felder angelegt, Wälder gerodet, Siedlungen gebaut. Irgendwann in der Mitte dieses Jahrtausends tauchen auf den Britischen Inseln die sogenannten Glockenbecher auf, charakteristische Gefäße aus Keramik, die man heute über ganz Europa verstreut findet. Zusammen mit den Bechern kommen neue, hellhäutige Menschen über den Kanal. Innerhalb von ein paar hundert Jahren verändert sich die gesamte Bevölkerung des Landes. Wie das genau vonstattengeht, weiß man heute nicht genau. Es besteht unter anderem die Möglichkeit, dass die neuen Bewohner eine Krankheit mitbringen und die alten Bewohner, die
dagegen noch nicht immun sind, damit anstecken. Wenn Sie vorwiegend dunkelhäutigen, schwarzhaarigen Menschen begegnen, dann sind die Glockenbechermenschen jedenfalls noch nicht eingetroffen. Gegen Ende dieses Jahrtausends lernen die Menschen, wie man Bronze aus Kupfer und Zinn herstellt, und damit endet die schöne Steinzeit.
Viel werden Sie von all dem nicht mitbekommen. Vielleicht leben in England ein paar hunderttausend Menschen, also hundertmal weniger als heute. Falls Sie wirklich jemanden treffen, halten Sie sich nicht zu lange auf – Sie haben schließlich keine Zeit, eine fremde Sprache zu lernen, sich an die fremden Speisen zu gewöhnen und fremde Krankheiten auszukurieren. Suchen Sie sich stattdessen einen friedlichen Platz in der Nähe der Lichtung, auf der Stonehenge entsteht. Betrachten Sie die Pflanzen, die Vögel, die Insekten. Beobachten Sie die Geschehnisse aus der Ferne.
Die Ruine von Stonehenge können Sie natürlich bequem in der Gegenwart bewundern. Aber Stonehenge sieht nicht immer so aus. Es handelt sich eher um ein Projekt als um ein Bauwerk. Der Ort liegt heute wie damals auf einer unbewaldeten Ebene, eine Gegend, die schon weit vor Stonehenge von Menschen aufgesucht und besiedelt wird. Vor fünftausend Jahren finden sich hier bereits menschengemachte Strukturen: Siedlungen, Felder, Gräber. In den folgenden fünfhundert Jahren entstehen die frühen Versionen von Stonehenge. Zunächst sind es Gräben, Wälle und Löcher, dann werden hölzerne Pfähle eingesetzt. Um das Jahr 2600 vor unserer Zeitrechnung, vielleicht aber auch später, kommen die ersten Steine hinzu. Immer mehr gewaltige Felsbrocken werden herangeschafft,
verarbeitet, eingesetzt, umsortiert. Gleichzeitig entstehen immer mehr Strukturen um das Zentrum herum. Etwa im Jahr 1700 vor unserer Zeit wird zum letzten Mal etwas verändert, bald darauf endet die Aktivität. Der Bau von Stonehenge ist eine langsame Evolution. Millionen von Arbeitsstunden werden investiert, die meisten davon in den späteren Phasen. Über tausend Jahre hinweg wird der Ort immer tiefer in die Geschichte gemeißelt (ohne Meißel, mit Werkzeugen aus Stein und Holz).
Ziemlich sicher können Sie Monumente betrachten, die heute nicht mehr existieren. Außerdem werden Sie womöglich erfahren, wofür Stonehenge verwendet wird. Vielleicht erleben Sie Begräbnisse oder langwierige Prozessionen. Vielleicht treffen Sie die Steinzeitversion von Pilgern oder die Steinzeitversion von Astronomen oder beides. Vielleicht ist während Ihres Besuchs niemand dort. Unbestritten ist dagegen, dass die Sonnenwende eine Rolle spielt. Manche Strukturen zeigen in Richtung des Sonnenaufgangs am längsten Tag des Jahres oder, wenn man sich umdreht, in Richtung des Sonnenuntergangs am kürzesten Tag des Jahres. Zufall kann das kaum sein. Um diese beiden Tage herum ist daher mit verstärkter Aktivität zu rechnen. Viele Fachleute glauben heute, dass Stonehenge viel mit der Wintersonnenwende zu tun hat und wenig mit der Sommersonnenwende. Vielleicht ist die Gegend im Sommer leer. Wenn Sie den Ort dagegen Ende Dezember aufsuchen, bestehen größere Chancen zu erleben, wie er ursprünglich benutzt wurde. Dafür ist das Wetter nicht gerade zum Zelten geeignet. Packen Sie Gummistiefel, regendichte Kleidung und eine warme Mütze ein.