Zwei einfache Erfindungen
Das beliebte «Time Travel Cheat Sheet», das es als Poster zum Aufhängen in Zeitmaschinen sowie als T-Shirt zu kaufen gibt, rät:
«Das beste Antibiotikum ist Penicillin. Der Schimmelpilz Penicillium notatum findet sich auf Lebensmitteln. Er ist äußerst wirksam gegen Infektionen, indem er andere Bakterien am Aufbau neuer Zellwände und an der Fortpflanzung hindert. Er wird ein neues Zeitalter der Antibiotika einläuten. Lass dich als Entdecker feiern. Wenn der Penicillium-Pilz unbekannt ist, such nach Lebensmittelschimmel, der unter einem Mikroskop wie komische Hände auf langen Stielen aussieht. Das ist dein Penicillin!»
Zunächst klingt das ganz einfach. Aber zwischen dem Auffinden von Schimmel mit komischen Händen und einer erfolgreichen Penicillinbehandlung liegen viele Arbeitsschritte. Der Weg von der zufälligen Entdeckung der Penicillinwirkung im Jahr 1928 bis zur Herstellung in praktikablen Mengen dauert zwölf Jahre. Dass Sie bereits wissen, wie es geht (oder eine Anleitung mitbringen können), wird Ihnen leider nicht wesentlich weiterhelfen. Sie brauchen eine Grundausbildung in der praktischen mikrobiologischen Arbeit mit Kulturen und Nährböden. Ein bis zwei Semester an der Universität genügen. Allerdings setzt das, was Sie dabei lernen werden, Geräte und Materialien voraus, mit denen Sie in der Vergangenheit nicht rechnen können. Alternative Verfahren werden Sie selbst entwickeln müssen.
Sie benötigen ein Mikroskop und Kenntnisse über die Taxonomie von Schimmelpilzen, um den Penicillin produzierenden Pinselschimmel von anderen, zum Beispiel von gesundheitsschädlichen Gießkannenschimmeln (Aspergillus ), unterscheiden zu können. Außerdem gibt es viele unterschiedliche Penicillium-Arten, die unter dem Mikroskop alle gleich aussehen. Nur manche von ihnen produzieren Penicillin in nennenswerten Mengen. Das Vorhandensein der «komischen Hände» ist dafür noch keine Garantie. Sie benötigen also Nährböden, auf denen Sie Bakterienkulturen anlegen können, um herauszufinden, ob Ihr Schimmelpilz der richtige ist. Ein Sammelsurium von Testbakterien können Sie einfach mit einem Stäbchen von Ihrer Mundschleimhaut schaben. Wenn es Ihnen um die Heilung einer ganz bestimmten Krankheit geht, beschaffen Sie sich Körperflüssigkeiten von Erkrankten.
In der Mikrobiologie stellt man Nährböden seit Ende des 19. Jahrhunderts auf der Basis von Agar her, einem aus Algen gewonnenen Geliermittel. In Asien können Sie Agar ab Mitte des 18. Jahrhunderts mit etwas Glück fertig kaufen. Der Mikrobiologe Robert Koch verwendet im 19. Jahrhundert Kartoffelscheiben, andere arbeiten mit Stärkebrei, Fleisch oder geronnenem Eiweiß. Sie können auch die Substanz, auf der Sie das vermutete Penicillium gefunden haben, sterilisieren und als Nährboden einsetzen. Ein fester Nährboden ist wichtig. In einem flüssigen Nährmedium – in der Frühzeit der Mikrobiologie verwendet man meistens Fleischbrühe – schwimmen die unterschiedlichen Bakterien alle durcheinander. Man kann sie nicht leicht voneinander unterscheiden und in weiter vermehrbare Kolonien aufteilen. Agar ist ein praktisches, bei vielen Temperaturen festes, transparentes und sterilisierbares Nährmedium, vorgeschlagen von Fanny Angelina Hesse in den 1880er Jahren. Je nachdem, was es in der jeweiligen Zeit zu kaufen gibt, müssen Sie eventuell zuerst das Mikroskop, das Agar und die Petrischale erfinden.
Alle Arbeitsschritte müssen gewissenhaft und steril ausgeführt werden. Unter anderem benötigen Sie dafür eine sehr heiße, nicht rußende Flamme, um die Drahtöse zu sterilisieren, mit der Sie immer die gleiche Menge Bakterienkulturen auf ihre Nährböden übertragen. Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwendet man dafür Gasbrenner. Da steriles Arbeiten vorher weder in der Theorie noch in der Praxis existiert, müssen Sie selbst eine Lösung für Zeiten finden, in denen es noch keine Bunsenbrenner in Laboren gibt. Eventuell besteht sie in einem sehr großen Brennglas, wie es in den Anfangszeiten der Chemie zum Einsatz kommt, oder in einer Konstruktion aus vielen Spiegeln, die die Sonne bündeln, einem sogenannten Pyreliophorus. Am Draht selbst dürfen sich beim Erhitzen keine Oxide bilden, weil diese auf Mikroorganismen giftig wirken. In der Gegenwart setzt man dafür Platinlegierungen ein. In der Vergangenheit gibt es einigermaßen sortenreines Platin erst im späten 18. Jahrhundert zu kaufen.
Sie benötigen eine Möglichkeit, Kulturen unter sterilen Bedingungen für eine bestimmte Zeit bei einer bestimmten Temperatur aufzubewahren. Temperaturschwankungen sind zwar für das Gedeihen der Kulturen kein so großes Problem. In der Natur wechseln die Temperaturen schließlich auch. Aber wenn Sie die Wirkung Ihres selbstgemachten Penicillins an Bakterienkulturen testen wollen, brauchen Sie für beides standardisierte Verfahren, sonst können Sie die Ergebnisse nicht sinnvoll vergleichen. Da Sie etwas über das Geschehen im menschlichen Körper herausfinden wollen, bewahren Sie die Bakterien mitsamt Ihrem Schimmelpilz am besten bei gleichmäßigen siebenunddreißig Grad auf. Ob der Pilz wirkt, erkennen Sie mit bloßem Auge. Um den Pilz herum gedeihen die Bakterienkulturen, die Sie vorher dort gezüchtet haben, weniger gut oder sterben ab. Das zeigt sich in Form eines kleineren oder größeren Rings.
Wenn Sie einen vielversprechenden Pilz gefunden haben, legen Sie eine größere Kultur in einem Gefäß mit Nährlösung an, das nicht tiefer als anderthalb bis zwei Zentimeter sein sollte. Als Nährlösung eignet sich vieles, nur steril muss es sein. Ein wichtiger Bestandteil dieser Lösung ist Zucker (etwa vierzig Gramm pro Liter, in vielen Vergangenheiten nicht so einfach zu beschaffen). Bei einer Temperatur von dreiundzwanzig Grad bildet sich auf der Oberfläche der Flüssigkeit eine Schimmelpilzschicht. Der Penicillingehalt erreicht seinen Höhepunkt zwischen dem siebten und dem zehnten Tag. Details sowie eine Technik zur Bestimmung der Penicillinkonzentration im Ergebnis können Sie dem 1941 erschienenen Artikel «Further observations on penicillin» von Edward Penley Abraham und Kollegen entnehmen. Spätere Verfahren sind zwar produktiver, setzen aber aufwendigere Labortechnik voraus. Die Extraktion des Penicillins aus der Nährlösung ist ebenfalls in diesem Artikel beschrieben. Überlegen Sie sich vorher ein praktikables Verfahren zur Bestimmung des pH-Werts und eines zur Herstellung von Äther, den Sie als Lösungsmittel benötigen.
Aus hundert Litern Nährlösung gewinnen Sie auf diese Art, wenn Sie alles richtig gemacht haben, ein Gramm Penicillin. Für eine Behandlung brauchen Sie drei bis fünf Gramm, Sie müssen also pro Patient drei- bis fünfhundert Liter Penicillinlösung herstellen und verarbeiten. Im Februar 1941, einige Monate vor dem Erscheinen der oben erwähnten Veröffentlichung, wird erstmals ein Patient mit dem in diesem Verfahren hergestellten Penicillin behandelt: ein britischer Polizist, der sich eine kleine Verletzung am Mund und in der Folge eine lebensbedrohliche Infektion zugezogen hat. Nach fünf Tagen Penicillinbehandlung ist er fieberfrei. Er hat 4,4 Gramm Penicillin erhalten, die gesamte zu diesem Zeitpunkt verfügbare Penicillinmenge. Das Penicillin, das er mit dem Urin ausscheidet, wird extrahiert und wiederverwendet. Trotzdem genügen die Vorräte nicht für eine vollständige Behandlung. Der Zustand des Patienten verschlechtert sich wieder, und einen Monat später stirbt er. So ein Ausgang kann dazu führen, dass man Sie beschuldigt, die Welt nicht etwa besser, sondern schlechter gemacht zu haben.
Noch im Juni 1942, anderthalb Jahre nach dem Tod des britischen Polizisten, gibt es in den USA gerade mal genug Penicillin für zehn Patienten. Den Plan, ganze Landstriche im Mittelalter mit Penicillin zu versorgen, können Sie also vergessen. Besser, Sie besuchen stattdessen im Jahr 1930 den Entdecker Alexander Fleming und reden ihm gut zu: Penicillin ist zwar mühselig herzustellen, und die klinischen Tests sind nicht besonders erfolgversprechend, aber er soll die Hoffnung nicht aufgeben. Er ist da einer wichtigen Sache auf der Spur!
Vielleicht ist es erfolgversprechender, etwas ganz Einfaches zu erfinden, ein Fahrrad zum Beispiel. In unserer Vergangenheit taucht es erst im 19. Jahrhundert auf. Aber was spricht dagegen, es in einem alternativen Strang der Zeit schon viel früher zu erfinden? Ein Fahrrad ist viel weniger kompliziert als eine Dampfmaschine, und wer selber zwei linke Hände hat, kann einem Handwerker das Grundprinzip leicht aufmalen.
Die erste fahrradähnliche Erfindung stammt aus dem Jahr 1817: Nachdem Karl Freiherr von Drais zunächst einen vierrädrigen «Wagen ohne Pferde» mit Kurbelantrieb entwickelt hat, kommt er beim Schlittschuhlaufen auf die Idee eines zweirädrigen Fahrzeugs. Sein anfangs als «Laufmaschine», «Reitmaschine», «Fahrmaschine ohne Pferd», später als «Draisine» bezeichnetes Ur-Fahrrad besteht aus Holz und hat noch keine Pedale. Es wiegt etwa fünfundzwanzig Kilo, wird durch abwechselndes Abstoßen mit den Beinen angetrieben und erreicht eine Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa fünfzehn Stundenkilometern. Damit ist es viermal so schnell wie die Postkutsche der Zeit, dreimal so schnell wie ein Fußgänger und doppelt so schnell wie ein Reitpferd. Falls Sie Drais bei seiner ersten Fahrt beobachten möchten, können Sie das am 12. Juni 1817 zwischen seinem Wohnhaus in Mannheim, damals Abschnitt B6 und heute M1, Hausnummer 8, und dem «Schwetzinger Relaishaus», heute Relaisstr. 56, tun. Die Uhrzeit ist leider nicht überliefert.
Weil in den meisten Städten nur die Gehwege trocken, sauber und eben genug für die Laufmaschinen sind, kommt es zu den gleichen Konflikten, wie sie sich im frühen 21. Jahrhundert rund um Segways, E-Scooter und andere elektrische Kleinfahrzeuge entfalten. Schon wenige Monate nach Drais’ erster öffentlicher Fahrt wird in Mannheim das Fahren auf den Gehwegen verboten. Mailand, London und New York erlassen kurz darauf ebenfalls Verbote, und die Laufmaschine kommt weitgehend zum Stillstand.
Fünfzig Jahre lang passiert nicht viel, bis die Franzosen Pierre Michaux und Pierre Lallement 1861 Tretkurbeln am Vorderrad anbringen. In den darauffolgenden Jahren kommen Fahrräder aus Metall mit gefederten Sätteln auf den Markt. Auf der Weltausstellung in Paris 1867 (siehe Kapitel «Die Welt versammelt an einem Ort») können Sie den aktuellen Standard der Fahrradtechnik besichtigen. Mangels Kette und Übersetzung dreht sich das Vorderrad mit jeder Pedalumdrehung nur einmal, man strampelt also wie bei einem Gegenwartsfahrrad in einem sehr niedrigen Gang. Das führt dazu, dass Hochräder mit immer größeren Vorderrädern verkauft werden, die man nur mit Hilfe eingebauter Stufen besteigen kann. Genau wie Drais’ Laufmaschine werden auch diese Räder wieder von den Gehwegen und aus manchen Innenstädten sogar ganz verbannt. In Köln herrscht von 1870 bis 1895 in der ganzen Innenstadt Fahrradverbot.
In den späten 1880er Jahren wird die Luftbereifung erfunden. Ungefähr zur gleichen Zeit kommt die Fahrradkette auf den Markt und macht das Fahrrad in der heutigen Form möglich. Die Übersetzung wird jetzt nicht mehr durch riesige Vorderräder hergestellt, sondern durch ein großes Zahnrad am Tretlager und ein kleines am Hinterrad. Natürlich gilt das niedrigere Rad zunächst als unsportlich. Ab etwa 1895 sind die verfügbaren Fahrräder für Zeitreisende aus der Gegenwart ohne große Umstellungen benutzbar. Wer eines der früheren Modelle fahren will, muss beachten, dass das Fahrrad noch nicht Fahrrad heißt. Im deutschsprachigen Raum ist es anfangs eine «Laufmaschine» oder «Draisine», ab den 1860er Jahren ein «Velociped», dann ein «Hohes Sicherheitszweirad» oder ein «Niederes Sicherheitszweirad», bevor es um 1885 seinen heutigen Namen erhält.
Wer die Zeit bis zum massentauglichen Fahrrad verkürzen will, ist seinen Erfindern in einem Punkt voraus: Die Idee eines zweirädrigen Fortbewegungsmittels erscheint heute naheliegend, war es damals aber keineswegs. Wer die Fahrraderfindung weiter in die Vergangenheit verlegen möchte, könnte also mit dem bloßen Wissen, dass ein Fahrrad existieren kann, schon punkten. Aber danach wird es schwierig.
Die frühen Fahrräder bestehen aus Holz und Schmiedeeisen. Brauchbaren Stahl in ausreichender Menge gibt es erst ab 1880. Fahrradrahmen aus Holz oder Bambus gibt es auch in der Gegenwart wieder, aber wesentliche Bauteile lassen sich nicht oder nur auf Kosten des Fahrkomforts aus Holz herstellen. Stahl ist bis zur Entwicklung des Bessemerverfahrens um 1855 ein exotischer und rarer Werkstoff, und danach dauert es noch ein paar Jahre, bis die Produktion anzieht und die Preise fallen. Um Bessemers Erfindung in eine frühere Zeit zu verlegen, müsste man sich an einen Ort mit leicht zugänglichen Eisenerz- und Kohlevorräten begeben. Von diesen Orten gibt es weltweit nicht allzu viele. Einer davon ist Coalbrookdale in England, der Ausgangspunkt der Industrialisierung.
Fahrräder mit Holz- oder Metallreifen sind auch als «boneshakers», Knochenschüttler, bekannt. Für Vollgummireifen muss erst die Vulkanisation von Naturkautschuk erfunden werden. Zeitreisende können diesen Vorgang beschleunigen, indem sie Charles Goodyear ab etwa 1833 an wechselnden Wohnorten entlang der US -Ostküste aufsuchen und ihm den Tipp geben, den Kautschuk zusammen mit Schwefel zu erhitzen. Von allein findet er diese Lösung erst 1839 durch einen Zufall. Raten Sie Goodyear bei der Gelegenheit, sich von Bleioxiden fernzuhalten. Das könnte sein Leben verlängern.
Kautschuk ist zu dieser Zeit noch billig zu haben, weil er vor Goodyears Erfindung nicht so richtig nützlich ist, er wird in der Hitze klebrig und bei Kälte spröde. Wenn Sie sich in die Gummigeschichte einmischen wollen, bedenken Sie aber bitte die damit einhergehenden Probleme. Die Entdeckung der Vulkanisation löst einen Kautschukboom aus, der zu großflächiger Zwangsarbeit auf Kautschukplantagen im Amazonasgebiet führt. In manchen Gegenden kommen neunzig Prozent der Einwohner ums Leben. Das Kautschukmonopol Brasiliens wird erst Jahrzehnte später aufgebrochen, als die Briten Kautschukbaumsamen aus dem Land schmuggeln, um sie in ihren eigenen Kolonien anzupflanzen. Andere Kolonialmächte folgen, und insbesondere unter belgischer und französischer Herrschaft kommt es in Afrika rund um die Kautschukgewinnung zu brutalen Zuständen, die allein im Kongo fünf bis zehn Millionen Todesopfer fordern. Eine Welt, in der es anders läuft, ist denkbar, aber es übersteigt wahrscheinlich die Möglichkeiten einzelner Zeitreisender, sie Wirklichkeit werden zu lassen.
Die Fahrradkette, Zahnräder, Kugellager, Schrauben und Räder mit Metallspeichen kann es erst geben, wenn sich die Einzelteile in großen Mengen mit gleichbleibender Präzision fertigen lassen. Dafür braucht man die industrielle Revolution, und eine industrielle Revolution in Gang zu bringen ist eine etwas umfangreichere Aufgabe als die Erfindung eines Fahrrads.
Eigentlich ist das aber fast schon egal. Auch das beste Fahrrad funktioniert nicht für sich allein. Wenn es als Verkehrsmittel attraktiv werden soll, benötigt es eine bestimmte Umgebung, zum Beispiel Straßen. Mit einem Mountainbike der Gegenwart mit Luftbereifung, grobem Reifenprofil, guter Federung und hochentwickelten Bremsen kann man auch durch tiefen Schlamm fahren. Manchen macht das Spaß, viele bevorzugen trockene, feste Wege. Diese Wege gibt es in weiten Teilen Europas nur dann, wenn es gerade länger nicht geregnet hat. Reiseberichte sind bis weit ins 19. Jahrhundert voll mit Klagen über den Zustand der Straßen.
Karl von Drais wählt für seine erste Fahrt eine Strecke, die schon seit 1750 als Chaussee ausgebaut ist, mit einem aufwendigen Unterbau und einer ebenen, festen und entwässerten Oberfläche. In England, Frankreich und Südwestdeutschland findet man diese Straßen zu Drais’ Zeiten bereits häufig. In vielen anderen Gegenden Europas aber gibt es nur unbefestigte Landstraßen oder solche mit Katzenkopfpflaster aus Feldsteinen. Letztere existieren im Berliner Umland bis in die Gegenwart. Wer sich einen ungefähren Eindruck des Radfahrkomforts im 19. Jahrhundert verschaffen will, muss nur mit einem möglichst einfachen Rad diese katzenkopfgepflasterten Straßen befahren. Selbst mit gefederten und luftbereiften Fahrrädern ist es kein Vergnügen.
Theoretisch könnte man den Bau fester Straßen weiter in die Vergangenheit verlegen und die etwa tausendfünfhundert Jahre lange Lücke zwischen den soliden Römerstraßen und den europäischen Chausseen zu schließen versuchen. Praktisch übersteigt das die Möglichkeiten von Zeitreisenden. Straßenbau funktioniert nur dann gut, wenn es eine zentralistische Regierung und einen klaren Mittelpunkt des Reichs gibt (Rom, London, Paris). Außerdem benötigt man ausreichend Arbeitskräfte. Bauern, die für ihren Lehnsherrn unbezahlte Arbeitsstunden ableisten müssen, lassen sich höchstens zu provisorischen Reparaturen motivieren, nicht zum Bau haltbarer Wege. Vor allem in Deutschland, das in viele kleine Territorien zersplittert ist, stehen einer vernünftigen Straßenbaupolitik viele Hindernisse im Weg.
Eine weitere Bedingung für den Erfolg des Fahrrads hängt wiederum mit der Industrialisierung zusammen: Das Fahrrad eignet sich nicht gut als Spielzeug für Reiche, denn sein Gebrauch erfordert Übung und birgt die Gefahr der Blamage. Selbst bei unfallfreier Fahrt sieht man in den Augen der Mitmenschen albern aus. Der Freiherr von Drais wird verspottet mit dem Vers «Freiherr von Rutsch, zum Fahre kei Kutsch, zum Reite kei Gaul, zum Laufe zu faul». Der Autor Karl Gutzkow schreibt 1837, zwanzig Jahre nach Drais’ erster Fahrt, über das Laufrad: «Die ganze Maschine ist auf Lächerlichkeit angelegt, denn nur Kinder können sich derselben, der komischen Gestikulation wegen, die man dabei machen muß, bedienen. Es sieht fast so aus, wenn man auf der Maschine sitzt, als wollte man auf dem Straßenpflaster Schlittschuh laufen.» Fahrradfahrer sind von Anfang an ein beliebtes Motiv für Karikaturen in der Zeitung. Reiche besitzen ohnehin eine Kutsche oder zumindest ein Pferd, das dem Fahrrad insofern überlegen ist, als es auch mit schlechten Wegen klarkommt und selbständig nach Hause findet.
Fahrräder sind deshalb einige Jahrzehnte lang vor allem ein Fortbewegungsmittel für wohlhabende junge Männer und gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend auch Frauen, die aus Konventionen ausbrechen wollen – in unserer Zeit würde man sagen: für Hipster. Viele Frauenrechtlerinnen in den USA und in Europa sagen um das Jahr 1900, das Fahrrad habe zur Emanzipation der Frauen mehr beigetragen als alles andere. Damit das Fahrrad Erfolg haben kann, muss es also Bevölkerungsschichten geben, die sich ein Fahrrad sowohl leisten können als auch gute Gründe für seine Benutzung haben. Die Industrialisierung trägt zur Entstehung dieser Schichten bei und macht gleichzeitig die Fahrräder erschwinglich. Nach der Jahrhundertwende sinkt der Preis unter den Monatslohn von Arbeiterinnen. Ab jetzt können alle das Fahrrad nutzen, um ihren Aktionsradius zu erweitern und zum Beispiel aus einer Vorstadt in die Fabrik zu pendeln oder an freien Tagen Verwandte zu besuchen. Das Fahrrad ist zum Massenverkehrsmittel geworden – aber der Weg dorthin war lang und holprig.
Selbst wenn Zeitreisende, die keine Kosten und Mühen scheuen, von Handwerkern im antiken Rom, in Griechenland oder in China ein fahrradähnliches Fahrzeug herstellen lassen, führt das wahrscheinlich nur dazu, dass es im 21. Jahrhundert einige historische Abbildungen oder Funde dieses raren Geräts gibt. Auf das Fahrrad als allgemein verbreitetes Fortbewegungsmittel werden auch die Bewohner dieser Parallelwelt noch lange warten müssen.
Was Sie ebenfalls lieber nicht erfinden sollten:
Was vielleicht gehen könnte:
Generell gilt für alle solchen Unterfangen: Üben Sie alles, was Sie der Vergangenheit zeigen wollen, erst einmal in der Gegenwart. Wer in der Gegenwart noch nie Penicillin hergestellt hat, braucht es gar nicht erst in der Vergangenheit zu versuchen, wo jeder einzelne Schritt noch viel schwieriger ist und man nicht einfach ein Video oder die Fachliteratur konsultieren kann, wenn Fragen auftauchen.
Der Hauptvorteil, den Zeitreisende genießen, selbst wenn sie nicht einmal wissen, wie man einen Bleistift herstellt: Ihnen fehlen bestimmte Denkbarrieren. Sie glauben zum Beispiel nicht, dass ein Vakuum unmöglich ist, wie es zwischen dem 1. und dem 17. Jahrhundert so gut wie alle Fachleute Europas tun. Viele Erfindungen beginnen mit einer Ahnung, dass etwas möglich sein könnte. Genau zu wissen, dass eine Sache möglich ist, kann bei ihrer tatsächlichen Herstellung sehr motivierend sein. Man braucht dann nicht nachts wachzuliegen und etwa daran zu zweifeln, dass die elektrische Telegrafie jemals funktionieren kann.
Allerdings hat man es in allen Zeiten – einschließlich der Gegenwart – mit Menschen in einflussreichen Positionen zu tun, die davon überzeugt sind, dass die jeweilige Neuerung ein Ding der Unmöglichkeit oder zwar möglich, aber völlig nutzlos ist. Je sicherer man selbst weiß, dass das nicht stimmt, desto größer ist das Potenzial für Ärger, Frustrationen und Burnout.
Auch wenn niemand eine Neuerung aktiv verhindert, garantiert das Wissen, dass etwas existieren könnte, keineswegs die erfolgreiche Umsetzung. Im alten Rom gibt es robuste Straßen, Beton von hoher Qualität und eine ausgezeichnete Wasserversorgung. Wie man das alles herstellt, gerät in den tausend Jahren nach dem Ende des Römischen Reichs nicht überall in Vergessenheit. Es fehlt nur an Geld, an Arbeitskraft und an den passenden politischen Systemen. Wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen, kann man sich vom bloßen Wissen nichts kaufen. Um das festzustellen, muss man nicht in die Vergangenheit reisen: In Deutschland gibt es noch im Jahr 2019 in vielen ländlichen Regionen schlechten oder gar keinen Mobilfunkempfang, während das Problem in allen Nachbarländern schon lange gelöst ist. Fehlendes Wissen hat mit dem Problem nichts zu tun, und es wäre sinnlos, aus der Zukunft nach Deutschland im Jahr 2019 zu reisen, um dort den Zuständigen die Mysterien des Mobilfunks zu erklären.