Teil II
Weltverbesserung: So einfach ist das
Neun Mythen über Zeitreisen
In der Vergangenheit werden eine Menge Schauermärchen über Zeitreisen erzählt. Manche davon beruhen auf ernsthaften wissenschaftlichen Ideen, die sich später als falsch herausstellen. Andere sind von Anfang an Quatsch und bleiben es auch. Hier haben wir neun der beliebtesten Mythen über Zeitreisen versammelt. Mehr über historische Irrwege lesen Sie im Kapitel «Eine kurze Geschichte der Zeitreise».
1. Zeitreisen kann man nur in Zeiten, in denen es schon Zeitmaschinen gibt.
Die Mutter aller Mythen und außerdem die Behauptung, die sich am längsten gehalten hat. Bis ins 21. Jahrhundert hinein dachten Physiker, dass es unmöglich sei, in eine Vergangenheit zu reisen, in der Zeitreisen noch nicht erfunden sind. David Deutsch, ein Physiker, der viel für das Zeitreisen getan hat, spekulierte immerhin darüber, dass man vielleicht die Zeitmaschinen verwenden kann, die von Außerirdischen in der Vergangenheit gebaut worden sind. Aber auch er bevorzugte eine Welt, in der Zeitreisen nicht beliebig oft und von jedem durchgeführt werden können.
In gewisser Weise haben diese Skeptiker recht behalten: Es gibt am Ende der Zeitreise keine eigens dafür eingerichteten Räume, in denen man ankommt, keine Maschine, die einen auffängt. Es gibt keinen Bahnhof oder Flughafen. Der Mythos beruht eher auf einem Missverständnis: Man war wirklich lange Zeit der Ansicht, dass man für jede Zeitreise eine Verknotung im Raum-Zeit-Kontinuum benötigt, die man vorher erst umständlich herstellen muss. Tatsächlich funktionierten die ersten Zeitmaschinen nur mit Hilfe solcher Knoten. Später fand man Wege in die Vergangenheit, die ohne vorher angelegte Zeitschleifen auskommen. Man kann sich das vorstellen wie einen Ball, den man von einer Seite des Fußballplatzes auf die andere Seite befördert. Der Ball hebt vom grünen Rasen ab, der unserem normalen Raum-Zeit-Kontinuum entspricht, fliegt durch einen Raum, der sich über diesem Rasen befindet (nämlich die Luft) und landet anschließend wieder auf dem Spielfeld. Dort drüben, wo er ankommt, muss nicht zwingend jemand stehen, der den Ball auffängt. Man muss lediglich imstande sein, die Flugbahn vorher zu berechnen. Mit anderen Worten: Man muss zielen lernen.
Sie können heute überallhin verreisen, in jedes Jahr, egal, wie weit es zurückliegt. Die Frage ist nur, wie gründlich diese Strecken vorher getestet worden sind. Gibt es keine geprüfte Route zu Ihrem gewünschten Ziel, so finden Sie mit Sicherheit trotzdem jemanden, der behauptet, Sie genau dort absetzen zu können, wo Sie hinmöchten. Flugpioniere sind nach Australien und in die Arktis geflogen, obwohl es dort keine Landebahnen gab. Stattdessen landete man auf Äckern, auf Gletschern und auf Sanddünen. Notfalls musste man mit dem Fallschirm abspringen. So ähnlich verhält es sich auch mit Zeitreisen auf ungetesteten Routen. Der ganze Spaß kostet dann nur mehr als die typische Pauschalreise in die Renaissance. Außerdem rumpelt es ein wenig mehr, und wenn Sie abstürzen und mitten im Zweiten Weltkrieg bruchlanden, sagen alle, dass Sie selber schuld sind.
Einen einzigen Nachteil hat die Abwesenheit von Zeitmaschinen in der Vergangenheit: Sie können keine Rundreise durch mehrere Epochen antreten. Sie können nicht ins Mittelalter reisen und von dort aus direkt in die Antike. Stattdessen müssen Sie zunächst zurück in die Gegenwart und dort umsteigen. Zeitreisen ist wie Bahnfahren in England: Man fährt immer über London.
2. Wer in die Vergangenheit reist, wird jünger.
Wenn man zehn Jahre in die Vergangenheit reist, dann ist man dort auch zehn Jahre jünger, so behaupteten manche Leute ernsthaft. Noch extremer: Reist man weiter zurück als das eigene Geburtsdatum, dann löst man sich unwillkürlich auf. Oder umgedreht: In Stanisław Lems «Sterntagebüchern» wird von einem Physiker namens Molteris berichtet, der mit seiner eben erfundenen Zeitmaschine in die Zukunft reist, um dort herauszufinden, wer am Ende seine Forschungen finanzieren wird, doch während er durch die Zukunft rast, altert er rapide und stirbt. Die Zeitmaschine wird zur Todesfalle.
An dieser Geschichte ist nichts dran, so viel war schon klar, bevor die Technik des Zeitreisens erfunden wurde. Zum Beispiel schreibt Sean Carroll, ein amerikanischer Physiker, im Jahr 2009: «Unser persönliches Erleben der Zeit wird bestimmt von den Uhren in unserem Gehirn und unserem Körper, den vorhersagbaren Rhythmen der chemischen und biologischen Prozesse.» Die körpereigene Zeit verläuft nicht auf einmal schneller oder gar rückwärts, nur weil man ein Ticket in die Vergangenheit kauft, sich in eine Kiste setzt und eine Weile später im Mittelalter ankommt. Die biologischen Uhren ticken unbarmherzig weiter, das heißt, wenn man eine Woche in der Vergangenheit verbringt, wird man genau eine Woche älter, egal, wie weit die Vergangenheit zurückliegt. Ewig leben mag ein attraktives Ziel sein, aber Zeitreisen sind nicht der Weg dahin.
3. Es gibt nur einen Weg in die Vergangenheit, und zwar den, auf dem wir gekommen sind.
Diese Lachnummer schließt sich unmittelbar an Nummer zwei an. Dass wir nur auf genau dem Weg durch die Zeit reisen können, auf dem wir langwierig und Tag für Tag in die Gegenwart getrottet sind – das wurde eine Weile ernsthaft behauptet. Früher dachte man auch, dass man, um von Berlin nach München zu kommen, wirklich von Berlin nach München laufen oder fahren muss. Fürs Zeitreisen hätte ein solcher Reisemodus absurde Konsequenzen. Man würde auf dem Weg zur Endstation an allen möglichen Ereignissen in der Vergangenheit «vorbeifahren». In Wahrheit sind wir natürlich weder im Raum noch in der Zeit auf den einen Weg angewiesen, mehr noch, dieser eine Weg ist fürs Zeitreisen äußerst unkomfortabel. Wir sind nicht beschränkt auf diese eine Zeitdimension, in der wir zufällig leben. Bequem gleiten wir durch die Transitzone, legen die Füße hoch und kriegen nichts mit von den vielen Jahren, die wir durcheilen.
4. Wer in die Vergangenheit reist, wird im leeren Raum landen, weil die Erde damals an einem anderen Ort war.
Die Erde rast mit dreißig Kilometern pro Sekunde auf ihrer Bahn um die Sonne. Die Sonne wiederum fliegt mit noch größerer Geschwindigkeit um das Zentrum der Milchstraße. Dieses Zentrum wiederum bewegt sich relativ zu anderen Galaxien. Nichts steht still. Wer versucht, sich in diesem dreidimensionalen Gewirbel rückwärts durch die Zeit zu bewegen, ohne dabei auch den Ort zu verändern, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwo im Nichts landen, im Raum zwischen Planeten, Sternen und Galaxien. Man wird ziemlich sicher ersticken oder erfrieren oder einen anderen unangenehmen Tod sterben. So erzählen es sich die Menschen in der Vergangenheit.
Das ist natürlich Unfug. Wir navigieren immer relativ zu anderen Orten und nicht in einem absoluten Raum, den es sowieso nicht gibt. Was soll das sein, ein Ort, der immer derselbe bleibt? In einem Universum, in dem sich alles bewegt, mit verformbarem Raum, der sich außerdem noch ausdehnt wie ein Gummiband, sind unveränderliche Orte eine Illusion. Der Urknall war überall. Alles kann überall sein.
Relative Orte sind die Lösung. Die Koordinaten der Orte auf der Erdoberfläche sind alle in Beziehung zu willkürlich festgelegten Punkten und Linien definiert: dem Äquator, dem Nullmeridian, den Polen. Wer mit dem Bus von Magdeburg nach Leipzig fährt, sagt dem Busfahrer auch nicht, dass er darauf achten soll, die Bewegung der Sonne um das Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße mit einzuberechnen. Man redet über Orte, die nur in einem wohldefinierten Bezugssystem einen Sinn ergeben. Leipzig existiert nicht, wenn man versucht, es im expandierenden, flexiblen Raum des Universums zu verorten.
Genauso navigiert man auch in der Transitzone beim Zeitreisen. Wir müssen uns nicht darum kümmern, wo wir gerade im Universum sind. Die Zeitreise endet am selben Ort, an dem sie angefangen hat, einem Ort auf der Erdoberfläche, der genauso weit vom Erdmittelpunkt, vom Äquator, von den Polen entfernt ist wie der Ausgangspunkt der Reise. Das heißt nicht, dass automatisch alles gleich bleibt. Orte entwickeln sich im Laufe der Zeit. Städte entstehen und vergehen. Gebirge wachsen und werden durch die Kräfte von Wind und Wasser wieder zu Staub zerrieben. Seen trocknen aus. Kontinente wandern. Darum müssen Sie sich als Zeitreisende kümmern, nicht um das Zentrum der Milchstraße oder sonst irgendetwas, das tausende Lichtjahre entfernt liegt. Zeitreisen sind viel weniger bizarr, als man denkt.
5. Wer in die Vergangenheit reist, löst sich in der Gegenwart in eine Rauchwolke auf und verschwindet.
Zeitreisen ist so etwas wie Teleportation, dachten früher viele, insbesondere die Produzenten von Science-Fiction-Filmen. Man steigt in eine Art Telefonzelle und drückt einen Schalter. Dann löst man sich auf und, Simsalabim, materialisiert sich in einer anderen Zeit, zum Beispiel eine Stunde früher. Man schreitet durch ein flimmerndes Tor. Meistens ist dieser Vorgang verbunden mit großer Verwunderung, mit Herzrasen und Aufregung. Manchmal ist man hinterher sehr durstig. Oder noch schlimmer: Beim Zeitreisen wird der Körper, den man in der Gegenwart hat, zerstört und in der Vergangenheit neu erzeugt. Das Gehirn, die Gliedmaßen, die Galle, alles löst sich in Rauch auf, wird mühsam Atom für Atom in die Vergangenheit gebeamt, um dort wieder zusammengebaut zu werden. Der neue Körper, den man in der Vergangenheit erhält, hat allerdings Kopierfehler und geht bald danach kaputt. Zeitreisen, so der Mythos, dauert nur Bruchteile von Sekunden und ist sehr verwirrend.
In Wahrheit ist Zeitreisen kein Vorgang, der in einem einzigen Moment stattfindet. Zeitreisen dauert Zeit, nicht so viel Zeit, wie man zurückreist (siehe Mythos drei), aber es dauert. Man schaut Filme an, starrt auf die Rückenlehne vor einem, versucht zu schlafen, wird davon geweckt, dass jemand einen Imbiss anbietet, ärgert sich und sieht sich weitere Filme an. Man streitet mit dem Sitznachbarn über die einzige Armlehne zwischen den Sitzen, es sei denn natürlich, man hat extra für eine Zusatzlehne bezahlt. Mit anderen Worten: Reisen in der Zeit ist so wie Reisen im Raum, manchmal interessant, meistens öde, wie ein Geduldsspiel, das immer länger dauert, als man glaubt.
Es gibt keine Blitze, keine Stroboskope, keine Rauchwolken und keine Telefonzelle. Der alte Körper, den man in der Gegenwart mit sich herumträgt, bleibt einem erhalten, mit all seinen Vor- und Nachteilen. Durstig wird man allerdings wirklich. Das alles muss für die Menschen der Vergangenheit zunächst enttäuschend gewesen sein. Neue Technik ist keine Magie, und wenn man die neuen Geräte hinten aufschraubt, kommt immer noch Kabelsalat heraus.
6. Wer in der Vergangenheit einen Schmetterling tötet, verändert den gesamten Lauf der Geschichte.
In Ray Bradburys Kurzgeschichte «Ferner Donner» (im englischen Original «A Sound of Thunder») reist eine Gruppe Männer in die Vergangenheit, um Dinosaurier zu jagen. Dabei müssen sie penibel darauf achten, die Vergangenheit nicht zu verändern. Zum Beispiel dürfen sie nur Dinos erlegen, die wenig später sowieso sterben. Einer der Jäger, Eckels, erschreckt sich beim Anblick des Tyrannosaurus Rex zu Tode, rennt weg, kommt vom Pfad ab und zertritt einen Schmetterling. Die Reisenden kehren in eine veränderte Gegenwart zurück. Die Rechtschreibung ist anders. Die Farben sind anders. Und ein totalitärer Diktator hat die Präsidentschaftswahlen gewonnen.
In anderen Werken erfährt man von ähnlichen Begebenheiten. Statt einem Schmetterling ist es ein Wurm oder eine Maus oder ein Käfer, dessen Tod die Welt auf den Kopf stellt. In der Folge «Zeit und Strafe» der Serie «Die Simpsons» versucht sich Homer Simpson an der Reparatur des Toasters und erzeugt damit versehentlich eine Zeitmaschine. Nachdem das Erschlagen einer Mücke in der Kreidezeit eine grauenvolle Version der Gegenwart erzeugt, in der ein Diktator seinen Untertanen Gehirnteile entnimmt, um sie gefügig zu machen, probiert Homer eine Version der Geschichte nach der anderen durch. Er tötet einfach immer wieder andere Tiere und Pflanzen und erzeugt damit immer wieder neue bizarre Varianten. Am Ende gibt er sich mit einer Welt zufrieden, in der alles so ist wie vorher, abgesehen von den überaus langen Zungen, mit denen seine Frau und seine Kinder das Essen vom Teller lecken.
Die Idee war wohl, dass Geschichte wie ein Dominospiel funktioniert: Stößt man am Anfang einen Stein um, dann fallen anschließend unzählige andere Steine. Wenn eine Maus vor ihrer Zeit stirbt, dann rottet man gleichzeitig alle ihre Nachfahren aus, Millionen potenzieller Mäuse. Mäusefressende Raubtiere haben keine Nahrung. Ganze Ökosysteme geraten ins Wanken. Urmenschen finden nichts zu essen.
In Wirklichkeit haben unsere Handlungen viel weniger Einfluss auf den Lauf der Dinge, als man sich früher vorstellte. Zum einen bleibt die alte Version der Welt – die, in der Sie die Zeitreise antreten – vollständig erhalten. Man kann nichts an ihr ändern. Was passiert ist, ist passiert. Schon der Akt der Zeitreise selbst bringt Sie in eine neue Version der Welt, die es vorher nicht gab. Alles, was Sie in der Vergangenheit tun, führt Sie weiter weg von der Version, aus der Sie gekommen sind. Aber besonders weit kann man sich nicht von diesem ursprünglichen Strang entfernen, schon weil vorher der Urlaub zu Ende ist.
Mittlerweile wurde vielfach experimentell bestätigt, dass die meisten der Parallelwelten, die man durch Handlungen im Urlaub erzeugen kann, einander sehr stark ähneln. Die Vergangenheit, an der Sie schuld sind, ist fast immer ununterscheidbar von der, die in unseren Geschichtsbüchern steht. Vielleicht ist die Flagge der Sowjetunion in einer anderen Version der Geschichte nicht rot, sondern orange, die Beatles lösen sich nicht im Winter 1969/70 auf, sondern ein paar Monate später, oder Darwins Schiff heißt nicht Beagle, sondern Terrier. Vielleicht ändern sich die Lottozahlen. Aber mehr tut sich nicht. Der Lauf der Dinge ist erstaunlich robust.
Das gilt vor allem für langfristige Prozesse wie Plattentektonik, Evolution, klimatische Veränderungen, den wissenschaftlichen Fortschritt oder das Ende des Patriarchats, alles Entwicklungen, für die es keine Rolle spielt, ob Sie in der Kreidezeit ein paar Steine verschieben. Es ist nicht unmöglich, die Welt wirklich nachhaltig zu verändern, aber man benötigt viel Zeit und Energie, mehr als die meisten von uns im Urlaub haben (siehe dazu das Kapitel «Von der Schwierigkeit, die Welt zu verbessern»). Die meisten Veränderungen, die Sie während Ihrer Zeitreise herbeiführen, ob absichtlich oder versehentlich, ob radikal oder subtil, bleiben praktisch folgenlos, in beinahe allen parallelen Welten.
7. Wer in der Vergangenheit nicht aufpasst, begegnet sich selbst, und dann lösen sich beide Versionen des Selbst in ein Logikwölkchen auf.
Eigentlich eine schöne Vorstellung, ein Moment der Verwunderung, dann ein Wiedererkennen, der Gedanke «Das bin ja ich!», gedacht von beiden Ichs gleichzeitig, denn es ist ja dieselbe Person, dasselbe Gehirn, das da denkt, nur unterschiedlich alt. Danach ein neuer Gedanke, auch in beiden Gehirnen, die beide dasselbe sind, die Realisierung, dass gleich alles vorbei ist, der Moment, an dem man merkt, dass man über dem Abgrund hängt und gleich hinunterfällt, so wie der Kojote in den «Road Runner»-Cartoons, und dann «Puff!», ein schmerzloser, einfacher Tod, für beide Versionen derselben Person. Auch für Außenstehende schön anzusehen, kein Blutvergießen, kein Geschrei, keine pathosgetränkten letzten Worte.
Aber leider weit entfernt von der Realität. Natürlich können Sie sich selbst begegnen. Die Person, die in der Vergangenheit Tag für Tag durchgemacht hat, gibt es weiterhin, egal, was dieselbe Person in der Zukunft anstellt. Nur weil Sie in die Vergangenheit reisen, löst sich dadurch nicht Ihr jüngeres Ich auf, im Gegenteil, aus Gründen der Konsistenz muss es erhalten bleiben. Das Paralleluniversum, in dem Sie unterwegs sind, ist zunächst identisch mit dem, das Sie verlassen haben – abgesehen von Ihrer Existenz als Zeitreisender. Dinge oder Personen verschwinden nicht so einfach. Es gibt keine Paradoxa.
Sie können auch mit Ihrem jüngeren Ich interagieren, nur dürfen Sie keine Rauchwolken erwarten. Sie verändern dadurch den Lauf der Welt, einer Welt, aber nicht der Welt, aus der Sie selbst gekommen sind. Die Welt, in der Sie eine Zeitmaschine besteigen und zurückreisen, existiert weiterhin. Eine andere Welt wird andere Biographien hervorbringen. Es gibt keine Rauchwolken, die entstehen, wenn die Welt ihre Fehler korrigiert. Rauchwolken sind überhaupt keine gute Lösung für Probleme, sie sind nur ein billiger Trick.
In diesem Zusammenhang kann man ein weiteres Missverständnis aufklären: Glauben Sie nicht, Sie könnten einen Tag oder eine Woche oder ein Jahr zurückreisen, um Ihr Leben seitdem noch einmal zu absolvieren und alle begangenen Fehler zu vermeiden. Das geht schon deshalb nicht, weil Sie jetzt älter aussehen und kaum so tun können, als seien Sie noch mal vierzehn. Und die Person, die Sie damals waren, die immer die falschen Entscheidungen getroffen hat, wird dies wahrscheinlich weiterhin tun. Sie wird Ihre guten Ratschläge so wenig beherzigen, wie Sie selbst damals auf die guten Ratschläge anderer Menschen gehört haben. Sie könnten natürlich Ihr altes Ich eliminieren oder irgendwo einsperren, um es von Dummheiten abzuhalten. Aber moralisch und rechtlich gilt das als Mord oder Freiheitsberaubung. Seien Sie nett zu Ihrem alten Ich, oder besser noch, lassen Sie es gefälligst in Ruhe.
8. Man kann in der Vergangenheit tun, was man will.
Wenn es sowieso schon alle möglichen Versionen des Universums gibt, inklusive solcher, in denen ich mich benehme wie ein Elefant im Porzellanladen, dann habe ich alle erdenklichen Freiheiten. Denn egal, was ich tue, es bleibt folgenlos. Die Gegenwart, aus der ich komme, bleibt sowieso erhalten: Ich kann einfach zurückreisen, und alles ist wie früher.
Das klingt zunächst phantastisch, wie der beste Kindergeburtstag der Welt, führt aber im nächsten Schritt zu einer großen Sinnkrise: Spielen die eigenen Entscheidungen überhaupt eine Rolle? Hat das Leben im Multiversum einen Sinn?
Die Antwort auf beide Fragen lautet: Ja. Das Multiversum mit seinen Parallelwelten ändert nichts daran, dass Sie für die Konsequenzen Ihres Handelns verantwortlich sind. Mit jeder Zeitreise, jeder Entscheidung, jeder Handlung, jedem umgesetzten idiotischen Plan landen Sie in neuen Versionen der Welt. Alles, was Sie tun, hat einen Effekt, auch wenn der oft sehr klein ist. Alle gewohnten Verhaltensregeln haben weiterhin Gültigkeit. Seien Sie nett, wenn Sie mit Menschen (oder Tieren) zu tun haben. Vermeiden Sie es, absichtlich Dinge zu beschädigen. Nehmen Sie nichts mit zurück nach Hause außer Erinnerungen. Lassen Sie nichts zurück, keinen Müll, keine Tupperware, keine Mobiltelefone (mehr dazu im Ratgeberteil).
9. Zeitreisende sind verpflichtet, die Welt zu retten.
Eine Weile wurde Zeitreisenden eingeredet, sie müssten die Welt von ihren Übeln befreien. Zum Beispiel: Reisen Sie in die Vergangenheit, um Adolf Hitler noch als Kind umzubringen. Verhindern Sie dadurch den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Aber geht das überhaupt? Und sollten Sie das tun? Einerseits nein, andererseits vielleicht.
Die Antwort lautet «nein», weil die Version der Geschichte, aus der Sie kommen, unangetastet bleibt. Sie erleben auf Ihrer Zeitreise nicht die Vergangenheit der Gegenwart, aus der Sie kommen, denn in dieser Vergangenheit gibt es keine Zeitreisenden. Sie erleben eine andere Vergangenheit, nämlich die, in der Sie als Zeitreisende gelandet sind. Die andere Zeit, die, in der alle Übel geschehen, die Sie gern beseitigen möchten, tickt unbeirrt weiter, Hitler kommt an die Macht, Millionen sterben. Man kann nicht das eigene Tun in der Vergangenheit dadurch rechtfertigen, dass man damit eventuell die Gegenwart, in der man die Reise begonnen hat, auf irgendeine Weise verbessert. Diese Gegenwart bleibt unverändert. Nur kehren Sie in diese Gegenwart zurück als jemand, der in einer anderen Version der Geschichte ein Kind umgebracht hat.
Die Antwort lautet «vielleicht», weil es in der Parallelwelt, in der Sie sich aufhalten, nach Ihrer Tat Hitler nicht mehr gibt – das war immerhin Ihre Absicht. Es könnte passieren, dass es in dieser Welt, in diesem speziellen Strang der Geschichte, nicht zum Zweiten Weltkrieg kommt und der Holocaust nie stattfindet. Aber das ist keineswegs garantiert. Vielleicht übernimmt jemand anderes die Rolle von Hitler. Vielleicht sind die gesellschaftlichen Umstände, die zum Dritten Reich führen, wichtiger als eine einzelne Person. Vielleicht passiert auch etwas noch viel Schlimmeres – sagen wir, die nicht von Hitler geführten Nazis entwickeln vor den Amerikanern die Atombombe. Und selbst wenn alles gut ausgeht und der Zweite Weltkrieg vermieden wird, kehren Sie am Ende in Ihre alte Welt zurück, in der Europa voll ist mit Kriegsgräbern.
Übrigens laden Sie auch Schuld auf sich, wenn Sie in die Vergangenheit reisen und Hitler eben nicht umbringen. Dann erzeugen Sie mit Ihrer Zeitreise eine Parallelwelt, in der das scheußliche Geschehen wahrscheinlich genauso passiert wie in der Welt, aus der Sie kommen. Die Opferzahlen verdoppeln sich. Das gilt allerdings nicht nur für Zeitreisen ins Dritte Reich oder in dessen Vorgeschichte, sondern ebenso für alle anderen Vergangenheiten.
Hier ein unverbindlicher Ratschlag: Begehen Sie keinen Kindsmord in der Vergangenheit, sondern kaufen Sie dem jungen Maler Hitler in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg stattdessen ein paar seiner Gemälde ab. Versuchen Sie darüber hinwegzusehen, was für Zeug Sie da kaufen, und seien Sie großzügig, wenn es um den Kaufpreis geht. Welche Auswirkungen diese Transaktion auf die Zukunft haben wird, bleibt natürlich unklar. Aber es besteht zumindest die Chance, dass der erfolgreiche Maler Adolf Hitler später nicht auf die Idee kommt, halb Europa in Schutt und Asche zu legen.