Kleine und große Weltuntergänge
In diesem Kapitel geht es um Reisen zu Naturkatastrophen, die in der Vergangenheit liegen. Historischen Katastrophentourismus wird es immer geben, so wie es auch immer Leute geben wird, die sich in der Gegenwart nicht von Tschernobyl-Besichtigungen und Vulkanwanderungen abhalten lassen. Deshalb haben wir uns entschieden, diesen Aspekt des Zeitreisetourismus nicht zu unterschlagen. Wir möchten niemanden dazu ermuntern, Interessierten aber auch keine Ratschläge vorenthalten. Bedenken Sie allerdings, dass die meisten Versicherungen (z.B. Risikolebens-, Unfall-, Zeitreise- und Berufsunfähigkeitsversicherung) Probleme, die sich aus derartigen Unternehmungen ergeben, in der Regel vom Schutz ausschließen.
Meteoriten
Eines der spektakulärsten Reiseziele ist sicherlich der Chicxulub-Einschlag vor ungefähr sechsundsechzig Millionen Jahren auf der heute zu Mexiko gehörenden Halbinsel Yucatán. Ein großer Felsbrocken fällt vom Himmel, eigentlich eher ein ganzer Berg. Nach heutigem Wissensstand sterben aus diesem Anlass ungefähr drei Viertel aller damals lebenden Tierarten aus, das sogenannte Massensterben an der Kreide-Paläogen-Grenze. Als Zeitreiseziel ist diese Katastrophe nicht unproblematisch, und das fängt bereits mit der Angabe «vor ungefähr sechsundsechzig Millionen Jahren» an. Der Einschlag ist bisher nur
auf plus/minus zweiunddreißigtausend Jahre genau datiert, der richtige Termin lässt sich also nur durch Versuch und Irrtum ermitteln. Zum Erscheinungszeitpunkt dieses Buchs ist das noch nicht geschehen. Das Ereignis findet womöglich an einem Herbsttag statt, so glaubt zumindest der Paläontologe Robert DePalma nach Untersuchung der Pflanzen- und Tierüberreste in Sedimentschichten, die an diesem Tag abgelagert wurden.
Tasten Sie sich langsam an den Termin heran, und zwar rückwärts. Anhand der sichtbaren Folgen (keine Saurier, abgebrannte Wälder, großes Loch in Mexiko, eventuell weltweite Dunkelheit) erkennen Sie leichter, wann Sie sich dem Einschlagszeitpunkt nähern. In der Zeit vor dem Einschlag hingegen wissen Sie nicht, ob Sie eine Woche oder tausend Jahre zu früh dran sind. Zur falschen Zeit anzukommen ist lediglich lästig. Problematischer wäre es, fast genau zur richtigen Zeit anzukommen, denn vor allem die ersten Stunden nach dem Einschlag sind weltweit äußerst ungemütlich. Aber davon gleich mehr.
Gehen wir zunächst davon aus, dass Sie mit Hilfe anderer Zeitreisender den Termin bereits so weit eingegrenzt haben, dass Sie kurz vor der Katastrophe ihren Beobachterposten einnehmen können. Das Klima stellt kein grundsätzliches Problem dar. Die Luft ist atembar. Erscheinen Sie aber nicht viel zu früh, denn über die Jagdgewohnheiten der Fleischfresser in der Kreidezeit ist noch viel zu wenig bekannt (mehr dazu im Kapitel «Im Reich der Dinosaurier»).
Der große Felsbrocken, auf dessen Einschlag Sie warten, hat einen Durchmesser von mindestens zehn Kilometern, und er wird einen Krater von hundertfünfzig Kilometern
Durchmesser hinterlassen. Der Verlauf des Kraterrandes ist zwar gut erforscht, aber stellen Sie sich besser nicht direkt dort auf. Ein Sicherheitsabstand ist geboten. Im Abstand von etwa tausend Kilometern sterben Sie sofort oder innerhalb weniger Sekunden durch die Hitzeentwicklung. Bei so einem Einschlag wird sehr viel Energie freigesetzt, und Hitze ist eben die erste Idee, auf die die Natur kommt, wenn sie Energie loswerden will. Wenn bis zu dreihundert Meter hohe Flutwellen die umliegenden Küsten verwüsten, sind Sie also bereits zu Asche zerfallen. Tausendfünfhundert Kilometer genügen auch nicht, denn in dieser Entfernung kommt kurze Zeit später eine Druckwelle vorbei, die Sie ebenfalls nicht überleben werden. Wenige Minuten darauf fallen die Steinbrocken vom Himmel, die aus dem Krater in die Luft geschleudert wurden. Etwa fünftausend Kilometer scheint das Minimum an Sicherheitsabstand zu sein, den Sie einhalten sollten. Das entgegengesetzte Ende der Welt, also Indien, ist übrigens kein besonders sicherer, sondern ein besonders riskanter Standort. Materie aus dem Krater wird so hoch in die Atmosphäre geschleudert, dass sich gegenüber vom Einschlagsort der Schutt aus allen Richtungen sammelt. Bringen Sie sich lieber irgendwo am östlichen Rand von Europa in Position.
«Da sieht man doch gar nichts», werden Sie vielleicht einwenden. Von Ihrem Beobachtungsposten aus können Sie aber immerhin Erdbeben der Stärke zehn bis elf miterleben. Das ist mindestens das Zehnfache aller seit der Einführung der Richterskala aufgezeichneten Erdbeben. Meiden Sie die Nachbarschaft von Bäumen oder Felsen, die Ihnen dabei auf den Kopf fallen könnten.
Wenn Sie bis hierhin überlebt haben, kommt noch ein letztes Problem auf Sie zu. Die schon erwähnte Hitze muss irgendwohin. In den Stunden nach dem Einschlag strahlt der Himmel auf der ganzen Welt so intensiv wie ein Salamander – nicht das angenehm kühle Tier, sondern das Gerät, das in der Gastronomie zum Überbacken von Speisen verwendet wird. Es nützt nichts, sich zur Beobachtung in die Nähe von Nord- oder Südpol zurückzuziehen, denn wir befinden uns gerade in einer Warmzeit. Die Arktis existiert noch nicht, und die Antarktis ist ein ganz normaler, unvereister Kontinent. Die Luft bleibt atembar, die Lufttemperatur steigt nur um etwa zehn Grad. Das Problem ist die Infrarotstrahlung, vor der man sich aber leicht schützen kann: Es genügt eine zehn Zentimeter dicke Erdschicht. Das ist möglicherweise der Grund, warum einige Tierarten, die im Wasser oder in Höhlen leben, die Katastrophe überlebt haben. Wenn Sie etwas früher ankommen, können Sie sich eine Höhle graben oder eine Mulde mit Ästen und Erde bedecken, das reicht. Achten Sie beim Bau auf Erdbebensicherheit. Meiden Sie Gegenden, in denen die Gefahr von Waldbränden droht.
Das mag abschreckend und unbequem klingen, aber theoretisch könnten Sie Ihren Urlaub durchaus überleben. Einigen Tierarten ist das jedenfalls gelungen – wenn auch keinen Säugetieren, die schwerer als fünfundzwanzig Kilogramm sind. Es ist aber immerhin möglich, dass einige größere Arten erst im Laufe der nächsten Monate, Jahre oder Jahrhunderte aussterben und das eigentliche Ereignis auch für Säugetiere von Menschengröße nicht unbedingt tödlich war. Details können Sie dann vor Ort herausfinden.
Der Wert als Partygesprächsthema ist hoch, das Risiko ist es aber auch. Wenn Ihnen Sicherheit wichtig ist, sollten Sie den Einschlag lieber von einer Raumstation aus betrachten (siehe Kapitel «Die Reise zum Anfang des Universums»). Allerdings verteilen sich durch den Aufprall ungefähr siebzig Millionen Tonnen Gestein in einem überraschend weiten Umkreis auf die umliegenden Himmelskörper. Sicherheitsbewusste sollten eine Umlaufbahn um einen anderen Planeten wählen. In einem anderen Sonnensystem.
Vulkanausbrüche
Vielleicht möchten Sie lieber ein Video mit einer Simulation des Chicxulub-Einschlags aus nächster Nähe betrachten und im Urlaub eine weniger große Katastrophe besichtigen. Zum Beispiel einen Vulkanausbruch. Hier ist eine Zeitreise-Besichtigung sogar sicherer als eine in der Gegenwart, denn zumindest bei den Ausbrüchen der jüngeren Vergangenheit steht fest, wann man sich wo besser nicht aufhalten sollte.
Das Problem mit Vulkanausbrüchen ist allerdings, dass sie entweder schlecht datiert sind oder viele Menschenleben fordern. Der Tambora-Ausbruch auf der indonesischen Insel Sumbawa ist das größte Vulkanspektakel, dessen Datum genau feststeht: Die Serie von Ausbrüchen beginnt am 5. April 1815 und erreicht ihren Höhepunkt am 10. April ab sieben Uhr abends. Anders als beim Chicxulub-Einschlag stehen Sie hier vor einem ethischen Problem. Was für Sie ein Urlaubserlebnis sein mag, kostet um
die hunderttausend Menschen das Leben. Sie können den Ausbruch nicht verhindern und nicht einmal nennenswert helfen. Das ist beim Ausbruch des Krakatau im Jahr 1883 anders, weil dort die meisten Menschen durch einen Tsunami sterben. In so einem Fall könnten Sie wenigstens Küstenbewohner alarmieren und sie vielleicht dazu bewegen, höheres Gelände aufzusuchen. Beim Tambora funktioniert das nicht. Große Teile der Bevölkerung von Sumbawa und der Nachbarinsel Lombok sterben erst Wochen und Monate nach dem Ausbruch an Hunger und Durst. Sich solche Ereignisse als Urlaubsziel zu wählen, ist kaum weniger zynisch als die Besichtigung von Schlachten und Hinrichtungen (siehe «Die Schattenseiten des Krieges»).
Wenn es Ihnen allerdings gelänge, mehr über den Vulkanausbruch auf der griechischen Insel Santorin herauszufinden, würden Sie damit einigen Menschen in der Gegenwart eine große Freude machen. Diese sogenannte Minoische Eruption findet irgendwann zwischen 1600 und 1525 vor unserer Zeitrechnung statt und ist für die archäologische Forschung von größter Bedeutung: Anhand der Ablagerungen von Vulkanasche im östlichen Mittelmeerraum lassen sich Fundstücke aus ganz verschiedenen Regionen in einen zeitlichen Zusammenhang bringen. Wenn man genauer wüsste, wann dieser Vulkan ausbricht, wären dadurch auf einen Schlag zahlreiche Datierungsprobleme gelöst. Vielleicht ist die Frage zu dem Zeitpunkt, an dem Sie dieses Buch lesen, bereits beantwortet. Wenn das der Fall ist, sollten Sie lieber zum Nutzen anderer Zeitreisender einen Vulkanausbruch in einer möglichst menschenleeren Zeit oder Gegend genau datieren und so als ethisch unbedenkliches Reiseziel erschließen. Mehr
zu Vulkanen als Touristenattraktion erfahren Sie in den Kapiteln «Ein unvergessliches Wochenende» und «Durchs wilde Pleistozän».
Wasser
In der Gegenwart gehören malerische kleine Wasserfälle wie die Niagarafälle oder der venezolanische Salto Ángel zu den beliebtesten touristischen Reisezielen. Schon weil die Vergangenheit sehr lang ist und den Dingen damit ausreichend Zeit zum Passieren verschafft, gibt es dort von fast allen Naturereignissen eine größere und imposantere Version zu besichtigen. Wer relativ risikolos ein kühles Wasserspektakel verfolgen möchte statt unangenehm warmer Ereignisse wie Vulkanausbrüche, braucht sich nur 5,33 Millionen Jahre in die Vergangenheit zu begeben. Dort kann man mit etwas Glück dabei zusehen, wie sich der Atlantik durch die Straße von Gibraltar ins Mittelmeer ergießt, das zu dieser Zeit noch kein Meer ist, sondern ein drei bis fünf Kilometer tiefer gelegenes Tal.
Genau genommen brauchen Sie sehr viel Glück, denn der richtige Reisetermin ist zum Erscheinungszeitpunkt dieses Buchs noch nicht besonders genau bekannt. Wenn Sie zu früh ankommen, erkennen Sie das daran, dass das Mittelmeer nur ein paar kleine, salzige Pfützen bildet, ähnlich wie das Tote Meer in der Gegenwart. Im Rest der Welt liegt der Wasserspiegel um etwa zwölf Meter höher als heute. Reisen Sie nicht gleich enttäuscht wieder ab, auch diese Zeit bietet schöne Sehenswürdigkeiten. So sind zum Beispiel Europa und Afrika um Sizilien herum durch eine
breite Landbrücke miteinander verbunden. Spektakulär dürften auch die tiefen Canyons sein, die sich der Nil und die Rhône an ihren Mündungen gegraben haben. Berücksichtigen Sie bei solchen Ausflügen alle Vorsichtsmaßnahmen, die in der Gegenwart für den Grand Canyon gelten. Vor allem das Mitnehmen großer Mengen Trinkwasser ist wichtig, denn genau wie im Grand Canyon ist es unten heißer und trockener, als man beim Aufbruch ahnt.
Wenn Sie es schaffen, zur richtigen Zeit anzukommen, kann es immer noch sein, dass Sie kein Wasserspektakel vorfinden. Es ist umstritten, ob das Mittelmeerbecken sehr zügig oder doch eher im Laufe von zehntausend Jahren vollläuft. Letzteres wäre aus touristischer Sicht ein eher unspektakulärer Vorgang.
Falls der Wasserdurchbruch tatsächlich sehr schnell vonstattengeht, haben Sie immer noch ein paar Monate Zeit, ihn sich anzusehen. Stellen Sie Ihren Liegestuhl am besten an einem Aussichtspunkt nahe der heutigen Meerenge von Gibraltar auf. Von dort aus können Sie mitverfolgen, wie eine riesige Wassermenge auf mehreren Kilometern Breite aus dem Atlantik in die Tiefe strömt. Das Wasser bildet dabei keinen senkrechten Wasserfall, sondern fließt einen Hang hinab, was das Geschehen aber kaum weniger spektakulär macht. Falls Sie von unten zusehen, müssen Sie Ihre Liegestuhlposition häufig nachjustieren und sollten nicht in Strandnähe übernachten: Der Wasserspiegel steigt auf dem Höhepunkt der Flut pro Tag um mehr als zehn Meter.
Wenn Sie nach der Besichtigung zu dem Schluss kommen, dass Ihnen die Landschaft vorher besser gefallen hat, brauchen Sie nur ein wenig Geduld (und einen
Reiseführer, der auch die Zukunft abdeckt). Seit dem Einlassen der Badewanne ist die Straße von Gibraltar wieder flacher geworden. In zwei bis drei Millionen Jahren wird sie sich voraussichtlich schließen. Danach dauert es nur noch etwa tausend Jahre, bis das Mittelmeer wieder ganz verdunstet.