Die Reise zum Anfang des Universums
Weltraumtourismus wird immer erschwinglicher und populärer. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis jemand auf die Idee kommt, eine Raumstation in eine Zeitmaschine oder eine Zeitmaschine in eine Raumstation zu stecken. Zeitreisen auf der Erde sind natürliche Grenzen gesetzt. Weiter als dreihundert Millionen Jahre können Sie kaum zurück, weil es vorher nicht genug Sauerstoff zum Atmen gibt. Zudem hat man auf der Erde – so viel sollte nach den vorangegangenen Kapiteln klar geworden sein – mit wechselnden klimatischen Bedingungen, mit unbekannten Krankheiten, unbekannten Tieren, mit Vulkanausbrüchen und Meteor-Einschlägen zu tun, alles Faktoren, die den Aufenthalt in der weit entfernten Vergangenheit erschweren. In der vollklimatisierten Raumstation mit stabiler Atmosphäre und sanfter Aufzugsmusik können Sie sich das alles ungestört von oben anschauen.
Große Felsbrocken, die auf der Erde einschlagen, sind für Weltraumtouristen ein kleineres Problem als auf dem Boden. Nehmen wir an, der Brocken hat einen Durchmesser von zehn Kilometern, ähnlich wie der Chicxulub-Asteroid: Auf der Erde genügt das, um für erhebliche Verwüstung zu sorgen (bitte im Kapitel «Kleine und große Weltuntergänge» nachlesen); die Wahrscheinlichkeit, dass der Brocken eine Station in der Erdumlaufbahn außerhalb der Atmosphäre trifft, ist dagegen immer noch minimal. Die Raumstation ist einfach ein viel kleineres Ziel als ein ganzer Planet. Die größeren Einschläge werden Steine zurück ins Weltall schleudern, aber die verteilen
sich auf ein großes Volumen und sind nicht riesig. Solche Ereignisse sind zudem äußerst selten. Menschgemachten Schrott im Weltraum gibt es überhaupt nur in den letzten Jahrzehnten, davor haben Sie also Ihre Ruhe.
Die wesentliche Herausforderung für den Weltraumzeittouristen ist eine ganz andere, nämlich Langeweile. Wer Weltraumtourismus schon kennt, den wird Weltraumzeittourismus nicht vom Hocker reißen. Und wer Weltraumtourismus nicht kennt, der wird ohnehin völlig außer sich sein, wenn er zum ersten Mal im All ist, dafür braucht man keine Zeitmaschine. Astronauten sind sich einig, dass die Erde von oben betrachtet wie ein lebendiges Wesen aussieht: rasende Wolkenformationen, türkisfarbene Wirbel aus Phytoplankton in den Ozeanen, eine strahlend helle Sonne vor schwarzem Hintergrund, vorbeisurrende Meteore und die wunderschönen Nord- und Südlichter, die wie Gespenster um die Pole wabern. All das können Sie sich in der Gegenwart anschauen. Von einem Tag auf den anderen ändert sich der Anblick nicht wesentlich. Nach ein paar Runden um die Erde haben Sie alles gesehen. Schwerelosigkeit kann einem auch schnell auf die Nerven gehen. Wenn Sie sich trotzdem entscheiden, die Reise in die Vergangenheit des Universums anzutreten, dann finden Sie im Folgenden einige nützliche Tipps, um nicht vor Langeweile zu sterben.
Vermeiden Sie Urlaube in Satelliten, die immer über derselben Stelle der Erde parken. Diese sogenannten geostationären Raumschiffe ziehen ihre Bahn fünfunddreißigtausend Kilometer über der Erdoberfläche. Besonders viel erkennt man aus dieser Höhe nicht. Deutlich aufregender ist die Reise mit Satelliten, die die Erde in
geringerem Abstand mehrfach am Tag umkreisen, so wie die «International Space Station» ISS
, die berühmte historische Raumstation. Von hier aus können Sie kilometergroße Strukturen und Lichter auf der Erde ohne Fernglas sehen. In der Gegenwart sind die Spuren der menschlichen Zivilisation unübersehbar, Städte, Autobahnen, Dämme, Brücken, Industriegebiete. Wolken ziehen über die Erde. Auf der Nachtseite leuchtet der Planet wie eine Fußgängerzone in der Vorweihnachtszeit.
Es gibt nur wenige historische Ereignisse, die Sie sich unbedingt aus dem Weltall ansehen sollten. Spezielle Reiseempfehlung: Am Vormittag des 30. Oktober 1961 detoniert über der russischen Inselgruppe Nowaja Semlja im Arktischen Ozean die «Zar-Bombe», die größte menschgemachte Nuklearexplosion aller Zeiten. Ein großartiges Spektakel und dabei vollkommen harmlos, jedenfalls wenn man sich in tausend Kilometer Entfernung und außerhalb der Atmosphäre aufhält. Der Feuerball ist zehn Kilometer groß, der Atompilz sogar hundert Kilometer im Durchmesser. Übersehen können Sie das aus dem All nicht.
Am 30. Juni 1908 explodiert über Sibirien ein großer Himmelskörper: das Tunguska-Ereignis. Nur wenige Menschen bekommen einen Eindruck von der gewaltigen Detonation. Die freigesetzte Energie ist vergleichbar oder etwas geringer als bei der Zar-Bombe. Vorsicht: In diesem Fall kommt die «Bombe» aus dem All. Wenn die Flugbahn des Brockens zum Zeitpunkt Ihrer Reise nicht genauer bekannt ist als zum Erscheinungszeitpunkt dieses Buchs, sollten Sie sicherheitshalber noch ein bisschen abwarten.
Wenn Sie nur fünfhundert Jahre zurückreisen, sieht die
Oberfläche des Planeten ganz anders aus als heute, nämlich langweiliger. Weiterhin ziehen Wolken über die Erde. Um Spuren der Menschheit zu erkennen, muss man jedoch sehr genau hinsehen. Die Pyramiden von Gizeh sind mit bloßem Auge sichtbar, vor allem, wenn die Sonne so steht, dass sie einen deutlichen Schatten in die Wüste werfen. Die kleineren Pyramiden in Lateinamerika bereiten schon Schwierigkeiten. In Europa können Sie ein paar Kirchen erkennen, zum Beispiel die alte St.-Pauls-Kathedrale in London oder die Kathedrale von Straßburg. Auch hier empfiehlt es sich, auf den Schattenwurf zu achten. Der Schatten kann deutlich länger sein als der Kirchturm, außerdem ist er in der Draufsicht besser zu erkennen. Die chinesische Mauer: kaum zu sehen, zu schmal. Die Hagia Sophia in Istanbul: unscheinbar und winzig. Nachts sehen Sie gar nichts, abgesehen vielleicht von Waldbränden. Außer natürlichen Großveranstaltungen wie Vulkanausbrüchen, Nordlichtern oder Sternschnuppen passiert nichts. Millionen von Jahre, absolut nichts. Wolken ziehen über die Erde. Es ist ein teurer und öder Urlaub. Aber alle sollen ihr Geld ausgeben, wie sie gern möchten.
Wenn Sie sich langsam in die Vergangenheit vorarbeiten, werden Sie zumindest immer wieder eine andere Erde sehen. Zehn Millionen Jahre zurück fällt allmählich auf, dass sich die Landmassen verschieben. Hundert Millionen Jahre in der Vergangenheit hat die Weltkarte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit der, die wir heute kennen. Alfred Wegener, der Entdecker der Kontinentaldrift, hätte für diesen Anblick vermutlich einiges gegeben (bitte nachlesen im Kapitel «Kleinere Reparaturen»). Als Zeitvertreib können Sie versuchen zu erraten, aus welchem Fetzen Land später
mal Europa wird, oder Australien. Viel mehr bleibt nicht zu tun. Immer noch gibt es viele Wolken zu betrachten.
Vor dreihundertachtzig Millionen Jahren erscheint zum ersten Mal so etwas wie Wald auf der Erde. Es handelt sich um die Pflanze Archaeopteris
, ein farnähnlicher Baum oder baumähnlicher Farn, jedenfalls etwas Großes und Grünes. Viele Flecken des Planeten, die vorher braun oder grau waren, werden grün. Ab und zu erwischen Sie die Erde in einer Eiszeit, mit ausgedehnten weißen Gletschern. Vielleicht die beeindruckendste Eiszeit ist eine, die vor siebenhundertzwanzig Millionen Jahren beginnt und knapp hundert Millionen Jahre dauert. Manche glauben, dass während dieser Marionischen Eiszeit die gesamte Erdoberfläche zugefroren war. Den ganzen Urlaub von oben auf eine eintönige bläulich schimmernde Eisfläche blicken – für manche vielleicht entspannend, für andere deprimierend. Weiterhin ziehen Wolken über die Erde.
Siebenhundert Millionen Jahre sind immer noch nur ein kleiner Teil der Geschichte unseres Planeten. Zur Erinnerung: Die Erde ist viereinhalb Milliarden Jahre alt. Die meisten davon sind aus der Ferne betrachtet völlig ereignislos, aber dafür wenigstens sicher und friedvoll. Relativ bewegt, aber dafür auch gefährlich, ist eine Periode von fünfzig Millionen Jahren, die etwa vor vier Milliarden Jahren beginnt. Das «Große Bombardement» ist der größte Meteorschauer aller Zeiten, eine Art natürlicher Krieg der Sterne. Asteroiden, Kleinplaneten, Kometen fliegen einem um die Ohren. Felsbrocken so groß wie Häuser, Städte, kleine Länder treffen Erde und Mond. Tausende Krater entstehen, manche so groß wie Deutschland. Der Mond glüht und staubt. Allerdings weiß man das alles nicht so
genau. Vielleicht war es auch ganz anders, die Einschläge verteilt über eine halbe Milliarde Jahre und die Zeit des Großen Bombardements so langweilig wie alles andere.
Einig ist man sich jedoch, dass es in den ersten hundert Millionen Jahren der Erdgeschichte wirklich turbulent zugeht. Das ist jetzt 4,5 bis 4,6 Milliarden Jahre her. Die Erde ist ein glühender Ball aus Magma, umgeben von einem Wirbel aus Steinen aller erdenklichen Größen. Irgendwann in dieser Frühphase entsteht der Mond, und zwar infolge einer Kollision zwischen dem Vorgänger der Erde und einem anderen Planeten, so groß wie Mars. Jedenfalls glauben das die meisten Zuständigen. Wenn man genau wüsste, wann dieses katastrophale Ereignis stattfindet, könnte man es konkret beim Zeitreisen vermeiden (oder zumindest die Raumstation vorher ein paar Millionen Kilometer entfernt parken). Aber leider ist das Datum nicht genau bekannt. Es liegt nicht in den ersten fünfzig Millionen Jahren nach der Entstehung der Sonne, so viel weiß man immerhin. Jedenfalls müssen Sie sich damit abfinden, eventuell mehr über die Entstehung des Mondes zu erfahren, als Sie je wissen wollten.
Wenn Sie noch näher an den Ursprung des Sonnensystems reisen, werden Sie ohne Mond auskommen müssen, außerdem sollten Sie sich warm anziehen. Man muss sich vorstellen, dass alles Material, das sich heute in der Erde befindet, irgendwann erst zur Erde zusammengebaut werden musste. Das meiste davon regnet auf die junge Baby-Erde herunter, innerhalb der ersten paar Millionen Jahre. Dieser Wachstumsprozess birgt für Zeitreisende zwei Probleme. Zum einen werden Sie vermutlich von einem der Felsbrocken zermalmt und fallen mit diesem Brocken
zurück auf die Erde. (Keine Sorge, Geologen in der weit entfernten Zukunft werden kaum davon Notiz nehmen, dass vor viereinhalb Milliarden Jahren ein paar unglückselige Urlaubsgäste im Magma der Früherde verkochten.) Es ist wohl nicht nötig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass man sich in der Frühphase des Sonnensystems nur dann in der Raumstation aufhalten soll, wenn man abenteuerlustig ist. Aber immerhin ist endlich was los.
Das zweite Problem: Je weiter Sie in die Vergangenheit zurückgehen, umso kleiner ist die Erde. Irgendwann ist sie gar nicht mehr da. Stattdessen sitzen Sie in einem Nebel aus Gas und Staub, einem Nebel in der Form einer Scheibe, die sich um die Sonne erstreckt. Im Vergleich zu Nebel auf der Erde ist dieser protoplanetare Nebel eine sehr dünne Suppe, mit einer Dichte von einem Millionstel Kilogramm pro Kubikmeter (zum Vergleich: Luft hat etwa 1,2 Kilogramm pro Kubikmeter). Allerdings gibt es sehr viel davon. Von der Raumstation inmitten der Scheibe sehen Sie die Sonne nicht mehr. Sie werden also auch nicht feststellen können, ob die Sonne überhaupt noch da ist. Die Sonne ist nur ein paar Millionen Jahre älter als die Erde, und wenn man sich nur ein bisschen verschätzt beim Zeitreisen, dann landet man in einer Ära ganz ohne Sonne.
Damit haben Sie beinahe den Höhepunkt der Langeweile erreicht. Wer ein wenig weiter zurückreist als viereinhalb Milliarden Jahre, landet im schwarzen Weltraum. Keine Erde, auf die man hinunterblicken kann, keine Sonne, die einen über die an der Raumstation angebrachten Solarzellen mit Energie versorgt. Ohne leistungsfähige Batterien kommt man nicht weiter. Die Raumstation schießt einfach so durchs All, auf einem sehr weiten Weg um das Zentrum
der Milchstraße. Zu sehen ist nichts außer Sternen. Zur groben Zeitplanung: Das Universum wird visuell in den fünf Milliarden Jahren vor der Entstehung des Sonnensystems immer gleich aussehen. Wenn Sie entsprechende Instrumente hätten, könnten Sie feststellen, dass sich die Chemie der Sterne allmählich verändert. Je mehr Zeit vergeht, umso mehr Sauerstoff und Kohlenstoff und Stickstoff wird in den Sternen produziert und ins All geblasen. Man wird eventuell bemerken, wie sich die großen Strukturen in der Milchstraße verändern, die Spiralarme, die Ströme von Sternen von einer Seite auf die andere, die Sternhaufen und Riesennebel. Aber dafür müssen Sie schon genau hinsehen. Davon abgesehen können Sie in aller Ruhe ein Buch lesen, von Anfang bis Ende, jedenfalls bis die Batterien der Raumstation alle sind und zuerst das Licht, dann der Sauerstoff ausgeht.
Aber es gibt nicht immer Sterne und Galaxien im Weltall. Die Milchstraße wird in den ersten paar Milliarden Jahren ihrer Existenz immer größer, und ihre Sterne versammeln sich immer mehr in einer Ebene. Wenn Sie mehr als zehn Milliarden Jahre zurückreisen, werden Sie die Heimatgalaxie nicht mehr als hellen Streifen am Himmel sehen, wenn Sie aus dem Fenster der Raumstation blicken. Stattdessen sind die Sterne gleichförmig über den ganzen Himmel verteilt, und es sind weniger als heute. Wer die Geburt der ersten Sterne miterleben möchte, muss sich mindestens dreizehn Milliarden Jahre in die Vergangenheit begeben. Noch weiter zurück, etwa vor 13,7 Milliarden Jahren, erreichen Sie eine Zeit ohne Sterne, der absolute Gipfel der Langeweile. Noch nie zuvor hat ein Mensch diese dunklen Jahre erblickt, sofern man von «erblicken» reden kann, denn zu
sehen gibt es nichts. Wenn Sie aus dem Fenster schauen und den gesamten Urlaub nur Schwarz sehen, werden Sie sich zurücksehnen in eine Zeit, in der es wenigstens Sterne gab. Oder Wolken! Ein Königreich für eine Wolke.
Der Urknall ist jetzt nur noch hundert Millionen Jahre entfernt, also gleich um die Ecke. Eine Million Jahre vom Urknall entfernt wird den Passagieren auffallen, dass der Himmel gar nicht mehr so schwarz ist, sondern Farbe angenommen hat, dunkelrot oder orange, je nachdem, wann man eintrifft. Wer über ein Thermometer draußen an der Raumstation verfügt, wird bemerken, dass die Temperatur des Weltalls ansteigt. Das Universum glüht. Noch ein wenig früher, etwa vierhunderttausend Jahre vom Urknall entfernt, und es wird unerträglich warm in der Kabine. Das Außenthermometer zeigt bei der Ankunft in der Vergangenheit mehrere tausend Grad. Die Hitzeschilde versagen. Alle Atome zerfallen im intensiven Strahlungsfeld des frühen Universums. Das Raumschiff löst sich auf und mit ihm die Zeitreisenden.