Kalte Zeiten, warme Zeiten
Ein weites Betätigungsfeld für Zeitreisende ist die Klimaforschung. Die Erde ist viereinhalb Milliarden Jahre alt. Für knapp viereinhalb Milliarden davon gab es keinerlei direkte Temperaturmessungen, bis zur Ausbreitung von Zeitreisen. Solche Messwerte von der Oberfläche der Erde sind – in Verbindung mit Daten zur Sonnenaktivität, Wolkenverteilung, Kohlendioxidkonzentration – eine Grundlage für die Erforschung globaler, langfristiger Klimaveränderungen. Man braucht sie insbesondere zur Einordnung und zum Verständnis der globalen Erwärmung, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beginnt.
Alle Temperaturdaten vor 1850 sind Stückwerk. Langfristige Temperaturmessungen existieren vorwiegend für Europa, Nordamerika und Ostasien. Für weite Teile der restlichen Welt gibt es überhaupt keine Daten oder nur solche, die weniger als ein paar Jahrzehnte zurückreichen. Bisher behilft man sich hier mit indirekten Methoden, indem man Prozesse betrachtet, die von der Temperatur abhängen, zum Beispiel anhand von Baumringen, Korallenriffen und antarktischem Eis. Die Interpretation und Kalibration dieser indirekten Methoden ist allerdings nicht ganz einfach. Die Zeitmaschine kann hier nützlich sein, um kritische Lücken in der Datenbasis zu füllen.
Thermometer sind billig, die Temperatur ablesen geht schnell, und irgendein Wetter ist immer, egal, wie weit man zurückreist. Sie müssen lediglich ein paar Grundregeln beachten. Zum einen empfiehlt es sich, nicht nur ein Thermometer zu kaufen, sondern mehrere, die auf
unterschiedliche Art messen. Professionelle Wetterstationen arbeiten heute mit digitalen Thermometern, die allerdings Strom oder Batterien benötigen, beides in der Vergangenheit nicht immer einfach zu beschaffen. Man sollte deshalb auf jeden Fall auch ein robustes analoges Gerät mitnehmen, etwa eines mit Quecksilber- oder Alkoholsäule.
Es empfiehlt sich, jedes einzelne Thermometer vor der Zeitreise eine Weile zu beobachten und die Ergebnisse mit anderen Messungen zu vergleichen. So findet man heraus, ob das Gerät systematische Fehler hat, also immer zu hohe oder immer zu niedrige Temperaturen anzeigt. Außerdem können Sie so eingrenzen, inwieweit Ihre eigenen Messungen vertrauenswürdig sind. Wenn sie mehr als ein Grad danebenliegen, dann ist das Thermometer zumindest für die letzten hundert Jahre nutzlos, weil die historischen Messungen genauer sind. Wer weiter zurückreist, kann sich größere Abweichungen leisten, weil die existierenden Temperaturmessungen und -schätzungen weniger präzise sind.
Als Nächstes sollten Sie prüfen, an welcher Stelle Sie das Thermometer aufstellen. Es empfiehlt sich, in der Vergangenheit zunächst eine offizielle Messstation aufzusuchen und das eigene Thermometer auch dort noch einmal zu überprüfen. Der Transport in Zeitmaschinen sollte zwar keine Auswirkungen auf Thermometer haben, aber genau untersucht hat das noch niemand. Die Messstation am ehemaligen Flughafen Berlin-Tempelhof verfügt über Daten, die bis zum Jahr 1876 zurückreichen. Allerdings ist die Station mehrfach umgezogen und deshalb nicht unbedingt leicht zu finden. Sie wandert in ihrer Geschichte durch die Stadtteile Mitte, Kreuzberg und
Dahlem. Erst im Jahr 1950 landet sie tatsächlich am Flughafen Tempelhof.
Besser eignet sich die Sternwarte Kremsmünster in Oberösterreich, an der seit 1762 jeden Tag die Temperatur gemessen wird, immer am selben Ort. Die Sternwarte ist mit ihrem fünfzig Meter hohen Turm, der wenige Jahre vor Beginn der Temperaturmessungen vollendet wurde, leicht zu finden. Wer noch weiter zurückreist, sollte in England vorbeischauen: Die längste kontinuierliche Serie von Temperaturmessungen überhaupt ist die CET
, kurz für «Central England Temperatures». Die Messungen beginnen im Jahr 1659, erfolgen allerdings zunächst in unregelmäßigen Abständen und teilweise in ungeheizten Räumen statt draußen. Seit 1772 wird die Außentemperatur in mehreren Stationen in England täglich gemessen. Die Temperatur ist eine der am häufigsten gemessenen oder geschätzten Parameter in der Geschichte der Menschheit, übertroffen nur von der Zeit. Zumindest in den letzten zweihundert Jahren sollten Sie problemlos jemanden finden, der über die Temperatur Auskunft geben kann. Die Frage ist nur, in welcher Einheit.
Verlässliche Thermometer, die auf der Wärmeausdehnung von Alkohol oder Quecksilber beruhen, gibt es erst seit dem frühen 18. Jahrhundert. Zu dieser Zeit sind Dutzende unterschiedliche Temperaturskalen im Umlauf. Scheinbar jeder Naturwissenschaftler, der etwas auf sich hält, hat seine eigene. Zur Eichung der Skalen verwendet man jeweils zwei Dinge mit vermeintlich konstanter Temperatur, eines am kalten und eines am warmen Ende der Skala, etwa gefrierendes Wasser und den menschlichen Körper (irgendeinen) oder ein Wasserbad, das für den
Menschen (oder jedenfalls für Isaac Newton) gerade noch so erträglich ist. Im 18. Jahrhundert setzen sich die ersten Varianten der Skalen durch, die wir heute noch verwenden, Celsius und Fahrenheit.
Erst im späten 19. Jahrhundert stellt sich heraus, dass man Thermometer vor Wind und direkter Sonneneinstrahlung schützen muss und sie nicht direkt am Boden installieren darf, da sonst das Messergebnis verfälscht wird. Aus dieser Zeit stammt das Design der heute noch gebräuchlichen, weiß lackierten Thermometerhütten, in etwa so groß wie ein Katzenhaus, installiert zwei Meter über dem Boden. Erfunden werden diese Hütten von Thomas Stevenson, dem Vater des Schriftstellers Robert Louis Stevenson. Messwerte von Wissenschaftlern, die ihre Thermometer ohne jeden Schutz installieren, sind jedenfalls nur bedingt vertrauenswürdig.
Aus all dem folgt für klimainteressierte Zeitreisende zweierlei: Um die eigenen Geräte zu testen, sollten Sie besser nicht mehr als hundert Jahre zurückreisen, weil früher kein einfacher Vergleich möglich ist. Es hilft nicht, bei Newton oder Galilei zu klopfen und sie nach der Temperatur zu fragen. Beide haben dazu sicher eine Meinung, nur wird Ihnen die nicht weiterhelfen. Andererseits müssen Sie nur wenig mehr als hundert Jahre zurückreisen, um der Wissenschaft einen Dienst zu erweisen, selbst wenn Sie sich geographisch nicht vom Fleck bewegen und in Industrieländern bleiben.
In der Vergangenheit angekommen, egal welcher Vergangenheit, sollten Sie das Thermometer wie erwähnt geschützt aufstellen und sorgsam die Temperaturen über den Tagesverlauf notieren, zusammen mit Datum, Ort,
Zeit und Notizen über andere relevante Wetterereignisse, die die Temperatur beeinflussen könnten (Bewölkung, Niederschlag, Schneedecke, Waldbrände, Vulkanausbrüche, Asteroideneinschläge). Diese Metadaten sind genauso wichtig wie die Temperatur selbst. Achten Sie darauf, dass niemand sich an den Apparaten vergreift, kein Tier, kein Mensch, und dass niemand auf die Idee kommt, Sie betrieben irgendeine Art Hokuspokus. Am besten verstecken Sie sich vor anderen Erdbewohnern.
Wie wertvoll diese Temperaturmessungen sind, hängt davon ab, wie weit Sie zurückreisen, wohin Sie reisen, wie lange Sie dort bleiben und wie unsicher die bisherigen Schätzungen für die gewählte Epoche sind. Schon die vorhandenen Messungen von einem einzigen Ort in Mitteleuropa zeigen deutlich den Anstieg der Temperaturen in den letzten fünfzig Jahren um ein Grad über dem Langzeitmittel. Die Messungen aus Großbritannien decken sogar einen Teil der Kleinen Eiszeit ab. Zwischen 1600 und 1800 liegen die Temperaturen in England manchmal bis zu zwei Grad unter dem langfristigen Durchschnitt. Allerdings benötigt man für solche Beobachtungen jahrelange, konsistente Messreihen, um kurzfristiges Wetter von langfristigem Klima unterscheiden zu können.
Eine einzelne Messung der Temperatur ist nutzlos. Temperaturschwankungen von mehreren Grad von einem Tag auf den anderen sind nicht selten. Das kann jeder bestätigen, der schon einmal im Frühling in ein Schneegestöber geraten ist. In einem Jahr verändert sich die monatliche Durchschnittstemperatur in mitteleuropäischen Orten um fünfzehn bis zwanzig Grad. Zum Vergleich: Die Temperatur auf der Erde, geschätzt mit Hilfe von Baumringen,
Fossilien, Eisbohrungen oder Tiefseeablagerungen, hat sich in den letzten zehn Millionen Jahren um weniger als zehn Grad verändert. In den letzten zehntausend Jahren sind es sogar weniger als zwei Grad.
Die Auswahl des Messzeitraums ist ebenfalls wichtig. Erdgeschichtlich betrachtet sind die letzten zehntausend Jahre relativ langweilig. Die aktuelle schnelle Erwärmung ist eindeutig das aufregendste Ereignis in der Temperaturgeschichte des Planeten seit der letzten Eiszeit. Im Pleistozän dagegen, das die zweieinhalb Millionen Jahre davor umfasst, springt die Temperatur auf der Erde wild auf und nieder (mehr über diese Epoche im Kapitel «Durchs wilde Pleistozän»). Eine Serie von Messungen, die nur ein paar tausend Jahre abdeckt, könnte deutliche Veränderungen der mittleren Temperaturen offenbaren, vielleicht sogar um mehr als ein Grad. In der Klimaforschung ist das schon sehr viel.
Wer noch weiter zurückreist, wird in den meisten Fällen höhere Temperaturen vorfinden als heute. Die letzte Warmzeit im Paläozän und Eozän eignet sich wie kein anderes Erdzeitalter für klimainteressierte Zeitreisende. Gerahmt wird diese Periode von mehreren schweren Kollisionen mit Asteroiden. Sie beginnt mit dem Chicxulub-Einschlag vor circa sechsundsechzig Millionen Jahren (bitte im Kapitel «Kleine und große Weltuntergänge» nachlesen) und endet dreißig Millionen Jahre später mit den Einschlägen in der Chesapeake Bay (Nordamerika) und am Fluss Popigai (Sibirien). Dazwischen liegen die Temperaturen fünf bis fünfzehn Grad über den aktuellen Durchschnittswerten.
So warm war es seitdem nicht mehr, und es wird
womöglich bis 2200 dauern, bis wir wieder in diese Temperaturbereiche vorstoßen. Feldforschung in dieser Warmzeit bietet sich auch deshalb an, weil die Atmosphäre genügend Sauerstoff zum Atmen enthält. Saurier oder andere Tiere, die am Verzehr von Zeitreisenden interessiert sein könnten, gibt es für eine Weile nicht mehr. Große Säugetiere sind selten. In arktischen Regionen leben unter anderem Krokodile und Schildkröten. Man darf sich jedoch nicht vorstellen, dass man spektakuläre Bilder von Krokodilen auf Eisschollen machen kann, denn natürlich gibt es in dieser Zeit kein Eis.
Wer auf schnellen Erfolg aus ist, kann sich auf Epochen konzentrieren, in denen die Temperatur sich rasant ändert. Eine spektakuläre Wärmeperiode, die den sperrigen Namen «Paläozän-Eozän-Temperaturmaximum» (PETM
) trägt, findet vor etwa 55,5 Millionen Jahren statt. Innerhalb kurzer Zeit steigen die globalen Temperaturen um fünf bis acht Grad an, bevor es ebenso schnell wieder kälter wird. Die gesamte überraschende Phase dauert nur zweihunderttausend Jahre. Man geht heute davon aus, dass das PETM
auf einige tausend Milliarden Tonnen Kohlenstoff zurückgeht, die innerhalb von Tausenden von Jahren in der Atmosphäre landen, in Form von Kohlendioxid und Methan. Beides sind Treibhausgase, die Energie in der Atmosphäre halten, die ansonsten ins Weltall entkommen würde; daher die Erwärmung. Pro Jahr entsteht in der Zeit des PETM
etwa eine Milliarde Tonnen von diesen Gasen. Zum Vergleich: Die Menschheit produziert ungefähr das Zehnfache pro Jahr. Woher der Kohlenstoff kommt, der das PETM
verursacht, ist unklar. Autos und Kohlekraftwerke gibt es noch nicht. Stattdessen werden
Vulkane, Kometen, Plattentektonik, Änderungen der Erdbahn und andere drastische natürliche Ursachen zur Erklärung herangezogen. Das PETM
ist vor Erscheinen der Menschheit die rasanteste Erwärmungsphase der letzten hundert Millionen Jahre. Seitdem wurde es nie wieder so warm auf dem Planeten.
Gleich nach dem PETM
, vor 53,6 Millionen Jahren, kommt es zu einer ganz ähnlichen, etwas weniger rasanten Periode, Eozän-Temperaturmaximum-2, ETM
-2 oder, leichter zu merken, Elmo-Ereignis (benannt nicht nach der roten Muppets-Figur, sondern nach dem «Eocene Layer of Mysterious Origin», einer zu dieser Zeit abgelagerten Sedimentschicht in den Meeren). Wieder gelangen Unmengen Kohlenstoff in die Atmosphäre, wieder steigen die Temperaturen schnell an. Dann, nur wenige Millionen Jahre später, vollzieht sich ein ganz anderes Spektakel, das sogenannte Azolla-Ereignis: Im Arktischen Ozean, der in dieser Zeit vermutlich durch Landmassen vom Rest der Weltmeere getrennt ist, vermehren sich die Algenfarne, wissenschaftlich Azolla. Die Ausbreitung der Azolla wird begünstigt durch warme Temperaturen, geringe Niederschläge und die spezielle Zusammensetzung der Atmosphäre, die wiederum eine Folge der vorangegangenen Erwärmung ist. Azolla-Farne wachsen wie wild und binden dabei Kohlendioxid aus der Atmosphäre. Nach dem Absterben der Pflanzen sammeln sie sich am Meeresboden. Der Kohlendioxidgehalt in der Luft verringert sich auf weniger als ein Drittel, was dazu führt, dass die Temperaturen auf der Erde zügig abfallen, der erste Schritt auf dem Weg von der Warmzeit zur Eiszeit. Die gewaltigen Schichten an toten Azolla-Farnen, die sich in der Folge bilden,
sind heute die Stellen, an denen man in der Arktis nach Erdöl sucht. Manche behaupten, ein künstlich herbeigeführtes Azolla-Ereignis könnte uns heute vor der erneuten globalen Erwärmung retten.
Warmzeiten sind keineswegs so etwas wie Urlaub am Strand. Schon wenige Grad Erwärmung verändern die Atmosphäre, das Wetter, die Vegetation und die Tierwelt nachhaltig. Gletscher schmelzen, und das Eis an den Polen verschwindet. Der Meeresspiegel steigt, niedrig liegende Teile der Kontinente werden überflutet. Wenn die Erwärmung so schnell vonstatten geht wie im PETM
oder gerade jetzt, dann kann die Evolution nicht mithalten. Es bleibt nicht genug Zeit für die natürlichen Prozesse der Anpassung. Die Folge ist das massenhafte Aussterben von Pflanzen- und Tierarten, eine drastische Umkrempelung des Ökosystems.
Zeitreisende sollten sich darauf vorbereiten, unerwartete Bedingungen vorzufinden. Sie müssen Ihre vorgefassten Meinungen über Jahreszeiten, Temperaturen, Flora, Fauna und die damit verbundenen Reiseplanungen über Bord werfen. Planen Sie stattdessen flexibel und versuchen Sie, auf alles vorbereitet zu sein. Sonnencreme einpacken, auch wenn Sie in Wintermonate verreisen. Moskitonetze mitnehmen, auch wenn Sie in die Antarktis fahren. Gummistiefel für überraschend auftretende Feuchtgebiete.
PETM
, Elmo- und Azolla-Ereignis sind niedrig hängende Früchte für Zeitreisende mit Thermometer. Sie müssen lediglich direkt davor ein paar Messstationen einrichten, geschützt vor Sonne und Wind und am besten verteilt über verschiedene Kontinente, dann über ein paar tausend Jahre regelmäßig die Temperatur messen,
vielleicht jeden Tag einmal, und gleichzeitig aufmerksam die Umwelt beobachten und Veränderungen dokumentieren. Nimmt man an, dass eine Temperaturmessung wenige Minuten dauert, und ignoriert man die Dauer der Zeitreise, dann benötigt man für das gesamte Unterfangen ein paar hundert Jahre Arbeit, jedenfalls bei Annahme einer Vierzig-Stunden-Woche. Für eine Person scheint das übermäßig viel Aufwand zu sein, aber schon ein wohlorganisiertes Team von nur hundert Zeitreisenden könnte innerhalb von wenigen Jahren eine wirklich einmalige Messreihe abliefern. Es gibt leider keinen Nobelpreis für Temperaturmessungen, aber verdient hätten diese Leute ihn jedenfalls.