Die DDR , das vergessene Land
Man muss nicht in die ferne Vergangenheit reisen, um fremde, bizarre Welten zu entdecken. Ein Beispiel: die sogenannte Deutsche Demokratische Republik, ein Land, das es seit 1990 nicht mehr gibt. Zeitreisen in die DDR sind beliebt, weil sie so unkompliziert sind. Sie können einigermaßen problemlos mit den Einheimischen kommunizieren. Sie können sich darauf verlassen, dass es Straßen, Eisenbahnen, Supermärkte gibt, oder jedenfalls etwas ganz Ähnliches. Und doch sind Sie an einem völlig fremden Ort.
Zwischen 1949 und 1990 gibt es zwei Staaten, die sich «deutsch» nennen. Einer davon verschluckt im Jahr 1990 den anderen. Dieser verschluckte Staat, die DDR , ist in vieler Hinsicht genau so, wie man sich Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorstellt: schlechte Luft, Autos, die wie Schachteln aussehen, schlechte Straßen, überhaupt gar kein Handyempfang, schlechte Eiswaffeln, kein Farbfernsehen, und alle tragen dieselben Hosen. Insofern ist die DDR auch nur ein beliebiges Land in der Vergangenheit.
In anderer Hinsicht wirkt die DDR wie ein Land aus der Zukunft. Seit den 1960er Jahren werden dort Glas, Papier, Metall gesammelt und wiederverwertet. Die meisten Frauen sind berufstätig, überhaupt gibt es fast niemanden ohne Arbeitsstelle. Obdachlosigkeit existiert praktisch nicht. Alle Kinder gehen in die Krippe und in den Kindergarten, kostenfrei. Lebensmittel, Wohnraum, Bücher, öffentliche Verkehrsmittel sind spottbillig. Jeder ist krankenversichert, jeder hat Anspruch auf Rente. Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte sind für alle kostenlos. Aus der Sicht des oberflächlichen Betrachters, und Touristen sind natürlich immer oberflächliche Betrachter, wirkt die DDR wie eine utopische Science-Fiction-Vision, ein sozialistischer Zukunftstraum.
Diese Errungenschaften haben zum Teil praktische Gründe. Die DDR verfügt über ein seltsames Sortiment aus Rohstoffen. Braunkohle und Uran gibt es in begeisternden Mengen, andere Bodenschätze sind dagegen knapp. Daher versucht man sich frühzeitig am Recycling. Wenn Frauen nicht zu Hause bleiben, hat man doppelt so viele Arbeitskräfte. Umfängliche Kinderbetreuung hat für den Staat den Vorteil, dass er weite Teile der Kindererziehung übernehmen kann, ohne dass die Eltern «ja, aber» sagen.
Drei Dinge werden Ihnen sofort auffallen. Zum Ersten der Geruch: Die Luft riecht seltsam verbrannt. Die DDR erzeugt den Großteil ihrer Energie mit der schon erwähnten heimischen Braunkohle, die zum Beispiel in den Kachelöfen der Wohnungen verbrannt wird. Die Zweitaktmotoren, die in den gebräuchlichen Autos wie Trabant und Wartburg eingebaut sind, verbrennen ein Gemisch aus Benzin und Öl. Beides erzeugt Gerüche, die wir heute nicht mehr gewohnt sind. Zum Zweiten fehlen dem Land die grellen Farben: Die Häuser sind meist grau, die Bausubstanz schlecht, und nur manchmal wird die Steinwüste durch rote Transparente oder Flaggen verschönert. Zum Dritten ist die Provinz dominiert von riesigen landwirtschaftlichen Nutzflächen, die von «Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften» («LPG s») bewirtschaftet werden. Das Land wirkt deutlich weniger zergliedert, als Sie das vielleicht gewohnt sind.
Hier einige Sehenswürdigkeiten in der DDR :
Paraden und Demonstrationen
Zu wichtigen staatlichen Feiertagen, etwa am 1. Mai (Tag der Arbeit) und am 7. Oktober (Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution), empfiehlt es sich, in einer beliebigen Stadt die Feierlichkeiten aufzusuchen. Sie werden Menschen sehen, die in Sonntagskleidung mit Spruchbändern und Plakaten durch die Straßen ziehen, manchmal sogar mit Fackeln. Im Unterschied zu öffentlichen Kundgebungen, wie wir sie heute kennen, wird hier nicht gegen, sondern für den Staat demonstriert. Vorsicht: Die Sicherheitsvorkehrungen am Rande der Demos sind vermutlich höher als normal. Aber es sollte kein Problem sein, für eine Weile in der Menge unterzutauchen.
SERO -Sammlungen
Die schon erwähnte Sammlung von Sekundärrohstoffen, in der DDR -Sprache «SERO » genannt, geschieht in privat geführten Sammelstellen, die definitiv einen Besuch wert sind. Sie sehen aus wie Recycling-Zentren, aber die Kundschaft bekommt Geld fürs Abliefern von Zeitungen, leeren Flaschen, Dosen, Schrott und gebrauchter Kleidung. Man legt sein altes Zeug auf eine Waage und kriegt pro Kilogramm etwa 50 Pfennig (Textilien), 30 Pfennig (gebündelte Zeitungen), 20 Pfennig (Bücher). Zum Vergleich: In der DDR der 1980er Jahre bekommt man für 5 Pfennig ein Brötchen, für 15 Pfennig eine Kugel Eis, für 20 Pfennig eine Fahrkarte für die Berliner U- oder S-Bahn, für 50 Pfennig ein ganzes Mischbrot und für eine Mark (= 100 Pfennig) eine Bratwurst. An manchen Tagen veranstalten die örtlichen Jugendorganisationen großangelegte Aktionen, bei denen Kinder mit Handwagen von Haus zu Haus ziehen, um Zeitungsstapel und Altglas einzusammeln. Dies sind spektakuläre Ereignisse, die Sie sich nicht entgehen lassen sollten. Außerdem bieten Ihnen die SERO -Sammelstellen eine Möglichkeit, unkompliziert und ohne Verdacht zu erzeugen einen kleinen Vorrat an DDR -Währung anzulegen.
Schlangen vor Läden
An bestimmten Tagen bilden sich vor den Geschäften der DDR lange Schlangen, was immer bedeutet, dass irgendein Produkt verkauft wird, das es sonst nicht gibt. Die Grundversorgung ist in der DDR meistens gewährleistet, dagegen sind viele exotische Dinge praktisch nie oder äußerst selten zu bekommen – ein bisschen wie in Großbritannien nach dem Brexit. Heiß begehrt sind Lebensmittel, die aus dem Ausland kommen, etwa Bananen, Kaffee, Orangen. Pro Person wird nur eine bestimmte Menge des begehrten Stoffes ausgegeben. Manchmal bilden sich Schlangen nur, weil das Gerücht umgeht, dass es Bananen geben könnte, nicht, weil wirklich welche im Laden sind. Manchmal kommt man vorne an, und die Bananen sind alle. Manchmal stellt man sich an, ohne zu wissen, was es vorne gibt. Sie haben hier eine einzigartige Gelegenheit, an einem alltäglichen Vorgang in der DDR teilzuhaben. Achtung: Was auch immer es nach dem Anstehen zu kaufen gibt, es wird nicht billig sein (Beispiel: ein Kilo Bananen für fünf Mark; dafür muss man vorher 25 Kilogramm Bücher als SERO verkaufen). Das Mitanstehen in einer Lebensmittelladenschlange ist leider schwer zu planen. Man hat größere Chancen, eine Schlange zu finden, wenn man sich außerhalb Berlins aufhält. In der DDR -Hauptstadt ist die Versorgungslage deutlich besser und Schlangen sind daher seltener.
Abenteuer auf realsozialistischen Straßen
Die Machart der Straßen in der DDR reicht von historisch wertvollem Kopfsteinpflaster über Asphalt bis hin zu riesigen Betonplatten. Schlaglöcher, die geradezu abgrundtief erscheinen, sind nicht selten. Oft ändert sich der Straßenbelag alle paar Meter, und gleichzeitig ändern sich auch die Geräusche und die Vibrationen für den, der auf den Straßen unterwegs ist. Wer Gelegenheit hat, mit Bus oder Auto durch die DDR zu fahren, wird sich selbst davon überzeugen können. Fahren Sie eine Weile durch die Gegend. Allein das Durchgeschütteltwerden auf dem Kopfsteinpflaster ist die Reise wert. Besteht die Straße aus Beton, gibt es alle paar Meter eine Ritze, in die das Fahrzeug spürbar hinein- und dann wieder herausfällt. Wer ein Gebiss oder eine Brille trägt, sollte diese eventuell vorher ablegen.
Die DDR ist, bei allem Fortschritt, ein Land voller Zwänge und Engpässe. Man kann nicht alles kaufen, man darf nicht alles sagen, schreiben oder singen, und man kann nicht überall hinreisen. Das werden Sie an vielen Stellen bemerken. Zur Aufrechterhaltung dieser Zwänge setzt der Staat auf Indoktrination einerseits und Überwachung andererseits. Für Sie als Zeitreisende ist Indoktrination kein Thema, im Gegenteil: Öffentliche Aushänge, Schulhofgesänge, Zeitungstitelseiten, die alle daran erinnern, was sie zu denken haben, können im Urlaub unterhaltsam und informativ sein. In totalitären Diktaturen sagen einem die Machthaber angenehm deutlich, was ihr Volk von ihnen halten soll. Anderswo muss man dafür lange recherchieren.
Überwachung dagegen könnte für Sie zum Problem werden. Dafür zuständig ist in der DDR das sogenannte Ministerium für Staatssicherheit, auch «Stasi» genannt. Zunächst die gute Nachricht: Es gibt hier keine handlichen kleinen Kameras, die an allen Ecken hängen. Kreditkarten werden selten verwendet. Geldautomaten gibt es vor 1987 gar nicht und danach nur in großen Städten. Im Internet können Sie auch keine Spuren hinterlassen, weil es – zumindest in der DDR  – noch nicht existiert. Digitale Überwachung geht daher kaum. Die schlechte Nachricht: Statt auf Technologie setzt die Stasi auf sogenannte Informelle Mitarbeiter, Personen, die im Auftrag des Staates herausfinden, was so im Land vor sich geht. Mit anderen Worten: Menschen, die in ihrer Freizeit als Spione tätig sind.
Praktisch jede Person, der Sie begegnen, könnte ein Informeller Mitarbeiter sein. Gerüchteweise ist jeder fünfte oder siebte DDR -Bürger im Dienste der Stasi tätig. Diese Zahl mag übertrieben sein, was zum Konzept Überwachung ausdrücklich dazugehört. Der Staat will den Eindruck erwecken, jeder sei ein Spion. Man soll denken, dass immer jemand im Raum ist, der Informationen an die Stasi weiterleitet. Man soll den Verdacht hegen, dass die Stasi immer mithört. Nach dem Untergang der DDR werden hundertsiebzigtausend Informelle Mitarbeiter identifiziert, was ungefähr jedem hundertsten DDR -Bürger entspricht.
Egal, wie viele es wirklich sind: Irgendwann werden Sie mit jemandem zu tun haben, der pflichtbewusst die Anwesenheit von Fremden meldet. Das können zum Beispiel Personen sein, die beruflich viel beobachten, mitkriegen und überhören. Busfahrerinnen, Krankenhauspersonal, Verkäufer, Schaffnerinnen, leider genau die Art Leute, mit denen Sie auf Reisen am häufigsten zu tun haben. Unbemerkt irgendwo zu übernachten gestaltet sich ebenfalls schwierig. Hotels und Herbergen verlangen nach einem Ausweis, und sie behalten die Informationen, die Sie bei der Anmeldung preisgeben, leider nicht für sich. Kommen Sie privat unter, müssen Sie sich vorschriftsmäßig zügig bei einer Behörde oder einem Hauswart melden.
Wenn Sie nur ein Wochenende oder wenige Tage in der DDR verbringen möchten, dann werden Sie von der Überwachung vermutlich nicht viel mitbekommen. Sollten Sie vorhaben, länger in der DDR zu verweilen, raten wir zu Vorsicht. Vielleicht werden Sie nicht selbst in Schwierigkeiten geraten, stattdessen aber die Einheimischen, die Sie beherbergen oder Ihnen helfen. Halten Sie sich am besten nicht in großen Wohnhäusern auf, in denen der Hauswart meist zuverlässig dafür sorgt, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Bleiben Sie nicht länger als ein paar Nächte im selben Ort. Freunden Sie sich nicht leichtfertig mit Menschen an.
Welcher Art die Schwierigkeiten sind, in die Sie oder Ihre Gastgeber geraten können, lässt sich nicht leicht prognostizieren. Die Stasi verwendet interessante Strategien, um mit schwierigen Mitbürgern umzugehen. Es gibt durchaus auch Fälle, in denen Staatsfeinde gefoltert, vor Gericht gestellt und anschließend in dunkle Kerker geworfen werden. Speziell in den Anfangsjahren der DDR sind solche altmodischen Methoden verbreitet. Bevorzugt werden aber andere, subtilere Wege der Bestrafung, die die Stasi als «Zersetzung» bezeichnet.
Zersetzung kann viele Formen annehmen. Man möchte ein Auto kaufen, und es dauert nicht zehn Jahre, wie normal, sondern dreißig. Man bekommt keinen Telefonanschluss. Die Kinder kriegen keinen Platz an der Universität. Darüber hinaus werden Gerüchte über den «Feind» gestreut, sein Ruf ruiniert, sein soziales Umfeld zerstört. Aggressivere Mittel der Zersetzung sind anonyme Anrufe oder Briefe, vorgetäuschte oder tatsächliche Überwachung, heimliches Eindringen in die Wohnung, um, sagen wir, die Möbel umzustellen – Methoden, die alle darauf abzielen, die Selbstwahrnehmung des Feindes zu zersetzen und ihn in den Wahnsinn zu treiben. Nichts von dem muss zwangsläufig passieren, aber es ist zumindest möglich. Manchmal dichtet die Stasi einem vermeintlichen Feind sogar an, er sei selbst Teil der Stasi, zum Beispiel durch Gewährung von Privilegien, um so Misstrauen in der Familie oder im Freundeskreis zu stiften. Glauben Sie also nicht alles, was Sie über die Stasi und ihre vermeintlichen Mitarbeiter zu hören kriegen.
Wenn Sie sich länger mit der DDR beschäftigen, fragen Sie sich vielleicht, ob es möglich ist, den Menschen im Land ein wenig zur Seite zu stehen. Man sollte jedoch nicht mit dem Gedanken spielen, das Regime zu stürzen oder auch nur zu unterwandern. Was auch immer Sie vorhaben, es hat ziemlich sicher schon jemand ausprobiert, der sich mit der Lage besser auskannte. Zudem sind die meisten DDR -Bürger durchaus nicht unzufrieden mit ihrer Situation. Es handelt sich, wie eingangs erwähnt, in vielerlei Hinsicht um einen vorbildlichen Staat. Für die Mehrheit der Einheimischen ist das Leben in der DDR weitgehend sorgenfrei. Dass es nicht alles zu kaufen gibt, hat auch Vorteile: Der Zusammenhalt ist wichtiger. Man tauscht und handelt. Man hilft einander.
Aber es gibt natürlich auch Leute, die nicht glücklich sind mit ihrem seltsamen Staat. DDR -Bürgern ist es nicht gestattet, ohne Genehmigung das Land in Richtung Westen zu verlassen. Und Westen schließt hier Norden und Teile des Südens mit ein. Richtung Osten ist es zeitweilig auch nicht so einfach. Um die Zahl der Flüchtlinge niedrig zu halten, baut der Staat umfangreiche Grenzanlagen auf, zum Beispiel die 1961 entstandene Berliner Mauer. Sie umschließt die westlichen zwei Drittel der Stadt Berlin vollständig. Die Grenze zu Westdeutschland und Westberlin wird gründlich gesichert, mit Hilfe von bewaffneten Grenztruppen, Wachtürmen, Stacheldrahtzäunen, Gräben, Flutlicht, Wachhunden, Landminen, Selbstschussanlagen. Die Zone unmittelbar vor der Grenze heißt aus gutem Grund «Todesstreifen». An der DDR -Grenze sterben fast tausend Menschen, die letzten im Frühjahr 1989.
Die Mauer selbst ist eine populäre Touristenattraktion für Zeitreisende. Die meisten sehen sie sich jedoch von der Westseite aus an. Die Berliner S-Bahn fährt auf verschiedenen Linien dicht an der Mauer entlang, manchmal mitten auf dem Grenzstreifen. Fahren Sie zum Beispiel die Strecke von Gesundbrunnen nach Frohnau im Westen. Ein Teil des Bahnhofs Friedrichstraße ist ans U- und S-Bahn-Netz im Westen angeschlossen; hier können Sie umsteigen, ohne die Grenze zu überschreiten. Wenn Sie schon in der DDR sind, fahren Sie mit der S-Bahn von der Schönhauser Allee nach Pankow, durch die Ulbrichtkurve, benannt nach dem DDR -Staatschef, der den Bau der Mauer anordnete. An Stellen wie der Ulbrichtkurve können Sie sich gefahrlos einen Eindruck von der Todeszone verschaffen.
Wenn Sie Leuten helfen möchten, die aus irgendeinem Grund das Land verlassen wollen und deren Fluchtversuch in den Westen scheitern wird, so müssen Sie sich detailliert mit ihren Plänen befassen. Hier ein Beispiel aus den letzten Monaten der DDR . In der Nacht vom 7. auf den 8. März 1989 versucht das Ehepaar Freudenberg aus der DDR zu fliehen, mit Hilfe eines selbstgebauten Gasballons. Am Abend bringen die beiden den Ballon in die Nähe der S-Bahn-Station Blankenburg im Nordosten Berlins. Sie beginnen damit, ihn mit Gas zu befüllen. Später in der Nacht bemerkt ein Passant, ein Kellner auf dem Heimweg, den mittlerweile erheblich geschwollenen Ballon, der immerhin dreizehn Meter hoch ist. Er ruft die Polizei, die kurz darauf eintrifft. Der Ballon enthält noch nicht genug Gas, um zwei Personen zu tragen. Überstürzt ändert das Ehepaar den Plan. Winfried Freudenberg steigt allein in den Ballon. In der Eile geht einiges schief. Der Ballon steigt zu hoch, und am Morgen des 8. März stürzt er in Zehlendorf im Westen Berlins ab. Winfried Freudenberg ist sofort tot. Seine Frau bleibt in der DDR zurück und wird wegen versuchter Republikflucht verhaftet.
Sie können natürlich versuchen, das Ehepaar Freudenberg (oder andere Maueropfer der späten achtziger Jahre) davon zu überzeugen, dass die DDR nur noch kurze Zeit überdauern wird. Sie sollten sich aber genau überlegen, wie Sie das anstellen wollen. «Hallo, ich komme aus der Zukunft» ist kein guter Gesprächseinstieg und führt selten zu konstruktiven Ergebnissen (siehe auch Ratgeberteil). Sie könnten als Beweis eine Kopie einer Tageszeitung aus dem Herbst 1989 mitbringen. Aber wer würde so einem Machwerk Glauben schenken? Noch am 19. Januar 1989 behauptet Erich Honecker, der alternde Staatschef, dass die Mauer noch hundert Jahre stehen wird.
Die Geschichte der Freudenbergs eröffnet jedoch einen einfachen Ausweg. Die Flucht wäre vermutlich geglückt, wenn die beiden noch ein wenig mehr Zeit gehabt hätten, um ihren Ballon vollends zu befüllen. Ihr Ziel muss es also sein, den Passanten, der zufällig in der Nähe war, abzulenken. In ein Gespräch verwickeln, nach dem Weg fragen, Irrsinn vortäuschen oder hilflos tun und auf die Barmherzigkeit des Mannes hoffen, alles mögliche Optionen. Es gilt lediglich, ein wenig Zeit zu gewinnen und damit den großen Ballon in ein unsichtbares Objekt zu verwandeln.
Die Fluchtversuche der späten DDR sind gut dokumentiert. Man hat daher die Möglichkeit, sich für einen bestimmten Fall ein genaues Bild des Vorgangs zu machen. Sie können im Voraus herausfinden, an welchen Schrauben der Geschichte Sie ein wenig drehen müssen, um die jeweilige Person vor dem Tod oder einer unschönen Zukunft zu bewahren – zumindest in der Version der Zeit, in der Sie gerade unterwegs sind (siehe Kapitel «Eine kurze Geschichte der Zeitreise»). Sie machen die Maueropfer damit nicht ungeschehen, aber die Welt für einzelne Menschen ein wenig besser.