Konzerte ohne Klingeltöne
Die Suche nach Authentizität treibt so manche Zeitreisenden an. «Alles schon dagewesen», «Früher war es besser», «Heute wird das doch gar nicht mehr richtig gemacht» – weitverbreitete Gedanken unter Menschen, die älter als dreißig sind (mehr dazu im Kapitel «Für immer dableiben»). Die Zeitmaschine kann helfen. Wenn die Gegenwart nur schlechte Kopien, nur Nachgemachtes enthält, dann muss umgekehrt das Wahre, Echte und Ursprüngliche irgendwo in der Vergangenheit zu finden sein.
Musik ist ein gutes Beispiel. Musikalische Aufführungen sind Momentaufnahmen. Nie wieder wird ein gespielter Klang genau so und nicht anders entstehen. Selbst wenn man ein Geräusch später originalgetreu reproduziert, wird man es nie wieder so hören wie beim ersten Mal. Erst seit Ende des 19. Jahrhunderts gibt es Tondokumente. Der von Thomas Edison erfundene Phonograph spielt Geräusche ab, die auf Walzen geprägt sind. Grauenvoll knisternde Geräusche. Die ersten mechanischen Klaviere der Firma M. Welte&Söhne werden durch Lochmuster in Papierrollen gesteuert. Sobald sich Musik speichern und wiederabspielen lässt, kann man der Nachwelt einigermaßen klar mitteilen, wie man sich das beim Komponieren gedacht hat. Vorher jedoch gibt es maximal Noten, Kommentare und vielleicht Erinnerungen von Leuten, die zufällig dabei waren. Als Musikerin und Musiker hat man viele Möglichkeiten, Komponisten misszuverstehen.
Diverse Musikschaffende der schallplattenlosen Zeiten unternehmen verzweifelte Versuche, mit der Nachwelt zu kommunizieren. Wie schnell soll man spielen? Wie laut? Wie strikt muss man sich an die Noten halten? Darf man die Notenlängen variieren? Das Tempo verändern? Ist es erlaubt, den Ton schwingen zu lassen? Johann Joachim Quantz, Querflötist, Komponist und Flötenlehrer von Friedrich dem Großen, schreibt im Jahr 1752 eine umfassende Anleitung, wie die Musik aus seiner Zeit zu spielen sei. Die Tempofrage klärt er mit Hilfe eines natürlichen Taktgebers, den alle in ihrer Brust mit sich herumtragen: «Man nehme den Pulsschlag, wie er nach der Mittagsmahlzeit bis Abends, und zwar bey einem lustigen und aufgeräumten, doch dabey etwas hitzigen und flüchtigen Menschen, oder, wenn es so zu reden erlaubet ist, bey einem Menschen von cholerisch-sanguinischem Temperamente geht, zum Grunde: so wird man den rechten getroffen haben. Man setze denjenigen Puls, welcher in einer Minute ohngefähr achtzigmal schlägt, zur Richtschnur. Achtzig Pulsschläge, im geschwindesten Tempo des gemeinen geraden Tacts, machen vierzig Tacte aus.» Wie schnell das eigene Herz schlägt, kann man vorher an der Kirchturmuhr überprüfen. Quantz ist sich bewusst, dass es sich nicht um hochpräzise Instruktionen handelt. «Einige wenige Pulsschläge mehr, oder weniger, machen hierbey keinen Unterschied», so der Flötenmeister. Sie werden selbst nachsehen müssen, was Mitte des 18. Jahrhunderts als cholerisch-sanguinisches Temperament gilt, um Quantz vollends zu verstehen.
Nur wenige Jahrzehnte später bietet die Feinmechanik eine Lösung für gestresste Komponisten: Im Jahr 1815 patentiert der Ingenieur und Erfinder Johann Nepomuk Mälzel das Metronom. Dabei handelt es sich um ein Gerät, mit dem man das Tempo von Musikstücken präzise bestimmen kann. Musizierende werden dabei unterstützt, ein gewähltes Tempo exakt einzuhalten. Das mechanische Metronom ist technisch gesehen ein Pendel, das hin- und herschwingt und mit Hilfe einer Feder in Gang gehalten wird. Damit das Pendel durch die Reibungsverluste nicht langsamer wird, muss die Feder wie eine alte Uhr gelegentlich aufgezogen werden. Die Frequenz einer Pendelbewegung wird durch das Pendelgesetz bestimmt. Sie berechnet sich aus der Länge des Pendels, der Masse am Ende des Pendels und der Schwerebeschleunigung der Erde. Indem man ein Gewicht am Schwungarm des Metronoms nach oben oder unten schiebt, beschleunigt oder verlangsamt man die Pendelbewegung und damit das Tempo der Musik. Beim Komponieren kann man mit Hilfe des Metronoms genau messen, wie schnell ein Stück gespielt werden soll. Diese Information, eine Zahl, hinterlässt man der Nachwelt.
Mälzel ist durch das Metronom berühmt geworden, obwohl Dietrich Nikolaus Winkel es vor ihm erfunden hat. Mälzel erfindet dafür andere Geräte, die weit weniger langweilig sind als das stupide klackernde Pendel. Diese großartigen Geräte wiederum kennt heute niemand mehr: Spieluhren, Sprechmaschinen, mechanische Trompeter, diverse automatisierte Zirkusattraktionen, zum Beispiel Seiltänzer und Zauberer. Außerdem bühnenfüllende animierte Dioramen des Großbrandes von Moskau im Jahr 1812, der drei Viertel der Häuser zerstört, kurz nachdem Napoleon die Stadt erreicht. Viel ist von Mälzels obskuren Herrlichkeiten nicht erhalten. Wir empfehlen dringend den Besuch der öffentlichen Vorführungen in der Vergangenheit. In den letzten zwölf Jahren vor seinem Tod 1838 finden Sie Mälzels Attraktionen am leichtesten in Philadelphia, an der Ostküste der Vereinigten Staaten, wo er gegen Ende seines Lebens wohnt.
Zurück zum Metronom. Bevor Mälzel nach Amerika geht, freundet er sich mit Ludwig van Beethoven an und konstruiert für ihn Hörhilfen, künstliche Schalltrichter. In der Folge wird Beethoven ein Anhänger des Metronoms. Er hinterlässt damit Hinweise, wie schnell seine Musik zu spielen sei, unter anderem für die neun Sinfonien und viele Streichquartette. Tempo ist wichtig für Beethoven und das Metronom ein Weg, den Musikern eindeutig mitzuteilen, was er sich vorstellt. Endlich haben die schwammigen Tempoangaben ein Ende.
Aber das scheinbar so objektive Pendel des Metronoms räumt nicht alle Missverständnisse aus. Zum einen muss man bei der Interpretation natürlich ein Metronom verwenden, das dieselben Tempi produziert wie das von, in diesem Fall, Beethoven. Das heißt dieselbe Bauart, dieselbe Schwungmasse, richtig aufgezogen. Beethovens Metronom existiert noch, aber die Schwungmasse fehlt, was es unmöglich macht nachzuprüfen, wie schnell es schlägt. Man muss sich auch auf demselben Himmelskörper befinden wie Beethoven. Auf dem Mond oder in einer Raumstation ist die Schwerebeschleunigung ganz anders, die Metronomzahlen damit hinfällig. Dieser Hinweis ist vor allem relevant, falls Sie irdische Musiktempi mit denen von Außerirdischen vergleichen möchten.
Um Beethovens Metronomangaben wird seit zweihundert Jahren hart gefeilscht. Sie scheinen zu schnell, so schnell, dass die Stücke beinahe unspielbar sind, oder zumindest unanhörbar. Ähnliches gilt für Musik von Beethovens Zeitgenossen, die Metronomangaben hinterlassen haben. Lange werden die klassischen Metronomwerte deshalb gänzlich ignoriert. Man spielt die Stücke langsamer, irgendwie, damit es geht, mit der Begründung: «Das kann er nicht so gemeint haben!» Hat er es so gemeint oder nicht? Finden Sie es selbst heraus. Reisen Sie in das Wien des frühen 19. Jahrhunderts und besuchen Sie ein Beethoven-Konzert, zum Beispiel die Uraufführung der neunten Sinfonie am 7. Mai 1824 im Kärntnertortheater, drei Jahre vor Beethovens Tod. Achten Sie darauf, wie lange die einzelnen Sätze dauern. Heutige Sinfonieorchester spielen den ersten Satz Allegro ma non troppo meist in einer Viertelstunde, das Finale in etwa fünfundzwanzig Minuten. Vielleicht geht es im Original deutlich schneller und Sie kommen früher nach Hause.
Im 20. Jahrhundert denkt man sich so einige Erklärungen für Beethovens wahnsinnige Metronomangaben aus. Das Metronom klackt bei jedem Hin- und Herschwingen des Pendels zweimal, einmal an jedem Ende der Schwingung. Anstelle des Klackens könnte man auch das Hin- und Herschwingen des Pendels zählen. Vielleicht meint Beethoven also nicht «80», wenn er «80» hinschreibt, sondern nur die Hälfte? Oder aber man behauptet, Beethovens Metronom sei irgendwie kaputt gewesen. Oder man erklärt, Beethoven habe mit seinen Metronomangaben nur Spaß gemacht. Die Musiker und Musikerinnen von damals hätten das natürlich sofort verstanden, nur wir sind zu blöd dafür.
Denn das richtige Tempo muss man beim Musizieren fühlen, hierin sind sich die Fachleute aus verschiedenen Jahrhunderten einmal einig, mit Hilfe einer speziellen Sensibilität. Da hilft kein Metronom, kein Pulsschlag, kein Presslufthammer. Ähnliches gilt für die Lautstärke oder andere stilistische Ausprägungen. Diese Sensibilität für die richtige Spielweise ist kein magisches Serum, das durch die Adern der Künstler fließt, sondern durch jahrelanges Hören und Spielen antrainiert. Für Musiker der Barockzeit ist die Anweisung Allegro assai eindeutig. Mehr noch, sie wissen, wie man ein Stück Musik aus ihrer Zeit spielt, das nicht mit umfangreichen Kommentaren versehen ist. Sie haben die Noten vor sich und legen los. Umgekehrt hätten sie vermutlich keinerlei Ahnung, wie man, sagen wir, «Get Back» von den Beatles spielen würde. (Obwohl es sicher interessant wäre, das auszuprobieren. Man besorge sich die Noten und lege sie einem aufgeschlossenen Kammerorchester des 17. Jahrhunderts vor – die erste authentische Barockinterpretation der Beatles.)
Wie soll man jemals so fühlen können wie die Zeitgenossen des 17. oder 18. Jahrhunderts? Muss man bei Kerzenlicht auf harten Stühlen sitzen, sich einparfümieren, staubige Perücken aufsetzen, Instrumente spielen, die völlig ohne Plastik auskommen? Muss man alles vergessen, was einem die Gegenwart beigebracht hat, die Termine, die allgegenwärtigen Uhren, die Autobahnen, den unablässigen Strom von Neuigkeiten? Jahrhunderte völlig anderer Musik, die das eigene Musikempfinden beeinflusst haben? Wie hört sich Telemann an, wenn seine Musik ungefähr das ist, was wir heute Popmusik nennen, und nicht irgendetwas Altes, Ehrwürdiges?
Wie fühlt man, wenn man nichts weiß über die Bausteine der Materie, die Weiten des Universums, wenn man noch nie eine Mikrowelle benutzt hat, wenn schon Protestantismus als Gotteslästerung gilt? Wie viel von unserem Empfinden ist universal und zeitlos? Wir sind Kinder unserer Zeit, die meisten jedenfalls, geprägt von den Rhythmen, den Vorlieben, den Ereignissen unserer Epoche. Die Gegenwart ist ein gnadenloser Diktator. Es erfordert große Energie, sich ihr zu widersetzen. Wer Musik im Original hören will, muss der eigenen Zeit entkommen und tief in die Vergangenheit eintauchen.
Eine gute Gelegenheit, sich Barockmusik im Original anzuhören, sind Aufführungen im Rahmen von Gottesdiensten. Der Eintritt ist frei, alle werden hineingelassen, und es ist einfach, in der Menge unterzutauchen. Johann Sebastian Bach hat hunderte Kantaten für Gottesdienste komponiert. Die meisten stammen aus seiner Zeit als Thomaskantor in Leipzig, angefangen im Jahr 1723. Teil dieses Jobs war die Aufführung einer Kantate an jedem Sonn- und Feiertag. Man begebe sich also in die Leipziger Thomaskirche und benehme sich unauffällig.
Hunderte Kantaten sind im Laufe der Zeit verloren gegangen. Sie können also nicht erwarten, dass Sie in einem beliebigen Gottesdienst eine Kantate hören werden, die Ihnen aus der Gegenwart bekannt ist. Sie können auch nicht im Internet nachsehen, was gerade gespielt wird. Kantaten sind mehrstimmige Vokalstücke, begleitet von einer Instrumentalgruppe. Ob die Kantaten in Bachs Zeit von einem kleinen Chor oder von Solisten gesungen werden, ist umstritten, ebenso die genaue Besetzung des Orchesters. Bitte notieren Sie sich Details und reichen Sie Ihre Notizen nach Ihrer Rückkehr an Experten weiter.
Abgesehen von Kantaten schreibt Bach vermutlich fünf umfangreiche Passionsmusiken für die Thomaskirche. Nur zwei davon sind vollständig erhalten, die anderen können Sie sich nur in der Vergangenheit anhören. Bei Passionsmusiken geht es um die Kreuzigung Jesu, sie werden daher gemeinhin um Ostern herum aufgeführt. Die berühmte Matthäuspassion ist am 11. April 1727 zum ersten Mal zu hören.
Mit ziemlicher Sicherheit werden Sie von diesen historischen Aufführungen überrascht sein, selbst wenn Sie die gespielten Stücke schon in- und auswendig kennen. Die Musik wird sich nicht so anhören, wie man es von digitalen Aufnahmen des 21. Jahrhunderts kennt. Vielleicht ist die Spielweise ganz anders, vielleicht sind alle Vermutungen über die historische Aufführungspraxis falsch. Ganz sicher ist der Klang für Publikum aus der Gegenwart ungewohnt, für die Leute in der Vergangenheit jedoch ganz normal. Es gibt weder Mikrofone noch Lautsprecher. Das Ensemble hat wahrscheinlich nur wenig geübt. Wenn jede Woche eine brandneue Kantate auf den Notenpulten liegt, bleibt dafür keine Zeit. Die handgeschriebenen Notenblätter sind voller Fehler. Die feinen Verästelungen und Verzierungen der Musik sind nicht sorgsam einstudiert, sondern im Moment ausgedacht. Und letztlich bringen Zeitreisende immer noch ihre Vorurteile und Hörgewohnheiten aus der Gegenwart mit. Sie werden die Musik nicht so hören wie die Menschen der Barockzeit, vielleicht nicht einmal, wenn Sie Jahre dort verbringen. Die Suche nach Authentizität ist eben kein Wochenendvergnügen.
Auch ohne Bachkantaten lohnt sich der Besuch der Thomaskirche für Zeitreisende, wenn es Ihnen um Authentizität geht. Martin Luther predigt hier zu Pfingsten 1539. Der barocke Altar, aufgestellt im Jahr 1721, wird 1943 im Bombenhagel zerstört, detailliertes Bildmaterial ist Mangelware. Die Orgeln aus Bachs Zeiten wurden mittlerweile alle ersetzt. Niemand weiß so genau, wie die alten geklungen haben. Die Glocken dagegen sind noch dieselben. Wer sich in der Gegenwart anhört, wie sie klingen, wird es in der Vergangenheit leichter haben, die Kirche zu finden. Außerdem steht die Thomaskirche an derselben Stelle wie heute, im Zentrum von Leipzig – nur gab es damals deutlich weniger Bachdenkmäler in der Umgebung.
Bei Musik, die eher durch Nachahmung als durch Niederschrift weitergegeben wird, bieten sich Enthusiasten ganz andere Möglichkeiten für Forschungsreisen. Über Gebrauchsmusik, die von Generation zu Generation weitergereicht wird, wissen wir viel zu wenig. Für die meisten Epochen der Geschichte haben wir keine Ahnung von der Musik, die im Alltag von normalen Menschen gespielt wird. Hier können Zeitreisende völlig neue Musikstile, Instrumente und Klänge entdecken. Fahren Sie in eine Zeit, die mehr als ein paar hundert Jahre zurückliegt, irgendeine Zeit, und hören Sie sich die Musik an, die auf Märkten, an Lagerfeuern, in Gasthöfen oder auf Festen gespielt wird. Bonus: Zeichnen Sie ein paar Lieder auf. Fotografieren Sie die Instrumente. Besser noch: Lernen Sie selbst, die längst vergessenen Instrumente vergangener Kulturen zu spielen.