Für immer dableiben
In Michael Crichtons Roman «Timeline» entscheidet sich der Geschichtsprofessor André Marek während einer Zeitreise ins mittelalterliche Frankreich, nicht mit seinen Kollegen in die Gegenwart zurückzukehren. Ohne von der Existenz von Zeitmaschinen zu wissen, hat er sich sein Leben lang auf so eine Situation vorbereitet. Er spricht Mittelenglisch, Altfranzösisch, Latein und Okzitanisch, weiß alles über mittelalterliche Kleider und Gebräuche und hat Bogenschießen, Schwertkampf und Lanzenstechen trainiert. Menschen wie André Marek gibt es außerhalb von Zeitreiseromanen eher selten.
Für die meisten ist die Vergangenheit nicht mehr als eine exotische Urlaubsgegend. Ähnlich wie bei einer Urlaubsreise in der Gegenwart sagen sie zwar: «Schön hier», verspüren aber nicht den Wunsch, sich dauerhaft in der bereisten Zeit niederzulassen. Das ist überraschend, denn die Klagen über die Welt der Gegenwart sind zahlreich. Die Natur ist nicht mehr so schön wie früher, alles ist voll mit gefährlichen und ungesunden Substanzen, die Politik ein einziger Kindergarten, die Reichen sind zu reich, die Armen zu arm, die Welt zu kompliziert, die Jugend hat absonderliche Vorlieben, und alles ändert sich viel zu schnell. Früher war vielleicht nicht alles besser, aber die Menschen redeten immerhin noch miteinander, bewegten sich mehr und glaubten an etwas, die Architektur war dem Auge wohlgefällig und der CO
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-Fußabdruck vorbildlich klein.
Weltweit glaubt mehr als ein Drittel aller Menschen,
dass es vor fünfzig Jahren besser war als heute. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage des Pew Research Center im Jahr 2017. Die Begeisterung für die 1960er Jahre hängt allerdings stark davon ab, wo die Befragten wohnen. Sie ist am größten in Mittel- und Südamerika sowie in Afrika und am geringsten in Ostasien und Europa. Je besser es der Wirtschaft im eigenen Land gerade geht, umso größer ist der Anteil der Menschen, die die Gegenwart bevorzugen.
Wenn man sich die Umfrageergebnisse genauer ansieht, dann merkt man allerdings schnell, dass es bei dieser Sehnsucht oft nicht um die Vergangenheit geht, sondern um die Jugend. Nur ein paar Prozent der Befragten sind der Meinung, man habe vor 1900 oder sogar vor 1700 besser gelebt als heute. Wenn Sie also den Gedanken hegen, in die Vergangenheit umzusiedeln, sollten Sie sich vorher fragen, was Sie konkret zurückhaben möchten: Die eigene Jugend kommt auch durch Zeitreisen nicht wieder (mehr dazu im Kapitel «Neun Mythen über Zeitreisen»).
Insgesamt scheint es eine beträchtliche Anzahl von Menschen zu geben, die sich in die Vergangenheit zurücksehnen, die meisten unter ihnen in eine Vergangenheit, die sie aus eigener Anschauung kennen. Und doch siedeln nur wenige tatsächlich in die Vergangenheit über. Vielleicht handelt es sich beim Lob der Vergangenheit eher um eine Art soziales Ritual als um eine echte Überzeugung. Vielleicht lassen sich die meisten von den praktischen Aspekten des Umzugs abschrecken. Anders als bei einer Emigration im Raum ist man bei einer Emigration in eine andere Zeit für alle Freunde und Verwandten in der Gegenwart so gründlich verschollen, als wäre man tot.
Aber eine kleine Minderheit interessiert sich eben doch konkret dafür, in die Vergangenheit überzusiedeln. Wenn Sie zu dieser Minderheit gehören, dann ist dieses Kapitel für Sie.
Bei einem Umzug im Raum würden Sie vorher zu klären versuchen, ob die Vorteile etwa eines Lebens als Schafzüchterin in Neuseeland die Nachteile überwiegen. Das ist bei einem Umzug in der Zeit nicht anders, nur dass das Spektrum der Möglichkeiten noch etwas umfangreicher ist, der Rechercheaufwand daher größer. Eine perfekte Vergangenheit ohne Nachteile existiert nicht. Sie können nicht all das haben, was die Gegenwart an Erfreulichem bietet, und dazu noch die Vorzüge der Vergangenheit. Übersiedlungswillige müssen sich überlegen, worauf sie zu verzichten bereit sind.
Diese Abwägung sieht bei jedem Menschen anders aus. Wenn Sie Ihr Leben ohne Bedrohung durch Atombomben verbringen möchten, nehmen Sie in Kauf, dass es im dafür in Frage kommenden Zeitraum auch keine Antibiotika gibt. (Rechnet man Sulfonamide mit, die Vorläufer des Penicillins, dann ergibt sich ein kurzes Zeitfenster von etwa fünfzehn Jahren mit Antibiotika und ohne Atombomben. Für einen dauerhaften Aufenthalt reicht das nicht aus.) Manche Lebensmittel schmecken in der Vergangenheit besser, dafür werden Sie auf andere für immer verzichten müssen.
Eine Umsiedlung ist nach aktuellem Stand der Technik für immer, und das heißt, dass Sie sich in Notfällen nicht einfach in ein Gegenwartskrankenhaus begeben können. Denken Sie daher auch an die Zukunft, also Ihre Zukunft in der jeweiligen Vergangenheit: Wie wichtig ist Ihnen
Anästhesie beim Zahnarzt oder das Vorhandensein von Zahnmedizin überhaupt? Sind die Vorteile des Umzugs so groß, dass Sie dafür in Kauf nehmen, wegen relativ trivialer Probleme beim Gebären in Lebensgefahr zu geraten?
Noch in der Gegenwart gibt es in Afrika Regionen, in denen jede sechste Frau im Kindbett stirbt. Das dürfte in den meisten Zeiten ungefähr der Wahrscheinlichkeit entsprechen, mit der auch Sie rechnen müssen. Wenn Sie in den Wehen liegen und hören, wie jemand einen Kaiserschnitt vorschlägt, dann ist damit lediglich gemeint, dass Ihr Kind gerettet wird – in allen Zeiten und Gegenden vor dem Jahr 1500. Sie selbst werden die Operation nicht überleben. Noch im ausgehenden 19. Jahrhundert haben Sie beim Kaiserschnitt nur eine Überlebenschance von zwanzig Prozent. Bedenken Sie, dass Sie dieses Risiko aus Mangel an wirksamen Verhütungsmitteln möglicherweise öfter eingehen müssen als heute.
Ihre Kinder werden wahrscheinlich nicht unter Allergien leiden, oder jedenfalls weniger als in der Gegenwart. Die Gründe für die starke Zunahme von Allergien seit den 1970er Jahren sind derzeit noch umstritten. Einer Hypothese zufolge geht sie auf die hygienischeren Lebensverhältnisse zurück. Weil das Immunsystem von Kindern weniger mit der Abwehr von Infektionen beschäftigt ist, kommt es auf dumme Ideen. Falls das so wäre, hätte das niedrigere Allergierisiko der Vergangenheit einen hohen Preis, denn anstelle der Allergien ziehen Ihre Kinder sich eben Infektionen zu, und das ist in einer Zeit ohne Antibiotika ein Problem. Aber auch wenn sich diese Theorie eines Tages als falsch erweisen sollte, ändert sich dadurch nichts am Grundproblem: In der Vergangenheit werden
Sie mindestens einem, wahrscheinlich aber mehreren Ihrer Kinder dabei zusehen müssen, wie sie an Infektionskrankheiten sterben, die in der Gegenwart leicht behandelbar gewesen wären. Trauen Sie sich zu, in solchen Situationen weiter zu Ihrer Entscheidung zu stehen? Welche Berufschancen wünschen Sie sich für die verbleibenden Kinder? Sieht Ihr neuer Wohnort Bildung auch für Töchter vor? Falls das Kinderthema für Sie nicht relevant ist: Wie stellen Sie sich Ihre eigene Gesundheitsversorgung im Alter vor?
Auch die Frage, ob Sie ein Minimum an Rechtssicherheit erwarten können, muss vor dem Umzug geklärt werden. Als Zuwanderer ohne örtlichen Familienclan sind Sie stärker als andere auf Schutz durch Regeln angewiesen. Das gilt für praktisch alle Lebensbereiche: Beruf, Umgang mit anderen Menschen und nicht zuletzt bei Konflikten innerhalb der Familie. In vielen Zeiten und Regionen schlagen Männer ihre Frauen, Eltern ihre Kinder, Lehrer ihre Schüler, und all das ist völlig legal. Sagen Sie nicht leichtfertig: «Das geht mich nichts an, ich ziehe ja zusammen mit meinem sehr netten Partner in die Vergangenheit.» Gewalt- und Missbrauchsbeziehungen beginnen oft mit dem Glauben, so etwas könne nur den anderen passieren, und in vielen Vergangenheiten können Sie sich dann noch viel weniger auf Hilfe vom Staat verlassen als in der Gegenwart. Auch für den Fall, dass Sie sich eines Tages einfach nur friedlich trennen möchten, sollten Sie sich die Zeit und den Wohnort sorgfältig aussuchen.
Finden Sie rechtzeitig heraus, ob Sie als Frau Eigentum besitzen und weitervererben dürfen, ob Sie Geschäfte tätigen können oder sich grundsätzlich von einem Mann
vertreten lassen müssen und ob Ihre Aussage als Zeugin vor Gericht gilt. Rechtzeitig heißt hier: vor dem Umzug und nicht erst, wenn es Probleme gibt. Ein Blick ins Strafgesetz lohnt sich – in vielen Zeiten und Regionen finden sich dort insbesondere bei Vergehen rund um den Ehebruch härtere Strafen für Frauen als für Männer. Das kann bedeuten, dass Sie im Falle einer Vergewaltigung als mindestens mitschuldig, wenn nicht allein verantwortlich gelten.
Meiden Sie deshalb das antike Griechenland, das Römerreich insbesondere in seiner frühen Zeit, das byzantinische Reich, Russland bis zum Beginn der Sowjetunion (danach auch, aber aus anderen Gründen), China, Japan, Indien und das gesamte christliche Europa. Im alten Ägypten, in Sumer und Akkad lässt es sich eventuell auch als Frau aushalten. In Zivilisationen, die Herrscherinnen und weibliche Gottheiten kennen, ist die Situation tendenziell günstiger, aber verlassen Sie sich nicht darauf. Vom 7. bis zum 19. Jahrhundert können Sie sich als Frau in der islamischen Welt niederlassen. Nordeuropa vor der Einführung des Christentums (siehe Kapitel «Ein Paradies im Mittelalter») ist auch eine Option. Über Zeiten, die weiter als fünftausend Jahre zurückliegen, hört man in dieser Hinsicht ebenfalls Gutes. Es sieht so aus, als gehe es mit den Möglichkeiten für Frauen bergab, je mehr sich Gesellschaften auf Ackerbau, Viehzucht und das Leben in Städten verlegen. Weil dieser Übergang schon lange zurückliegt, ist die Quellenlage eher dünn. Sie werden die Details durch Besichtigungsreisen vor dem eigentlichen Umzug selbst herausfinden müssen.
Wenn Sie nicht durch und durch heterosexuell sind, lassen Sie sich besser nicht in Zeiten und Gegenden
nieder, in denen eine der abrahamitischen Religionen (Christentum, Islam, Judentum) vorherrscht. Nehmen Sie diese Reisewarnung ernst – in diesen Regionen greift man zeitweise zur Todesstrafe insbesondere für Männer, die Sex mit Männern haben. Andere Kulturen bieten bessere Optionen für alle, die mit der gegenwärtig geringen Auswahl an Geschlechterrollen, Identitäten und sexuellen Orientierungen unzufrieden sind. In vielen Gegenden außerhalb Europas – darunter weite Teile Nordamerikas bis zur europäischen Landnahme – existiert mindestens eine dritte Geschlechterrolle. Die Ausgestaltung dieser Rollen ist mal mehr, mal weniger attraktiv. Welche Freiheiten eine Kultur in dieser Hinsicht bietet und welche nicht, ist für manche jüngere Zeiten und Regionen gut dokumentiert, in den meisten lässt es sich jedoch nur vor Ort herausfinden.
Vielen Umzugswilligen geht es um eine weniger schmutzige Umwelt und ein daraus resultierendes gesünderes Leben. In einer passend ausgewählten Vergangenheit gibt es keine Mobilfunkmasten, keinen elektrischen Strom, keine Atomwaffen oder Kernkraftwerke und kein Plastik, aus dem Weichmacher in die Lebensmittel übergehen können. Einige giftige Chemikalien sind noch nicht erfunden.
Wenn Ihnen eine saubere Umwelt wichtig ist, sollten Sie eine Zeit vor der Sesshaftwerdung des Menschen (also vor etwa zwölftausend Jahren) wählen oder sich in einer weitgehend menschenleeren Landschaft niederlassen. Sauberes Trinkwasser ist zu allen Zeiten bestenfalls dann gewährleistet, wenn sich auf Ihrem eigenen Grundstück eine Quelle oder ein Brunnen befindet. Auch dort, wo das Wasser frei von Rückständen aus Bergbau, Färberei oder
Gerberei ist, kann es Krankheitserreger aus den Ausscheidungen von Menschen oder Tieren enthalten. Ab dem Mittelalter sind die Flüsse Europas mit Industrieabwässern verunreinigt. Am schlechtesten ist das Trinkwasser in Großstädten im 19. Jahrhundert. Die Lage bessert sich erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts langsam durch die Einrichtung von Kläranlagen. Verlassen Sie sich nicht auf die Auskünfte von Einheimischen – bis weit ins 19. Jahrhundert glauben auch Fachleute, dass sich unbedenkliches Trinkwasser am Geruch und Geschmack erkennen lässt.
Die Luftqualität ist windabwärts von Orten, die mit Kohle heizen, lausig, vor allem ab dem 18. Jahrhundert. Wenn Sie sich in dieser Zeit in Europa niederlassen wollen, achten Sie auf einen Wohnort am Westrand der Städte. Ein größeres Problem als die Luftverschmutzung von außen ist aber in vielen Haushalten die Luftverschmutzung von innen, nämlich dort, wo es zum Heizen und Kochen nur ein offenes Feuer und ein Loch im Dach gibt. Diese Konstruktion ist in Nordeuropa bis ins 12. Jahrhundert üblich und verschwindet danach nur langsam. In ländlichen Gegenden Afrikas und Indiens existiert das Kochfeuer noch in der Gegenwart. Das ständige Einatmen von Rauch führt zu chronischen Atemproblemen und Augeninfektionen und verkürzt die Lebenserwartung. Auch nach der Einführung des Kamins bleibt die Beheizung von Wohnräumen lange Zeit mangelhaft. Aus diesem Grund empfiehlt es sich, keine Reisen in Winterzeiten zu unternehmen. Als Umsiedlungswillige aber bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als sich mit den Heizungsproblemen der Vergangenheit zu befassen.
Ab dem 12. Jahrhundert fängt man an, den Kamin in die Wand einzubauen. Diese Konstruktion trägt leider wenig
zur Beheizung der Räume bei. Die großen senkrechten Schornsteine ziehen gut, aber es ist nur unmittelbar vor dem Feuer warm und ansonsten eisig, man schwitzt vorne und friert am Rücken. Reichtum nutzt hier kaum etwas. Liselotte von der Pfalz, die Schwägerin von König Ludwig XIV
., berichtet am 3. Februar 1695 in einem Brief aus Versailles, auf der königlichen Tafel seien Wasser und Wein in den Gläsern gefroren.
Im frühen 18. Jahrhundert werden in Europa endlich bessere Kamine gebaut. Arme Leute, die sich keinen Kamin leisten können, heizen in Paris noch bis ins 18. Jahrhundert mit glimmender Kohle in offenen Glutbecken, was zu Kohlenmonoxidvergiftungen führen kann. Wenn Sie es zu jeder Zeit gern warm haben, sollten Sie eine Ansiedlung in Korea erwägen, wo die Fußbodenheizung («Ondol») seit etwa siebentausend Jahren belegt ist. Im alten Rom kommt sie zwar auch zum Einsatz, aber vor allem in den öffentlichen Bädern. Im Norden Chinas gibt es seit neuntausend Jahren beheizte Schlafplattformen («Kang»), zunächst erwärmt durch ein Feuer auf der Schlafstelle, das später weggekehrt wird, und seit etwa zweitausend Jahren durch Beheizung des Betts von unten.
Oder Sie nehmen die Sache selbst in die Hand, denn eigentlich ist Ofen- und Kaminbau keine Raketenwissenschaft. Eignen Sie sich vor dem Umzug Grundkenntnisse an. Sie sollten sich allerdings nicht der Illusion hingeben, dass Sie Ihre neuen Nachbarn sofort von den Vorteilen Ihres Ofens überzeugen werden. Projekte zur Abschaffung der offenen Feuerstellen in armen Haushalten der Gegenwart scheitern oft daran, dass die alte Methode trotz ihrer Nachteile eine liebgewonnene Tradition darstellt und der
neue Ofen in der Anschaffung teurer ist oder mehr Wartung benötigt.
Das Essen in der Vergangenheit ist nicht, wie viele annehmen, grundsätzlich schadstofffrei. Schwefel wird schon im alten Mesopotamien gegen Insekten eingesetzt, ab dem 15. Jahrhundert kommen Arsen, Quecksilber und Blei hinzu. Die Luftverschmutzung durch die Industrie ist stellenweise ein größeres Problem für den Lebensmittelanbau als heute. Überall dort, wo die Felder mit den Ausscheidungen von Menschen oder Tieren gedüngt werden, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, sich mit Parasiten zu infizieren oder sich zumindest den Magen zu verderben. Insgesamt enthält das Essen weniger Rückstände von Düngemitteln, Herbiziden, Fungiziden und Pestiziden als heute. Das bedeutet nicht automatisch, dass es gesünder ist. Leider sind in vielen Vergangenheiten die Lebensmittel knapp, und man neigt daher dazu, lediglich sichtbaren Schimmelbefall abzuschneiden. Der Rest enthält krebserregende Toxine, die durch Kochen oder Braten nicht zerstört werden. Der Verzehr erhöht das Risiko, an Leber- oder Gallenblasenkrebs zu erkranken. Durch Schimmelbefall gefährdet sind genau wie in der Gegenwart vor allem schlecht gelagerte Lebensmittel. Wenn Sie versuchen, sich möglichst von frisch Geerntetem zu ernähren, betrifft Sie das Problem weniger – in Gegenden mit langem Winter ist das aber keine Option.
Wer an einer Erdnussallergie leidet, muss in der Vergangenheit viel weniger darauf achten, was kleingedruckt auf Lebensmittelverpackungen steht. Das liegt nicht nur daran, dass weder Lebensmittelverpackungen noch Kleingedrucktes existieren. In vielen Zeiten und Gegenden gibt
es noch nicht einmal Erdnüsse. In Südamerika muss man hingegen aufpassen, dort ist ihr Verzehr schon seit etwa achttausend Jahren belegt. Ab dem 15. Jahrhundert gelangt die Erdnuss im Zuge des Sklaven- und Kolonialhandels nach Afrika und Asien. In Europa und Nordamerika bleibt das Risiko, im Essen Spuren von Erdnüssen vorzufinden, aber noch bis in die 1930er Jahre gering.
Vielleicht wollen Sie auch einfach nur ein paar Jahre in die Vergangenheit zurückreisen, um dort die richtigen Aktien zu kaufen und dann im Prinzip genau wie heute weiterzuleben, nur reicher. Beliebt ist unter anderem die Idee, ins Jahr 2010 zurückzugehen und Bitcoin-Milliardärin zu werden. Bitcoin ist eine digitale Währung, die erst 2009 erfunden wird. Anfangs kostet eine Bitcoin-Einheit nur Centbeträge und kann mit geringem Aufwand selbst hergestellt werden. Innerhalb weniger Jahre steigt sie stärker im Wert als die beste Aktieninvestition. Dazu kommt, dass das Jahr 2010 nicht besonders gewöhnungsbedürftig ist, es gibt schon fast alles: Antibiotika, Anästhesie, Internet, sogar Smartphones. Man wird zwar zunächst ohne Minecraft und Pokémon Go leben müssen, Elektrofahrzeuge und Mobilfunktarife sind noch teuer, Netflix gibt es nur in den USA
und Zeitmaschinen noch nirgends. Aber das dauert alles nicht mehr lange, man kann es einfach abwarten.
Abwarten werden Sie es auch müssen, denn der Bitcoin-Plan funktioniert nur, wenn Sie für immer in dem Hosenbein der Zeit bleiben, in dem Sie die Bitcoins erworben haben. Sie können nicht einfach eine kurze Urlaubsreise unternehmen, hunderttausend Bitcoins zum Preis
einer neuen Hose kaufen und zurückkommen. Kryptowährungen sind zwar leicht und praktisch zu transportieren – zur Not geht das sogar im Kopf. Trotzdem eignen sie sich nicht als Zeitreisen-Zahlungsmittel. Sämtliche Bitcoin-Transaktionen sind als lückenlose Reihe auf einer Art endlosem Kassenzettel verzeichnet, der Blockchain. Die Blockchain unserer Gegenwart weiß nichts von Ihrem Kauf in einer anderen Vergangenheit. Der Block, in den Ihr Kauf eingetragen wurde, existiert in unserer Gegenwart nicht und lässt sich auch nicht nachträglich einfügen. Jede alternative Vergangenheit verfügt – wenn überhaupt – über eine alternative Blockchain, wodurch das Geld aus der Zukunft schlicht ungültig wird. Das gilt natürlich ebenso in der umgekehrten Richtung. Dieser Sachverhalt führt bei Zeitreisenden immer wieder zu Enttäuschung, wenn sich ihre in der Vergangenheit günstig erworbenen Bitcoins in der Gegenwart als wertlos erweisen.
Theoretisch könnten Sie in den Sommer 2013 reisen und im walisischen Newport vor dem Büro von James Howells warten, bis Howells’ alte Festplatte in den Müll wandert. Auf dieser Festplatte befinden sich 7500 Bitcoins. In unserem Strang der Zeit landet sie auf einer Mülldeponie, wo sie zum Erscheinungszeitpunkt des Buchs immer noch liegt. Anders als die Bitcoins, die Sie selbst in der parallelen Vergangenheit herstellen oder erwerben könnten, sind diese Bitcoins in der Blockchain unserer Gegenwart verzeichnet. Aber auf diese Idee sind schon viele gekommen, und man kann das Geld in der Gegenwart nur ein einziges Mal ausgeben. Denn Bitcoin-Besitz funktioniert so ähnlich wie eine Schatzkarte: Man ist im Besitz der Adresse, an der der Schatz liegt, aber er liegt dort eben nur so lange, bis
ihn jemand hebt. Alle, die danach diese Adresse aufsuchen, finden nur noch ein Loch.
Denken Sie noch einmal gründlich nach, bevor Sie einen Umzug planen, um durch Bitcoin, Aktienkauf oder andere schlaue Ideen reich zu werden. Abgesehen von allen zeitreisetheoretischen Problemen brauchen Sie dafür eine Identität und ein Bankkonto, und beides haben Sie nach einer Umsiedlung in die Vergangenheit erst einmal nicht. Sie sind eine Immigrantin ohne Papiere, mit allen Nachteilen, die das mit sich bringt. Außerdem existieren Sie in dieser Vergangenheit, in der Sie selbst bereits geboren sind, dauerhaft doppelt. Bedenken Sie, dass diese andere Person, die Sie selbst sind, nichts von Ihrer Zeitreise weiß, weil sie einige Jahre jünger ist. Halten Sie sich von sich selbst fern, um Verwirrung und mögliche Anklagen wegen Identitätsdiebstahl zu vermeiden. Um Familie und Freunde nicht zu verstören, sollten Sie nie wieder Kontakt zu irgendjemandem aufnehmen, den Sie kennen.
Ein Sonderfall des Für-immer-Dableibens sind Reisende, die von Zeitreisen versehentlich
nicht zurückkommen. Das kommt natürlich vor, genau wie Leute vom Trekking in Nepal, von Weltumsegelungen oder vom Senfholen nicht zurückkommen und spurlos verschwinden. Dieses Risiko hat noch selten jemanden davon abgehalten, eine Urlaubsreise anzutreten. Man kann sich an alles gewöhnen, sagt die Glücksforschung, und dasselbe sagen Menschen, die nach einem Unfall oder unfreiwilliger Emigration ein ganz anderes Leben führen müssen als vorher. Wählen Sie für Urlaubsreisen am besten keine Zeit und Gegend, bei der Sie sich nicht prinzipiell vorstellen könnten, dort zur Not den Rest Ihres Lebens zu verbringen.