Wissen wiegt nichts
Die einen stellen erst am Urlaubsort fest, wie wenig sie eigentlich über die Errungenschaften der Gegenwart wissen. Die anderen weisen schon zu Hause den Gedanken weit von sich, sie könnten der Vergangenheit irgendetwas Nützliches mitteilen. Dabei gibt es vieles, was wir wissen, ohne es zu wissen. Diese Kenntnisse sind so selbstverständlich geworden, dass sie den meisten gar nicht in den Sinn kommen. Aber es war ein weiter Weg vom Unwissen bis zum Lehrstoff für Grundschulen.
Was folgt, ist eine Auswahl von Kenntnissen, die Sie wahrscheinlich längst haben, ohne es zu bemerken. Selbst wenn Sie gar nicht vorhaben, in Ihrem Urlaub die Vergangenheit zu verbessern, kann es doch vorkommen, dass man Sie in ein Gespräch etwa über die Navigation der Fledermaus oder die Form des Mondes verwickelt. In so einem Gespräch sollten Sie die Verwirrung Ihrer Mitmenschen zumindest nicht noch vermehren. Sie brauchen dabei weder Belege noch genaue Anleitungen zu liefern. Es genügt, wenn Sie – genau wie in einem normalen, höflichen Gespräch in der Gegenwart – sagen: «Ich habe gehört, es verhält sich vielmehr folgendermaßen, aber mehr weiß ich darüber auch nicht.»
Antarktis
Am Südpol liegt ein Kontinent. Die Vermutung ist schon alt, tatsächlich entdeckt wird das Land aber erst Anfang 1820. Das geschieht dafür gleich mehrmals innerhalb weniger Wochen.
Arktis
Es gibt kein offenes Polarmeer, zu dem man nur vorzudringen braucht, um neue Handelsrouten zu eröffnen, wie im 19. Jahrhundert viele Fachleute glauben. Am Nordpol ist – zumindest zu dieser Zeit – einfach nur Eis. Dennoch werden Hunderte auf der Suche nach dem offenen Polarmeer scheußliche Tode sterben. Wenn Sie nur ein einziges Mitglied der Franklin-Expedition Mitte des 19. Jahrhunderts dazu bewegen können, lieber zu Hause zu bleiben, ist schon etwas gewonnen.
Erde
Stellen Sie sich vor, Sie reisen in die USA und bekommen dort ungefragt erklärt, was ein Kühlschrank oder eine Rolltreppe ist. So fühlen sich die Menschen in vielen Vergangenheiten, wenn Sie ihnen mitteilen, dass die Erde keine Scheibe, sondern eine Kugel ist. Gebildeten ist das schon lange bekannt. Wenn Sie nicht weiter zurückreisen als 2500 Jahre und nicht direkt danach gefragt werden, schweigen Sie am besten von der Form der Erde.
Falls Sie zufällig wissen, wie alt die Erde ist: Diese Information ist unbekannt bis ins 20. Jahrhundert. Zur aktuellen Datierung gelangt man erst nach der Entdeckung der Radioaktivität, die meisten Ihrer Gesprächspartner werden also keine Möglichkeit haben, Ihre Angabe zu überprüfen. Und viel Spaß beim Erklären, was Radioaktivität ist.
Erdkern
Er besteht aus heißem Metall, wie Sie entweder aus der Schule oder aus dem Film «The Core» wissen. Die Sache mit dem Metall ist seit dem späten 18. Jahrhundert bekannt, als in Schottland die gründliche Vermessung eines Bergs namens Schiehallion ergibt, dass die Erde insgesamt deutlich dichter sein muss als das Gestein auf ihrer Oberfläche. Dass dieses metallene Erdinnere flüssig ist und deshalb heiß sein muss, stellt sich im frühen 20. Jahrhundert heraus. Der innerste Teil des Erdkerns ist dann wiederum fest. Diese letzte Auskunft hat 1930 noch Neuigkeitswert und bleibt bis in die 1970er Jahre umstritten.
Findlinge
Warum liegen an manchen Orten große Steine in der Gegend herum, die eindeutig nicht aus dieser Gegend stammen, sondern denen einer weit entfernten Region ähneln? Diese Frage beschäftigt Geologen ab Mitte des 18. Jahrhunderts. Sind die Steine von Vulkanen ausgespuckt worden? Während einer Überschwemmung auf Eisschollen dahergeschwommen? Die Idee mit den Gletschern, die Steine durch die Gegend schieben, können Sie bis ins frühe 19. Jahrhundert verbreiten, ohne ernst genommen zu werden.
Fingerabdrücke
Fingerabdrücke sind einzigartig, keine zwei Menschen haben dieselben. Diese Erkenntnis und ihre Nutzung für die Aufklärung von Straftaten setzt sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts allmählich durch.
Fledermäuse
Die Frage, wie Fledermäuse im Dunkeln navigieren, beschäftigt aufmerksame Beobachter schon lange. Bis ins 18. Jahrhundert nimmt man an, sie hätten einfach sehr gute Augen. Dass sie sich tatsächlich mit den Ohren orientieren, findet erst der italienische Priester und Naturforscher Lazzaro Spallanzani heraus, indem er Fledermäusen die Augen aussticht. Seine Zeitgenossen kümmern sich allerdings nicht um seine Ergebnisse, und noch lange danach glaubt man, Fledermäuse fänden sich irgendwie mit Hilfe ihres Tastsinns zurecht (obwohl Spallanzani auch das bereits ausgeschlossen hat, und zwar durch Anstreichen der Fledermäuse mit Mehlkleister). Dass sie hochfrequente Töne ausstoßen, wird erst im 20. Jahrhundert allmählich entdeckt, nachdem auch Menschen die Navigation und Ortung mittels Sonar entwickeln und ein Gerät zur Sichtbarmachung von Ultraschall erfinden. Zunächst vermutet man, diese Töne dienten der Kommunikation. Erst ab 1950 ist die Fledermausfrage geklärt.
Folter
Bringt schnelle Geständnisse, was in Strafverfahren natürlich praktisch ist. Aber eigentlich liegt auf der Hand, dass die Befragten unter diesen Umständen alles sagen, was man von ihnen hören möchte. Die Aufklärung von Verbrechen wird so nicht befördert, sondern behindert. In einigen Zeiten und an einigen Orten der Vergangenheit, namentlich auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reichs zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert, werden Sie Gelegenheit haben, diese Meinung zu äußern. Berichten Sie davon, dass in dem Land, aus dem Sie kommen, Strafverfahren auch ohne abgepresste Geständnisse einigermaßen gut funktionieren. Also, falls Sie aus so einem Land kommen.
Fortpflanzung
Eine Eizelle und eine Samenzelle müssen zusammenfinden, damit ein neuer Mensch entstehen kann. Das ist lange umstritten. Irgendeine Beteiligung von Mann und Frau ist wohl erforderlich, wie sich empirisch leicht feststellen lässt. Aber die Details sind unklar. Transportiert der männliche Samen eine wie auch immer geartete Lebenskraft ins Menstruationsblut der Frau, wie der Philosoph Aristoteles glaubt? Hat der Arzt Galen recht, wenn er auch in der Frau Samen vermutet, der an der Zeugung beteiligt ist? Ist im Spermium womöglich bereits ein fertiges Miniaturwesen enthalten, das im Körper der Frau nur ausgebrütet wird, wie manche Besitzer von Mikroskopen glauben? Oder steckt das neue Leben im Ei und wird durch die Beteiligung des Mannes zur Weiterentwicklung inspiriert? Das Unwissen rund um die menschliche Fortpflanzung ist auch rechtlich relevant: Weil beim Mann das Hervortreten von Samenflüssigkeit meistens mit einem Orgasmus verbunden ist, gehen Galen und Aristoteles davon aus, dass bei der Frau Fortpflanzung und Orgasmus auf die gleiche Art zusammengehören und deshalb aus einer Vergewaltigung keine Schwangerschaft entstehen kann. Wird eine vergewaltigte Frau trotzdem schwanger, erkennt man daran, dass sie in Wirklichkeit einverstanden war. Dieser Glaube hält sich in der europäischen und amerikanischen Rechtsprechung bis ins späte 18. Jahrhundert. Es wäre daher durchaus hilfreich, wenn sich der Erkenntnisprozess beschleunigen ließe.
Fruchtbarkeitszyklus
Die fruchtbaren Tage liegen beim Menschen rund um den Eisprung, und der findet wiederum in der Mitte zwischen zwei Monatsblutungen statt. Sie haben das, wenn Sie nicht gerade mit albernen Witzen beschäftigt waren, irgendwann um die achte Klasse herum im Biologieunterricht erfahren. Aber so war es nicht immer, und nicht nur, weil Aufklärungsunterricht eine sehr neue Angelegenheit ist. Aus dem alten Griechenland, Byzanz und China gibt es Quellen, die die Zeit direkt vor oder nach der Menstruation als die fruchtbarste bezeichnen. Noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert gibt es eine Vielzahl widersprüchlicher Lehrmeinungen: Die Wahrscheinlichkeit, schwanger zu werden, ist an allen Tagen gleich hoch, sagen die einen. Die Menstruation zeigt die fruchtbarste Zeit an, sagen die anderen, und in der Zyklusmitte ist man deshalb am sichersten vor einer ungewollten Schwangerschaft. Tatsächlich findet nur ein Eisprung pro Monat statt, und die Wahrscheinlichkeit, schwanger zu werden, ist genau zwischen zwei Blutungen am größten. Aber das können erst in den 1920er Jahren die Gynäkologen Kyusaku Ogino und Hermann Knaus unabhängig voneinander belegen.
Schwierig wird es, wenn man Sie nach Beweisen fragt. Knaus ist zu seinen Ergebnissen durch Röntgenaufnahmen gelangt, Ogino bei gynäkologischen Routineoperationen. Beides ist nicht wesentlich früher machbar. Tierversuche bringen ihre eigenen Probleme mit sich. Hündinnen etwa bluten anders als Menschen oft während des Eisprungs und verwirren dadurch die Forscher des 19. Jahrhunderts. Wenn Sie den Sachverhalt am Tier demonstrieren wollen, sollten Sie auf Schimpansinnen und Gibbons setzen, auch wenn die nicht in jedem europäischen Haushalt verfügbar sind.
Geographie
Selbst wenn Sie die Weltkarte aus dem Gedächtnis nur äußerst vage aufzeichnen können, befinden Sie sich damit bis ins 16. Jahrhundert an vorderster Front der Kartographie. Bedenken Sie dabei, dass die Konvention, auf Karten den Norden oben darzustellen, noch jung ist. Auf frühen ägyptischen, arabischen und chinesischen Karten ist der Süden oben, in Europa bis zur Renaissance der Osten. Am besten lassen Sie sich vorher eine vorhandene Karte zeigen oder in den Sand zeichnen. Es kann allerdings sein, dass sich Ihre Gesprächspartner überhaupt nicht für die Antarktis oder Amerika interessieren und viel lieber wüssten, wie es hinter den Bergen am Horizont weitergeht oder welche Flüsse man an welchen Stellen überqueren muss, um nach Rom zu gelangen. Ihre aus dem Gedächtnis gezeichnete Weltkarte ist dann weniger wert als eine Beschreibung der Strecke, wie sie jeder zeitgenössische Handlungsreisende liefern kann.
Gezeiten
Dass die Gezeiten mit den Mondphasen zu tun haben, ist so offensichtlich, dass alle Küstenbewohner es von allein mitbekommen – umso mehr, als dieses Wissen für ihre Fischfangtätigkeiten relevant ist. Warum das so ist und insbesondere, warum es nicht nur eine Flut pro Tag gibt, sondern zwei, bleibt länger umstritten. Kepler ist im Prinzip auf dem richtigen Weg, Galileo und Descartes nicht. Erst Newton kommt im späten 17. Jahrhundert auf die Sache mit der gegenseitigen Anziehung von Massen, zum Beispiel der von Erde und Mond. Bis die Gezeiten im 19. Jahrhundert einigermaßen berechenbar werden, müssen aber noch diverse Feinheiten entdeckt werden, über die Sie wahrscheinlich genauso wenig wissen wie Ihre Gesprächspartner. Schweigen Sie lieber, anstatt unvorsichtig irgendwas zu behaupten. Seltsame Meinungen über Gezeiten sind auch in der Gegenwart häufiger als korrekte.
Gold
Ja, man kann es im Prinzip aus anderen Elementen herstellen. Nein, die Sache lohnt sich nicht. Die Kosten der Herstellung übersteigen den Gewinn bei weitem, und ein Alchimistenlabor und etwas Pferdemist reichen dafür nicht aus. Man braucht schon einen Atomreaktor. Es gibt keinen «Stein der Weisen», mit dessen Hilfe man billige Substanzen in Gold oder Silber verwandeln oder das ewige Leben erlangen kann. Allerdings führen solche falschen Hoffnungen zu vielen richtigen Erkenntnissen über Chemie und hin und wieder auch zur Bereitstellung von Forschungsgeldern. Strategisch ist es hier vielleicht günstiger zu schweigen. Halten Sie Gastgeber aber davon ab, ihr Geld offensichtlichen Betrügern zu schenken.
Homosexualität
Die Welt geht nicht unter, nur weil man Homosexualität toleriert oder legalisiert. Allerdings ist das auch in der Gegenwart in vielen Ländern umstritten, und in der Vergangenheit gibt es wiederum Zeiten und Orte, an denen die Leute gar nicht wissen, von welchem Problem Sie überhaupt reden.
Hygiene
Es gibt Lebewesen, die so klein sind, dass man sie nicht sehen kann. Sie können Krankheiten hervorrufen. In der Antike taucht dieser Gedanke zwar schon gelegentlich auf, er setzt sich aber erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts allgemein durch, zusammen mit der Erkenntnis, dass kochendes Wasser diese Lebewesen abtötet.
Kunst
Vielleicht besuchen Sie im Jahr 1889 die Ausstellung, die Paul Gauguin parallel zur Weltausstellung (siehe Kapitel «Die Welt an einem Ort versammelt») organisiert hat. Vielleicht hören Sie Anfang der 1960er eine britische Band mit seltsamen Frisuren in einem Hamburger Club. Neben Ihnen sagt jemand: «Ich glaube ja, dieser Impressionismus kommt eines Tages noch ganz groß raus», oder: «Ich glaube ja, dieser Krach, den die da vorne machen, wird in vierzig Jahren von Sinfonieorchestern nachgespielt werden». Sagen Sie dann einfach: «Genau, das glaube ich auch.»
Leben
Entsteht unter Alltagsbedingungen nicht spontan aus Staub oder Schlamm, wie man im antiken Griechenland annimmt. Die Forschung wird lange Zeit dadurch verwirrt, dass herumstehende Lebensmittel, sogar wenn man sie vorher auf eine lebensfeindliche Temperatur erhitzt hat, Schimmel, Mikroben oder sogar Maden hervorbringen. Zusätzlich ist das Problem wie so oft, dass Aristoteles in dieser Angelegenheit auf dem Holzweg ist, man seine Schriften in Europa aber zweitausend Jahre lang nicht groß anzweifelt. Tatsächlich enthält die Luft Keime, die auf den Nährboden herabrieseln, und Fliegen, die Eier legen. Erst im späten 17. Jahrhundert mehren sich die Experimente, bei denen eine solche Kontamination verhindert wird. Dieser experimentelle Nachweis enthält aber diverse Fehlerquellen, und so dauert es trotzdem noch ziemlich lange, bis Louis Pasteur 1864 abschließend belegt, dass Leben nicht aus dem Nichts entstehen kann.
Irgendwoher muss das Leben, wenn man weit genug in die Vergangenheit zurückgeht, allerdings einmal gekommen sein. Diese Frage ist zum Erscheinungszeitpunkt des vorliegenden Buchs noch umstritten. Leider sind Sie als Zeitreisende in keiner günstigen Position, sie zu beantworten. Sie können in eine Vergangenheit zurückreisen, in der die Erde noch unbelebt war, und dort nachsehen. Aber wo und wann genau Sie nachsehen müssen, können wir Ihnen nicht sagen. Außerdem werden Sie auf der Früherde so viele Keime hinterlassen, dass in dieser Parallelversion Sie die Ursache für das Leben auf der Erde sind. Klingt erst mal super, aber dieses Leben wird nicht direkt von Ihnen abstammen, sondern von den Bazillen auf Ihrer Haut oder in Ihrer Spucke. Und das sind noch die schöneren Möglichkeiten.
Menstruation
In vielen Zeiten und Ländern herrscht der Glaube vor, dass Frauen durch die Menstruation körperlich so stark beeinträchtigt sind, dass sie zum Beispiel keine politischen Ämter ausüben können. Häufig kommt dazu die Annahme, dass von menstruierenden Frauen irgendeine Art problematische Wirkung ausgeht, die Pflanzen schadet, Bier und Wein verdirbt und Teig am Aufgehen hindert. Noch in den 1920er Jahren behauptet der amerikanische Kinderarzt Béla Schick, ein «Menotoxin» im Blut menstruierender Frauen entdeckt zu haben, das Blumen bei Berührung verwelken lässt. Andere Forscher schließen sich an, und es dauert bis in die 1970er Jahre, bis diese Idee wieder aus der Welt geschafft werden kann. Machen Sie sich aber keine großen Hoffnungen, hier durch Berichte aus der Gegenwart etwas ändern zu können. Das Problem geht letzten Endes nicht auf mangelhafte Forschung zurück, sondern auf den Wunsch, Frauen von einflussreichen Positionen fernzuhalten. Gegen solche Wünsche helfen keine medizinischen Erkenntnisse.
Meteorite
Gelegentlich fällt mit Getöse etwas Leuchtendes vom Himmel. Und gelegentlich werden Metallbrocken auf der Erde gefunden. Zwischen diesen beiden Phänomenen gibt es einen Zusammenhang, den der deutsche Physiker Ernst Florens Friedrich Chladni erstmals 1794 beschreibt. Seine These ist umstritten und wird unter anderem von Goethe und Alexander von Humboldt abgelehnt. Falls jemand Sie fragt, können Sie bestätigen, dass diese Brocken nicht aus der Erdatmosphäre stammen und auch nicht von «Mondvulkanen» ausgeworfen werden, sondern aus dem Weltall herabfallen.
Mond
Sie wissen, dass er nicht selbst leuchtet, sondern nur das Sonnenlicht reflektiert. Beides ist in Griechenland, China und Indien seit rund zweitausend Jahren bekannt. Vor dieser Zeit oder in eher schlecht informierten Regionen können Sie vielleicht Forscher oder interessierte Laien mit Ihrem Wissen erfreuen.
Religion
Man kann durchaus komfortabel und friedlich in einem Land leben, in dem die Religion nicht die Kontrolle über alles hat. Eventuell kommt man dafür in die Hölle, das ist nicht erwiesen, und um es zu beweisen, bräuchte man eine andere Art Reisemaschine. Aber Sie können davon berichten, dass in dem Land, aus dem Sie kommen, Priester auch nur ein normaler Beruf ist, und dass man dort Kirchen umwandelt in Hotels, Bars, Ferienwohnungen, Kletterhallen. Okay, der letzte Punkt ist schwer zu verstehen, dafür muss man erst mal Klettern erklären.
Sonne
Obwohl der Augenschein dagegen spricht, dreht sich die Erde um die Sonne und nicht umgekehrt. Diese Meinung wird vor dem 16. Jahrhundert nur ganz vereinzelt vertreten. Auch die chinesische und die islamische Welt haben hier ausnahmsweise keinen Wissensvorsprung. Überlegen Sie sich aber vorher, was Sie antworten können, wenn man Sie nach Anzeichen fragt, die für Ihre bizarre Behauptung sprechen.
Ärger mit dem Papst ist übrigens nicht zu erwarten. Sie sind keine berühmte Autorin und kein anerkannter Wissenschaftler, sondern nur irgendeine seltsame Person auf der Durchreise. Wenn Sie nicht Galilei sind (siehe Kapitel «Galileo, Maria, James und Emmy»), brauchen Sie sich deshalb keine Sorgen zu machen.
Stechmücken
Denguefieber, Gelbfieber, Malaria und noch einige andere Infektionskrankheiten werden, wie man seit den 1890er Jahren weiß, nicht durch schlechte Luft, sondern durch Stechmücken übertragen. Mückennetze verringern das Risiko.
Wärme
Wahrscheinlich wissen Sie zumindest, was Wärme nicht ist, nämlich keine Substanz, von der warme Gegenstände mehr enthalten als kalte. Das ist im 17. Jahrhundert noch umstritten.
Wahlrecht
Der Staat geht nicht gleich zugrunde, wenn man ein Wahlrecht einführt – nicht einmal dann, wenn auch Frauen oder Arme wählen dürfen. Abgesehen von gelegentlichen Experimenten zum Beispiel bei den alten Griechen (auch hier ohne Frauen und Versklavte), breitet sich das Wahlrecht nicht vor dem 19. Jahrhundert aus, und Frauen bekommen es erst im Laufe des 20. Jahrhunderts. Aber Vorsicht, in vielen Zeiten ist das Wahlrecht ein riskantes Thema. Als ortsfremde Person genießen Sie wahrscheinlich etwas Narrenfreiheit. Falls Sie mit Menschen ins Gespräch kommen, die sich mehr Gleichheit wünschen, können Sie jedenfalls versichern, dass solche Meinungen Zukunft haben.
Zähne
Zahnschmerzen beschäftigen die Menschheit schon lange, sie sind also unabhängig von Ihrem Reiseziel kein ungewöhnliches Gesprächsthema. In Assyrien, Ägypten, Asien, Südamerika, Griechenland und noch im mittelalterlichen Europa verdächtigt man als Ursache den Zahnwurm. Im Laufe des 19. Jahrhunderts kommt der Zahnwurm aus der Mode. Im 20. Jahrhundert wird eine Reihe von Hypothesen durchprobiert, deren allmähliche Verfeinerung aber für Urlaubsgespräche keine Rolle spielt. Von der entscheidenden Tatsache, dass Kohlenhydrate, insbesondere Zucker, in Kombination mit schlechter Zahnhygiene die Ursache von Karies sind, haben Sie in der Grundschule erfahren. Nützlich wird diese Idee aber eigentlich erst ab dem 16. Jahrhundert, weil insbesondere arme Leute vorher keinen Zucker und auch sonst kaum Süßes konsumieren.
Zugvögel
Obwohl sich einiges über die jahreszeitabhängigen Wandergewohnheiten von Vögeln schon seit Jahrtausenden in Texten und Traditionen niederschlägt, bleiben die Details lange unklar. Dass Schwalben und Störche den Winter in Afrika und nicht etwa im Winterschlaf oder unter Wasser (so wie die Frösche) verbringen, ist bis ins 18. Jahrhundert umstritten und wird auch im 19. Jahrhundert noch diskutiert. Bewiesen wird die Sache schließlich durch «Pfeilstörche», die mit Pfeilen aus afrikanischem Holz im Körper nach Deutschland zurückkehren, und später durch das systematische Beringen von Vogelbeinen.
Natürlich geht es nicht nur darum, die armen Menschen in der Vergangenheit großzügig an unseren Erkenntnissen teilhaben zu lassen und dabei selbst schlau zu wirken, obwohl man persönlich nicht das Geringste zur Erforschung der Fledermaus oder des Mondes beigetragen hat. Zeitreisen sind keine Einbahnstraße. Die Bewohner der Vergangenheit verfügen ihrerseits über eine ganze Menge Wissen, das für die Gegenwart ohne Zeitmaschine unzugänglich oder nur indirekt zu erschließen ist.
Der Schriftsteller Johann Gottfried Seume gibt in seinem «Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802» eine Geschichte wieder, die ihm eine Reisebekanntschaft über einen Ausflug mit einer Gruppe von Forschern erzählt: «Hier entstand nun ein Zwist über eine Vertiefung in dem Felsen, die ein jeder nach seiner Weise interpretierte. Einige hielten sie für das Grab eines Kindes irgendeiner alten vornehmen Familie, und brachten Beweise, die vielleicht ebenso problematisch waren, wie die Sache, welche sie beweisen sollten. Man sprach und stritt her und hin. Das bemerkte ein alter Bauer nicht weit davon, daß man über dieses Loch sprach. Er kam näher und erkundigte sich und hörte, wovon die Rede war. Das kann ich Ihnen leicht erklären, hob er an; vor ungefähr zwanzig Jahren habe ich es selbst gehauen, um meine Schweine daraus zu füttern: da ich nun seit mehrern Jahren keine Schweine mehr habe, füttere ich keine mehr daraus. Die Archäologen lachten über die bündige Erklärung, ohne welche sie unstreitig noch lange sehr gelehrt darüber gesprochen und vielleicht sogar geschrieben hätten.»
Es gibt viele Fragen der Gegenwart, über die Sie in der Vergangenheit leicht Auskunft erhalten können, wenn Sie im richtigen Moment vor Ort sind. Bräuche, Bauwerke, die Funktionsweise und Verwendung von Geräten sind leichter zu verstehen, wenn man sie sich von Zeitgenossen erklären lässt, als wenn man ihre archäologischen Überreste betrachtet. Über Herkunft und Bedeutung vieler Ortsnamen, aber auch die Entwicklung aller anderen Wörter können Sprachforscher ohne Zeitreisen nur umständlich spekulieren. Der mündliche Sprachgebrauch ist bis zur Erfindung von Tonaufnahmegeräten weitgehend undokumentiert. Manches gerät einfach in Vergessenheit. Römische Aquädukte werden zu geheimen Verbindungsgängen umgedeutet, die Überreste des Limes gelten als «Teufelsmauer», und niemand weiß mehr, wozu die Osterinselköpfe oder die Nazca-Linien gut sein sollten.
Mit Sicherheit ist unser heutiger Wissensstand nicht einfach die Summe alles früheren Wissens plus noch ein paar schlaue neue Erkenntnisse. Die Vergangenheit enthält nicht nur verlorene Volksbräuche und Sprachen oder unerklärte Schweinetröge, sondern auch in Vergessenheit geratene Theorien, Erkenntnisse, Ideen und Informationen, die für die Gegenwart von ganz konkretem Nutzen sein könnten. Durch Fragen an die Vergangenheit wird auch die Gegenwart klüger. Stellen Sie diese Fragen, oder sehen Sie wenigstens aufmerksam hin.