Kapitel Eins
Die modifizierte Mercedes G-Klasse glitt trotz ihrer Masse lautlos durch den Sturm, während fauchende Böen Regentropfen gegen die Scheiben peitschten und die Straßenbeleuchtung die Umgebung in einen gespenstischen Schein tauchte. Es war fast Mitternacht. Die heruntergekommene Gegend verbarg sich hinter einer Wand aus Dunst, die lediglich deren verschwommene Schemen offenbarte und eine Kulisse erschuf, die mehr als erschreckend war. Besonders wenn grelle Blitze die verfallenen Straßenzüge erhellten und harte Schatten kreierten, die den Insassen Dinge vorgaukelten, die nicht existierten. Hin und wieder erschütterte die beschädigte Straße den Wagen, aber dessen Fahrwerk kompensierte selbst die gröbsten Schlaglöcher und wiegte Zak in den weichen Sitzen, während er sich darauf vorbereitete, eine weitere Leiche für das Harvest-Programm zu extrahieren.
Zak war tief gefallen, seit ihm das Karma mit Anlauf in den Hintern getreten und er seinen Job verloren hatte. Trotzdem wusste er die Chance zu schätzen, die seine Schwester ihm verschafft hatte, um die Zeit bis zur endgültigen Klärung des Disziplinarverfahrens gegen ihn zu überbrücken. Andernfalls hätte er unter einer verdammten Brücke schlafen müssen – wie so viele Einwohner des gigantischen Molochs, der mittlerweile fast siebenhundert Quadratkilometer beanspruchte. Siebenhundert Quadratkilometer voll von Armut, Kriminalität und einem Brodeln, das sich nur noch schwer unter Kontrolle halten ließ. Wenn nicht bald ein Ventil geöffnet wurde, würde der verdammte Kessel explodieren und alle mit sich reißen, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten. Was auf gut achtzig Prozent der Bürger zutraf, denn nur die wenigsten verfügten über die finanziellen Mittel, um Richthofen ein für alle Mal den Rücken kehren zu können.
Die militärische Uhr des Displays zeigte exakt null hundert Stunden an, als Zak und die anderen sich ihrem Ziel über eine verlassene Unterführung näherten, die sie direkt ins Zentrum eines der schlimmsten Sektoren des Stadtstaates bringen würde: Mokeem. Ein heruntergekommenes Einwandererviertel wie viele andere auch, die das Stadtbild Richthofens seit Jahrzehnten prägten. Bei dem Bezirk handelte es sich um einen besonders volatilen sozialen Brennpunkt, den die Obrigkeit bereits vor Jahren aufgegeben hatte. Stattdessen hatten Mitglieder der Al Khana-Front das Ruder übernommen, um die hauptsächlich in Armut lebenden Menschen zu mobilisieren und bei den nächsten Wahlen ein Zeichen zu setzen, das die politische Landschaft Richthofens für immer verändern würde. Der über die Jahrzehnte andauernde Zustrom von Migranten aus dem Nahen Osten und Afrika hatte die Mehrheitsverhältnisse in der Bevölkerungszusammensetzung schleichend verändert und die Liberation des Wahlrechts 2068 zur Gründung der ersten ernstzunehmenden muslimischen Partei Deutschlands geführt. Die unter der Führung Yaffar Amins dabei war, zum letzten Schlag auszuholen. Die zunehmende Digitalisierung sorgte im gleichen Atemzug dafür, dass die Mehrheit dieser schlecht ausgebildeten Menschen nur Jobs am unteren Ende der Skala finden konnte. Tätigkeiten, die es ihnen nicht ermöglichten, für sich und ihre Liebsten zu sorgen, geschweige denn ein Leben zu führen, das nicht von Verzicht und Verlust geprägt war.
Die Konzerne hatten die Welt nach dem Zusammenbruch der EU unter sich aufgeteilt und die massivsten Niedriglohnsektoren des Planeten in Europa geschaffen, befeuert durch schlecht ausgebildete Arbeitskräfte aus Entwicklungsländern. Aber dieses ewige Streben nach Profit und Macht würde einen Preis fordern. Einen Preis, der den erkauften Frieden zunichtemachen und zu einem Bürgerkrieg führen konnte, der Deutschland – und am Ende vielleicht ganz Europa – vernichten konnte.
Die kapitalstarken Konzerne favorisierten die Freien Patrioten, eine erzkonservative Partei, die die Interessen des alteingesessenen Geldadels der Uppers vertrat. Extrem Reiche, deren Habitate nur mit Choppern und Drohnen zu erreichen waren und sich hoch über den Downers befanden, während die Einwohner derselben am Boden um ihr Überleben kämpften.
Biophol, einer der kapitalstärksten Konzerne Deutschlands, der innerhalb weniger Jahrzehnte wie ein schwarzes Loch über seine Konkurrenten hergefallen und einen nach dem anderen geschluckt hatte, versprach den verlorenen Menschen seit Kurzem Hoffnung auf ein auskömmliches Leben. Und allen damit verbundenen Vorzügen im Rahmen eines neuen Programms, dessen vollumfängliche Markteinführung kurz bevorstand. Es sollte die sozialen Unruhen beenden, den ausufernden illegalen Organhandel zurückdrängen und endlich für Ruhe sorgen, um dem Konzern zu ermöglichen, sich wieder aufs Kerngeschäft zu konzentrieren. Die Al Khana-Front hatte über Kontakte einer radikalen Oppositionspartei einen Untersuchungsausschuss durchgesetzt, um diese Einführung zu verhindern, während sich das Jahrhundert dem Ende näherte. Die angespannte Stimmung war täglich auf den Straßen zu spüren und mit jedem Tag, den der Jahrhundertwechsel näher rückte, schien der Druck innerhalb der Bevölkerung zu steigen. Befeuert durch eine Unmenge mysteriöser Meinungsmacher, die bei jeder Gelegenheit predigend durch die Downers zogen und den Hass auf die Konzerne schürten. Die Menschen wollten eine Veränderung, und der Wechsel in ein neues Jahrhundert schien dieses Verlangen erheblich zu verstärken. Eine volatile Situation, die durch einen falschen Funken entzündet und zur Explosion gebracht werden konnte. Und Zak war sich nicht sicher, ob die daraus resultierende Druckwelle anschließend noch maßgeblich beeinflusst werden konnte.
Nach einigen Minuten hatte sich das Team dem Ziel auf drei Kilometer genähert und die heiße Phase begann. Zak autorisierte sich bei den Cops, die einen Zubringer mit einem Panzerwagen blockiert hatten und sich eine Schlacht mit Demonstranten lieferten. Er meldete die aktuelle Position ans Hauptquartier und wartete auf die Bestätigung der wachhabenden Konzerner, die die Extraktion koordinierten, während er auf dem Beifahrersitz saß und die Konzernbrigadistin neben ihm durch die verlassenen Straßen des deutschen Stadtstaates dirigierte. Seine Finger glitten unentwegt über das Display, das sich vor ihm in der Konsole des Mercedes befand und die übermittelten Live-Daten der Hauptwache anzeigte. Morde, Überfälle, Clanaktivitäten. Gleichzeitig wurden Verbände des Konzerns dargestellt, die in der Nähe von Zaks Einheit operierten. Die Teams unterstützten sich gegenseitig, falls Not am Mann war, und jeder Teamleader hoffte, das sich so viele grüne Punkte wie möglich während seiner Schicht auf der virtuellen Karte tummelten. Zak glich die im Navigationssystem gespeicherte Adresse ein letztes Mal mit der im konzerninternen Server hinterlegten ab, überprüfte den Zustand des Subjekts und atmete tief durch, um sich kurz darauf die gepanzerten Sicherheitshandschuhe anzuziehen. Anschließend sah er sich aufmerksam um, während der Geländewagen sich über den verrotteten Asphalt kämpfte und der schwere Regen den allgegenwärtigen Gestank etwas milderte.
Desolate Wohnblöcke säumten die aufgerissene sechsspurige Straße, die von Unrat und allem möglichen Gerümpel bedeckt war. Vernagelte Fenster deuteten auf leerstehende Gebäude hin, die von der Regierung sich selbst überlassen und manchmal von Obdachlosen besetzt wurden, die in den von den Clans dominierten Gebieten keine Bleibe fanden. Außerdem hielten sich unzählige Späher in den Ruinen auf, die das Team ankündigten, bevor es auch nur in die Nähe der Zielkoordinaten kam. Aber das machte keinen Unterschied. Zak stand unter dem Schutz Biophols, und der Clan würde sich auf keinen Fall mit dem alles kontrollierenden Konzern anlegen.
Nachdem Zak genug gesehen hatte, warf er einen Blick in den Rückspiegel. Federika, die Anwältin des Teams, schlief, den Mantel eng um ihren Körper geschlungen, im Sitzen. Ihr Kopf schlug hin und wieder gegen die kalte Scheibe, aber das schien sie nicht weiter zu stören, da sie bereits seit sechzehn Stunden auf den Beinen war. Hinter dem Geländewagen fuhr ein Narko – ein gepanzerter Spezialtransporter für mit Biotechnik belegte Organismen .
Plötzlich schaltete die im Sturm schwankende Ampel vor ihnen auf Rot.
»Weiterfahren, Tilly!«, befahl Zak der Konzernbrigadistin. »Wir halten erst am Ziel!«
Sie nickte und trat das Gaspedal durch, ohne sich um die rote Ampel zu kümmern.
»Wie lange noch?« Federika klang verschlafen, während sie sich über die kurzen stacheligen Haare strich. Ihr dunkler Teint machte keinen Hehl aus ihren südeuropäischen Wurzeln und deutete auf ihr feuriges Temperament hin, das Zak vor allem in schwierigen Situationen nicht mehr missen wollte.
»Laut Navi zehn Minuten«, antwortete er. »Haben Sie die kugelsichere Weste an?« Er drehte sich zu ihr um und zeigte auf seine eigene.
Sie verzichtete auf eine Antwort und öffnete ihren Mantel, um ihm die leichte Kevlarweste zu präsentieren.
Zak nickte zufrieden. »Heute wird es nicht einfach werden.«
»Ich weiß«, erwiderte die Anwältin und tippte mit einem schwarz lackierten Fingernagel auf ihren Handheld. »Hab die Akte gelesen. Rechnen Sie mit Widerstand?«
Zak zuckte mit den Achseln und wandte sich wieder um. Er war kein Hellseher, aber die Wahrscheinlichkeit, dass es bei der anstehenden Extraktion Ärger geben würde, war hoch genug, um sich ernste Sorgen zu machen. Allein die Umgebung des Zielobjekts barg ausreichend Potenzial, um eine Lawine der Gewalt loszutreten, die sich bis in die Morgenstunden hinziehen konnte. Weshalb es wichtig war, schnell und effizient vorzugehen.
Das monotone Geräusch der Reifen bewegte sich zwischen beruhigend und einschläfernd. Zak war seit sechs Uhr morgens im Dienst und hatte mittlerweile Mühe, die Augen offen zu halten. Er schluckte drei Koffeintabletten, steckte sich den Knopf des konzerninternen Kommunikationssystems ins Ohr und aktivierte das Mikrofon am Kragen seiner Weste.
»Einsatzbesprechung!« Er starrte auf den ins Armaturenbrett eingelassenen Touchscreen und wartete, bis alle Teammitglieder online waren.
»Die Wohnung liegt im Erdgeschoss eines Zwanzig-Parteien-Blocks am Rande Mokeems. Unser Paket befindet sich in einem Raum an der östlichen Außenwand. Wir müssen also durch den gesamten Wohnbereich. Da zwei Familienangehörige dem Houssain Clan angehören, ist mit Widerstand zu rechnen. Murat und Halif.« Zak markierte die Fahndungsfotos der Kriminellen, um den anderen zu verdeutlichen, dass es sich um echte Schwergewichte handelte. »Ich bin mit Federika und Doktor Reiter vorne. Gruber und Tilly sichern nach hinten ab. Bianca und Doktor Dadjic bleiben wie immer im Narko. Wir holen das Paket und verschwinden, so schnell wir können. Verhalten sie sich professionell und lassen Sie sich nicht provozieren. Jede Verzögerung kann zu schwerwiegenden Problemen und der Beeinträchtigung unser aller Gesundheit führen, verstanden?« Er machte eine kurze Pause, um seine Worte wirken zu lassen. »Die Einsatzbesprechung ist beendet. Sie haben fünf Minuten, um Ihre Ausrüstung zu prüfen.« Zak stellte das Mikro auf stumm und hakte ›Einsatzbesprechung‹ auf dem Touchscreen ab. Anschließend zog er die Sig Sauer aus dem Halfter, prüfte das Magazin und sicherte die Waffe, um einen Augenblick später das vertikal an der Weste angebrachte Kampfmesser aus der Scheide zu ziehen und es wieder in die Halterung zu stecken. Der Scanner mit den Daten des zu extrahierenden Körpers an seinem Handgelenk schien einwandfrei zu funktionieren, genauso wie das Display des leichten Helms, dessen Visier den vereinfachten Grundriss des Wohnblocks und den Plan der näheren Umgebung darstellte. Abschließend ging er den Waffengürtel durch. Vier Ersatzmagazine, Blendgranate, Gasgranate, Pfefferspray, Taschenlampe. Alles da, wo es hingehörte. Er hakte ›Equipment-Check‹ ab. Danach benutzte er das Mikro erneut.
»Zweihundert Meter bis zum Ziel! Ich aktiviere unsere Body-Cams zur Beweisaufnahme. Überlegen Sie sich genau, was Sie sagen, zu wem Sie es sagen und vor allem bevor Sie es sagen, okay? Ab jetzt kann nichts mehr zurückgenommen werden!« Er tippte auf den Touchscreen, worauf sich sieben kleine Live-Bilder aufbauten. Die Kameras zeichneten den Einsatz auf und dienten hauptsächlich dazu, später genug Beweismaterial gegen eventuell klagende Angehörige zur Verfügung zu haben. Allerdings waren die Aufnahmen auch schon verwendet worden, um Karrieren von Konzernbrigadisten zu zerstören, weshalb Zak das Team vor jedem Einsatz erneut warnte.
»Wir sehen uns draußen. Viel Glück!«
Tilly bog zügig in die Straße des Ziels ab. Die grellen Scheinwerfer des gepanzerten Geländewagens pflügten durch die verwilderten Grünanlagen des Wohnblocks, der zwischen acht anderen Gebäuden gleicher Bauart errichtet worden war. Heruntergekommen und desolat. Tilly wendete vor dem baufälligen Block und brachte den Wagen in eine gute Position für die Abfahrt. Bianca parkte den Narko dahinter.
»Los geht’s!« Zak riss die Tür auf und stieg aus. Federika und Tilly folgten ihm, während das Sicherheitssystem des Mercedes aktiviert wurde und eine Drohne aufstieg, um die Geschehnisse aufzuzeichnen und die Gegend im Auge zu behalten. Draußen stieß Gruber zu ihnen. Der stämmige Mann trug eine gesicherte MP5 an einem Gurt vor der kugelsicheren Weste und nickte Zak auffordernd zu, bevor er sich ihm anschloss. Zak wusste aus Grubers Akte, dass er ein Ex-Militär war und wegen mehrerer Einträge bezüglich übertriebener Gewaltanwendung aus dem Dienst der staatlichen Garde entfernt worden war. Der Mann sah aus wie ein Salafist. Langer Bart, Glatze, fanatischer Blick. Allerdings gehörte er politisch zum rechten Flügel der Freien Patrioten, die sich die Rettung des Stadtstaates auf die Fahne geschrieben hatten und seit Jahren immense Zuwächse bei den Wahlen verzeichnen konnten. Nur die Al Khana-Front hatte die Macht, den Patrioten im Moment Einhalt zu gebieten. Ob die muslimischen Hardliner allerdings die Richtigen waren, um dem Rechtsruck des Stadtstaats entgegenzutreten, stand in den Sternen. Vor allem, da sich die Wähler innerhalb der letzten Jahrzehnte eher an den Rändern orientierten und eine kompensierende Mitte praktisch nicht mehr vorhanden war.
Gruber hasste die Araber wie die Pest und würde jeden Salafisten persönlich mit einem Stück Schweinefleisch zwischen den Zähnen in die Hölle schicken, wenn er die Chance bekäme. Und es gab nicht wenige Teamleader, die ihm diesen Wunsch im Fall der Fälle erfüllen würden. Zak gehörte nicht dazu.
»Wir sollten heute auf das Protokoll verzichten und mit einer Blendgranate reingehen, Chief«, schlug Gruber vor. »Das sind Extremisten, da trifft man keinen Falschen.«
»Sicher nicht!«, platzte die Anwältin dazwischen. »Wir halten uns wie immer an die Vorschriften! Nur so können wir etwaige Rechtsstreitigkeiten mit Angehörigen auf ein Minimum reduzieren. Die Richtlinien des Konzerns wurden nicht zum Spaß kreiert, meine Herren.« Sie starrte Gruber warnend an, bevor sie fortfuhr. »Es brodelt bereits seit Wochen in den Downers und ich hab keine Lust, den Stein ins Rollen zu bringen, wenn Sie verstehen, was ich damit andeuten will.« Sie tippte Gruber auf die Brustplatte seines Einsatzanzugs. »Jedenfalls nicht, bevor ich meine Verpflichtungen abgeleistet und wieder in den Staatsdienst gewechselt bin. Wenn ich Glück hab, könnte das bereits morgen der Fall sein. Danach können Sie so viele Granaten zünden, wie Sie wollen!«
»Keine Sorge, Federika«, beruhigte Zak sie, während er Gruber eindringlich musterte. »Wir halten uns wie immer strikt ans Protokoll.«
Der Ex-Militär spuckte angewidert vor ihm aus und entsicherte die MP5.
»Ihre Entscheidung, Chief.«
Zak biss die Zähne zusammen und schluckte seinen Ärger runter, als sich Doktor Reiter, ein dünner schlaksiger Mann um die fünfzig, anschloss. Er hatte einen Arztkoffer in der Hand und eine mobile Bahre über dem Rücken hängen. Seine Brille war wie immer verschmiert, was daran lag, dass er sie ständig zurück auf die Nase schieben musste. Die kugelsichere Weste wirkte viel zu weit an ihm, aber Vorschrift war nun mal Vorschrift, und Zak konnte es sich nicht leisten, schlampig zu arbeiten. Nicht mit dem verdammten Verfahren im Genick.
Er führte das Team zum Eingang der Wohnanlage. Auf der Treppe hielten sich zwei Jugendliche auf. Als die beiden die Konzernbrigadisten entdeckten, verschwanden sie aufgeregt flüsternd im Plattenbau, der sich unendlich nach oben zu erstrecken schien. Vom Himmel war von hier unten aus nicht viel zu sehen, da das Gewirr aus Bauten, Stegen und Brücken die Sicht fast vollständig versperrte.
Die eingetretene Glastüre des Blocks hing nur noch in einer Angel und stand weit offen. Im Treppenhaus flackerte nervös eine Neonröhre, während Zak das Team in Position brachte. Er tippte Gruber auf die Schulter und deutete nach oben in die Dunkelheit. Der Ex-Militär ging kommentarlos ein paar Stufen hinauf und bezog in einer Nische Stellung, um den Treppenschacht abzusichern. Zak wartete, bis Tilly sich hinter einem defekten Getränkeautomat postiert hatte, um den Eingangsbereich zu überwachen, und nickte Federika auffordernd zu. Danach stellte er sich neben die Wohnungstüre und betätigte die Klingel, die ihn mit einem elektronisch verzerrten Ton ankündigte.
Hinter der mehrfach gesicherten Tür war dumpf laute Musik zu hören. Kurz darauf öffnete eine ältere gesetzte Frau und lugte ängstlich durch den Spalt.
»J… Ja?«, begann sie in gebrochenem Deutsch und zupfte ihr Kopftuch zurecht. »Was … Was wollen Sie?«
Federika hielt der Frau den Handheld vors Gesicht, um ihr einen Vertrag zu präsentieren, den ihre Tochter vor genau einem Monat eigenhändig unterschrieben hatte.
»Ich bin Federika Guterres und vertrete in meiner Funktion als Anwältin die Interessen von Biophol Incorporated. Wir sind hier, um den Körper von Saya Houssain zu extrahieren. Das Zeitfenster ist knapp, weshalb wir die Formalitäten zügig hinter uns bringen sollten, Ma’am.«
»Ich verstehe nicht.« Die ältere Frau starrte sie verständnislos an. »Was wollen Sie von Saya?«
»Saya Houssain hat am 20. November 2099 einen Kontrakt mit Biophol bezüglich des Harvest-Programms unterzeichnet. Mit ihrem Tod ging das Eigentum an ihrem Körper an den Konzern über. Wir überführen die Leiche Ihrer Tochter in ein konzerneigenes Labor. Da der Zeitrahmen für die Stabilisierung knapp bemessen ist, sollten wir uns wirklich beeilen.« Federika räusperte sich, wechselte den Bildschirm und hielt der Frau den Handheld erneut unter die Nase.
»Bitte autorisieren Sie die Extraktion mit Ihrer ID und verschaffen Sie uns Zutritt zum Körper Ihrer Tochter.«
Die Frau wandte sich verstört um. »Murat? Kommst du? Hier sind Leute …« Sie verkleinerte den Türspalt und sah die Anwältin nervös an. »Das muss ein, wie sagt man … Missverständnis sein. Saya hat sich vor einer Stunde schlafen gelegt. Wegen Kopfschmerzen. Sie ist in ihrem Zimmer.« Sie starrte Federika ernst an. »Ich will sie jetzt nicht stören.«
»Der Harvest-Chip im Stammhirn Ihrer Tochter wurde vor genau achtundvierzig Minuten und zweiundzwanzig Sekunden aktiviert.« Federikas Zeigefinger wischte atemberaubend schnell über das Tablet, während ihr Ton schärfer wurde. »Das heißt, zum Zeitpunkt ihres Todes, Ma’am. Wenn Sie uns weiterhin die Unterschrift verweigern und den Zutritt verwehren, werden wir uns diesen mit allen nötigen Mitteln verschaffen!«
»Was? Nein. Saya ist nicht tot. Sicher nicht«, erwiderte die Frau und lächelte nervös. »Sie hat sich schlafen gelegt.«
»Wie Sie meinen«, sagte Federika und zeigte auf den mobilen Scanner an ihrem Unterarm. »Wir sind verpflichtet, den Körper Ihrer Tochter in Augenschein zu nehmen und die Funktion des Chips in ihrem Gehirn zu überprüfen. Sollten die Signale fälschlicherweise aktiviert worden sein, muss dem nachgegangen werden. Ansonsten könnte das schwere Folgen für die Gesundheit ihrer äh … schlafenden Tochter haben.« Sie wischte wieder mit dem Finger über den Handheld und präsentierte der Frau ein amtliches Dokument. »Und wir haben jedes Recht dazu!«
Sayas Mutter hob abwehrend die Hände. »Aber … ich weiß nicht … mein Mann ist nicht da, ich hole meinen Sohn … Murat!«
Zak hatte den Eindruck, dass die Frau immer nervöser wurde und beschloss, das sinnlose Gespräch zu beenden. Als sie sich wieder umwandte und nach ihrem Sprössling rief, zwängte er sich an Federika vorbei und schob die überraschte Frau einfach zur Seite.
»Das dürfen Sie doch nicht! Murat!«
Gruber schloss sich ungefragt an und beförderte die protestierende Frau grob vor die Tür ihrer eigenen Wohnung, während Federika mit Doktor Reiter am Eingang stehenblieb und Tilly sich an Zak orientierte. Es war Zeit, das Paket zu holen.
Zak lugte vorsichtig in den schmalen Gang. Seine Hand lag auf den Griffschalen der Sig Sauer. Nichts war zu sehen. Stattdessen war aus einem der Zimmer laute Musik zu hören, deren Bässe Gläser in einer Vitrine vibrieren ließen. Außerdem lag ein penetranter Tabakgeruch in der Luft, der sich mit exotischen Düften aus der Küche vermischte.
»Gruber! Sichern Sie den Gang!«, flüsterte Zak ins Mikrofon, ohne sich umzudrehen. »Tilly, sie kommen mit mir! Federika und Doktor Reiter bleiben am Eingang, bis wir die Lage geklärt haben!«
Er wartete, bis die Wohnungstür wieder ins Schloss fiel und seine Team-Mitglieder zu ihm aufschlossen. Danach setzte er seinen Weg vorsichtig fort. Die Türe zum Bad stand halb offen. In dem kleinen mit blauen Fliesen ausgelegten Raum lief eine Waschmaschine, deren Schleudergang den auf ihr abgestellten Wäschekorb in Bewegung setzte und ihn langsam zum Rand der Maschine beförderte. Sonst war niemand zu sehen.
Zak passierte zwei verschlossene Türen und erreichte schließlich das Ende des langen Korridors. Links war die Küche und dahinter das Wohnzimmer. Rechts zweigte eine weitere Türe ab, hinter der sich laut den übermittelten Daten Saya Houssains Körper befand. Zak sah sich ein letztes Mal vorsichtig um, während die Bässe unentwegt im Hintergrund wummerten. Boom, boom, boom, boom …!
»Tilly! Küche und Wohnzimmer sichern!«,
»Verstanden!«
Zak hörte, wie die Konzernbrigadistin an ihm vorbei schlich und seine Befehle ausführte, um keine fünf Sekunden später Bericht zu erstatten.
»Alles sauber, Chief!«
»Verstanden! Ich geh rein!« Zak drückte die Klinke nach unten und wollte den Raum betreten, als er fluchend feststellte, dass die Tür verschlossen war. Er ging in die Knie und inspizierte das Schlüsselloch.
»Nichts zu sehen. Es wurde von außen abgeschlossen. Federika! Fragen Sie die Mutter nach dem Schlüssel und drohen Sie ihr damit, dass wir aufbrechen werden!«
Boom, boom, boom, boom …!
Ein Holzschrank im Gang knarrte passend zum Beat des verdammten Songs, dessen Bässe mittlerweile in Zaks Schädel widerhallten. Er hörte die Anwältin im Hintergrund dumpf auf die Frau einreden, während er blinzelnd versuchte, die anderen Türen im Auge zu behalten.
Boom, boom, boom, boom …!
»Sie sagt, ihr Sohn hat den Schlüssel. Sie …«
Plötzlich war Lärm zu hören. Die aufgebrachte Mutter schien mit jemandem zu kämpfen und begann währenddessen hysterisch zu brüllen.
Boom, boom, boom, boom …!
»Murat! Polizei! Mura…«
Boom, boom, boom, boom …!
Einen Augenblick später wurde die Wohnungstür erneut geöffnet und die Frau schrie vor Schmerzen auf. Kurz darauf verstummte die verdammte Musik.
Zak ging gewarnt in die Knie und zog die Sig Sauer aus dem Halfter. Tilly folgte seinem Beispiel.
»Gruber!«, flüsterte er ins Mikro. »Bringen Sie Federika in Sicherheit! Danach schließen Sie sich uns an!«
Zak hörte einen dumpfen Schlag. Anschließend öffnete jemand die Wohnungstür, die einen Augenblick später wieder ins Schloss fiel.
»Erledigt! Die Anwältin hat auf meine Hilfe verzichtet. Draußen haben sich bereits mehrere Kameltreiber versammelt. Wir sollten uns wirklich beeilen und …« Plötzlich verstummte der Ex-Militär.
»Was ist? Gruber?«
»Ich glaub, der Türknauf hat sich bewegt«, erwiderte er fluchend. »Wenn der Pisser seinen Kopf rausstreckt, erledige ich ihn!«
»Nein!«, mischte sich Federika über das Headset ein. »Wenn Sie Murat Houssain erschießen, wird uns der Mob zerfetzen, verstanden? Hier draußen haben sich schon dreißig Mann zusammengerottet!«
»Wo sind Sie?«, wollte Zak wissen, während er sich umwandte.
»Im Mercedes …«
»Rufen Sie das SEK und setzen Sie einen Notruf ab! Wir werden versuchen, das Ganze unblutig zu beenden. «
Gruber schnaubte verächtlich. Zak konnte hören, wie der Kerl die MP5 entsicherte.
»Gottverdammt …« Zak begann geduckt zur Ecke zu schleichen, hinter der sich der Gang befand. »Tilly! Sichern Sie mich ab!«
Die Konzernbrigadistin wirkte nervös, aber sie riss sich zusammen, hielt die Waffe mit ausgestreckten Armen vor sich und nickte ihm kurz zu, bevor sie hinter einer Kommode in Deckung ging und den Korridor sicherte.
Zak setzte währenddessen vorsichtig einen Fuß vor den anderen und bewegte sich so eng wie möglich an der Wand entlang zur Ecke. Die schweren Stiefel hinterließen tiefe Abdrücke im alten Orientteppich, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Danach betrat er den Gang. Nach einem Meter blieb er stehen und horchte angestrengt in die Stille. Aber da war nichts außer der Waschmaschine im Bad, die monoton vor sich hinarbeitete. Eine Umdrehung nach der anderen. Immer wieder. Zak schlich an der linken Wand entlang, Tilly blieb rechts. Einige Sekunden später passierte er die erste Türe. Nur noch ein paar Schritte bis zum Zimmer, aus dem vor Kurzem die Musik zu hören war. Tilly folgte ihm. Sie hatte mittlerweile Schweißperlen auf der Stirn. Plötzlich polterte die Waschmaschine laut los. Schleudergang. Dann fiel der Wäschekorb krachend auf den gefliesten Boden. Die junge Konzernbrigadistin war für einen Moment lang abgelenkt, als die Tür neben ihr aufgerissen wurde und ein großer bärtiger Mann sich mit einem Messer auf sie stürzte. Fast gleichzeitig stürmte ein weiterer Angreifer aus dem Raum vor Zak, der auf Gruber schoss. Der Ex-Militär reagierte blitzschnell und ging fluchend in die Hocke, nachdem er einen Treffer in den Oberschenkel abbekommen hatte. Danach erwiderte er das Feuer: ein Schuss in die Seite, ein zweiter in die Schulter. Murat brach schreiend zusammen und blieb wimmernd liegen. Halif hatte mehr Glück.
Zak konnte kein Ziel finden. Das Risiko, seine Team-Kollegin zu treffen, war einfach zu hoch. Tilly versuchte verzweifelt, sich zu wehren, aber der Araber stach wie ein Wahnsinniger auf ihre kugelsichere Weste ein, schnitt in ihren Unterarm, ihre Hand, ihren Oberschenkel. Zak steckte die Waffe zurück in den Halfter. Er passte einen günstigen Moment ab, packte den Kerl an den Schultern und schleuderte ihn gegen die Wand, weg von Tilly. Halif fuhr knurrend herum. Seine Pupillen waren geweitet. Als er ausholte und zustach, wich Zak aus und schlug ihm gegen den Kiefer. Das Brechen der Knochen war deutlich zu hören. Zak setzte nach, hämmerte auf Halifs Brustbein, dessen kurze Rippen und verpasste ihm einen Leberhaken, doch der Kerl ließ das Messer einfach nicht fallen. Zak blockte einen weiteren Angriff, bekam die Waffenhand zu fassen und überstreckte das Ellbogengelenk seines Gegners. Danach schleuderte er ihn gegen die Wand und zertrümmerte ihm das Nasenbein mit dem Ellbogen, worauf er die Waffe fallen ließ und röchelnd zusammenbrach. Zak kickte das Messer von ihm weg, fesselte ihm die Hände mit Plastikbändern auf den Rücken und ging schwer atmend zu Tilly, die sich Stofffetzen um die blutenden Arme gewickelt hatte und zitternd vor der Wand saß.
»Alles in Ordnung?«
Sie zuckte nur mit den Schultern, wirkte blass. »Ich war abgelenkt, Chief. Und dann … das hätte nicht passieren dürfen, ich …«
»Kommt vor«, wiegelte Zak erleichtert ab und half ihr auf. »Gehen Sie zum Narko, Britt. Lassen Sie sich von Doktor Dadjic verarzten. Das SEK sollte schon auf dem Weg sein.«
Tilly nickte und verließ niedergeschlagen die Wohnung.
»Federika! Tilly kommt raus! Sie ist verletzt!«
Gruber starrte Zak kopfschüttelnd an. Er kniete auf Murat, der unter seinem Gewicht nach Atem rang, während Tilly die Wohnung verließ.
»Was ist?«
»Die Kröte hat’s vermasselt, Chief.« Gruber zeigte auf den Blutfleck am Boden, der von Tillys Schnittwunden herrührte. »Sie hätten ihr den verdammten Hintern aufreißen müssen!«
»Das ist immer noch meine Entscheidung, Gruber!«, antwortete Zak genervt. »Seien Sie froh, dass Sie keinen von uns getroffen haben. Sie sind ein hohes Risiko eingegangen.«
»Ich weiß, wie ich meinen Job zu machen habe. Deshalb schieße ich auch nicht daneben, wenn es darauf ankommt!«
Zak schnaubte verächtlich und befahl Gruber, Murat zu durchsuchen. Der stämmige Ex-Militär verlagerte sein Gewicht auf die Rippen des Arabers, bis diese lautstark knackten und dann begann er, dessen Hosentaschen abzutasten. Nach einigen Sekunden hielt er einen Schlüsselbund hoch und warf diesen zu Zak, der ihn auffing und hörbar ausatmete. Danach ging er zur Tür, stellte sich auf das Schlimmste ein und schloss auf.
Yara stellte den Wagen auf einem Parkplatz vor dem gut gesicherten Konzerngelände ab und legte den Schirm mit den im System hinterlegten Kontakten auf das Display des schwarzen Audis. Der Wagen gehörte zum Fuhrpark der Regierung Richthofens und war ihr für die Dauer der Untersuchung zur Verfügung gestellt worden. Anschließend aktivierte sie die einzige darin gespeicherte Verbindung und wartete, bis ihr Auftraggeber den verschlüsselten Anruf entgegennahm.
»Ms. Bukhari«, erklang dessen elektronisch verzerrte Stimme einen Moment später. »Sind Sie vor Ort?«
»Ja …«
»Mein Stab hat die erforderlichen Zutrittsrechte in Ihre ID übertragen. Sie haben die höchstmögliche Sicherheitsklassifizierung bekommen und damit das Recht, alle Konzernanlagen des fraglichen Sektors betreten zu dürfen.«
»Danke, Sir. Ich werde mich sofort auf den Weg machen. Haben Sie für Back-up gesorgt?«
»Ich habe entsprechende Ressourcen angefordert. Ihre Wunschkandidaten waren so kurzfristig leider nicht verfügbar, aber ich werde sehen, was ich tun kann. Das Zeitfenster war einfach zu eng. Sollte die Konzernsicherheit Probleme machen, können Sie auf die staatlichen Sicherheitskräfte vor Ort zurückgreifen. Ich habe die zuständigen Einheiten des SEK bereits informieren lassen.«
»Verstehe, Sir. Ich melde mich, sobald ich den potenziellen Tatort begutachtet habe.«
Yara trennte die Verbindung, startete die gepanzerte Drohne, die auf dem Kofferraum des Audis verankert war und warf einen letzten Blick auf die Glock im Holster unter ihrem Jackett. Das Magazin war voll, die Waffe gesichert. Danach aktivierte sie die Bodycam und stieg aus.
Sie war vor zwei Stunden von einem Informanten kontaktiert worden, der auf der Gehaltsliste des Konzerns stand und eine Anlage von Biophol infiltriert hatte. Es ging um einen Vorfall, den der Kontakt als äußerst kritisch eingestuft hatte. Einer von vielen, die in den letzten Monaten gemeldet wurden. Aber Yara und die anderen Ermittler mussten jeder einzelnen Meldung nachgehen, in der Hoffnung, etwas zu finden, was das Harvest-Programm ein für alle Mal begraben würde. Bis jetzt war die Ausbeute gering gewesen. Ein hoher Prozentsatz der Meldungen war von durch den Konzern bezahlten Informanten gemacht worden, um die Ermittler auf falsche Fährten zu locken und zu beschäftigen, während das Ende des Untersuchungsausschusses unaufhörlich näher rückte. Yara und den anderen blieben nur wenige Tage, um Ergebnisse zu liefern. Und sie wollte Ergebnisse liefern, denn sie war felsenfest davon überzeugt, dass das Harvest-Programm gestoppt werden musste. Die richtige Meldung zum richtigen Zeitpunkt konnte wie eine Flutwelle durch die Medien gehen und das Projekt von der Bildfläche fegen. Und Yara wollte für diese Schlagzeile verantwortlich sein. Allerdings hatte sie nicht vor, deshalb das Gesetz zu verbiegen. Immerhin gehörte sie zu den Guten.
Es war kalt. Der Sturm hatte etwas nachgelassen, aber die Böen zerrten nach wie vor an ihrer Kleidung und ließen sie frösteln, während der Regen auf sie niederprasselte und die synthetischen Textilien durchnässte. Der volle Mond war hinter den schweren Gewitterwolken nur zu erahnen, als Yara auf die gesicherte Pforte zuhielt, die zu einem bunkerartigen Bau aus Beton gehörte. Die eineinhalb Meter breite Drohne schwebte hoch über ihr und überwachte jeden ihrer Schritte. Einen nach dem anderen, bis sie vor dem geschützten Eingangsbereich des Wachareals stehenblieb und ihr linkes Handgelenk vor den Scanner hielt. Die automatischen Kameras erfassten sie mit einem leisen Surren. Kurz darauf wurde die abgedunkelte Scheibe aus Panzerglas transparent und offenbarte die Gesichter zweier Konzerner, die sie müde musterten.
»Ich bin Sonderermittlerin Yara Bukhari und verlange sofortigen Zutritt zu dieser Einrichtung!«
Die Männer starrten sie nach wie vor ausdruckslos an, bis einer die übermittelten Daten aus dem Chip in Yaras Handgelenk überprüfte und den anderen anwies, ihren Vorgesetzten zu kontaktieren. Der stämmige Südländer trat währenddessen vors Fenster und verschränkte abweisend die Arme vor der Brust.
»Gibt es einen Grund für diesen Überfall?«
»Das geht Sie nichts an«, erwiderte Yara mit fester Stimme. »Ich habe die nötige Sicherheitsklassifikation und das Recht, diese Anlage jederzeit zu betreten. Wie lauten Ihre ID und Ihr Name?«
Der Mann hob beschwichtigend die Handflächen. »Immer mit der Ruhe, Lady. Unser Vorgesetzter ist bereits auf dem Weg. Wir haben nicht die erforderliche Freigabe, um Sie das Gelände ohne entsprechende Begleitung betreten zu lassen.«
»Sie haben fünf Minuten! Danach werde ich diesen Vorfall melden und ein Team des SEK anfordern, das dieses Tor für mich öffnen wird, verstanden?« Sie warf dem Kerl einen warnenden Blick zu.
»Wie gesagt«, versuchte der Mann Yara zu beschwichtigen. »Sie ist auf dem Weg …«
Yara musste geschlagene sieben Minuten warten, bis die verantwortliche Frau mit einer Drohne eingeflogen wurde. Das Fluggerät, das von der Größe her einem geräumigen Kleinbus ähnelte, wurde von vier horizontal angebrachten Rotoren in der Luft gehalten und von den Böen hin und hergeworfen, bis der Pilot es auf einer entsprechenden Plattform landete. Anschließend entließ er seine Passagiere in den Regen. Yaras Drohne identifizierte die Frau als Anna Sorokin, mittleres Management. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt, hatte dunkelviolette, schimmernde Haare und trug einen teuren Anzug, der sich perfekt an ihren schlanken Körper schmiegte. Ihre Begleiter gehörten den Spezialkräften Biophols an. Ex-Militärs, die unter dem Dach des Konzerns eine neue Heimat gefunden hatten. Die beiden Grunts waren mit Maschinenpistolen bewaffnet und hielten sich dezent im Hintergrund, als Sorokin ins Licht des Scheinwerfers trat und sich auf der anderen Seite des Zauns aufbaute, um Yara eindringlich zu mustern.
»Ich warte noch zehn Sekunden, dann informiere ich das SEK, verstanden?«, drohte Yara, während sie dem bohrenden Blick der Konzernfrau standhielt.
Sorokin machte keine Anstalten, das Tor zu öffnen. Stattdessen grub sie ihre stechenden Augen in Yara, die von Sekunde zu Sekunde wütender wurde. Die Konzernschlampe wollte Zeit schinden. Zeit, in der Beweise verschwinden konnten!
»Wie Sie wollen …«
Bevor sie die Anfrage von ihrem Handheld an den nächsten Polizeistützpunkt senden konnte, nickte Sorokin einer der Wachen zu, die das Tor per Funkverbindung öffnete. Yara wartete, bis die Stahlkonstruktion zur Seite gefahren war und trat ein.
»Wo ist Ihr Back-up?«
Yara deutete auf die Regierungsdrohne, die ihr nach wie vor folgte. Es handelte sich um ein militärisches Modell, das als ziviler Aufklärer getarnt war.
»Das ist alles?« Sorokin hob amüsiert eine Braue .
»Mir war nicht bewusst, dass ich in Gefahr bin …«
Die Frau schnaubte verächtlich. »Wo wollen Sie eigentlich hin? Hier gibt es nichts zu sehen.« Sie machte eine ausholende Bewegung mit dem Arm. »Das sind die Ausläufer eines Testgeländes. Was erwarten Sie hier zu finden?«
Yara ignorierte die Frage, aktivierte die GPS-Funktion des Handhelds und wartete, bis der Ortungsschirm auf das transparente Stück Plastik projiziert wurde und ein roter Punkt erschien, der ihre Zielkoordinaten markierte. Anschließend startete sie die Navigationsfunktion und folgte einem schmalen Pfad, der zu mehreren Baracken führte. Sorokin folgte ihr mit den beiden Knochenbrechern, die sich aufmerksam umsahen. Als sie sich dem Ziel näherten, ließ sich die Konzernfrau zurückfallen und begann in ihren Handheld zu flüstern. Yara schien auf der richtigen Spur zu sein! Sie erhöhte das Tempo, folgte einer Treppe zu einem überwucherten Platz und öffnete ein Tor, das sie über eine kleine Brücke zu einem Gebäude führte, das neben einem Bach lag. Es handelte sich um ein altes Pumpwerk, dessen kuppelartiges Dach zum Teil eingestürzt war. Es sah aus, als ob der Bau dem vorangegangenen Sturm nichts mehr hatte entgegenhalten können und den Böen schließlich nachgegeben hatte.
Das Pumpwerk wurde durch mehrere mobile Scheinwerfer und Drohnen ausgeleuchtet, die wie Bienen umherschwirrten und jeden Quadratzentimeter des Areals zu untersuchen schienen. Yara entdeckte Konzernangehörige in Laboranzügen, die aufgeregt durcheinanderliefen. Die Gruppe war klein genug, um den Vorfall vertuschen zu können. Aber Yara würde das nicht zulassen.
Der Informant, dessen anonymer Anruf sie vor zwei Stunden aus dem Bett geholt hatte, befand sich vermutlich ebenfalls unter den Anwesenden. Aber sie konnte keine Rücksicht nehmen und hoffte, dass er sich bereits in Sicherheit gebracht hatte. Als die Konzernmitarbeiter sie entdeckten, blieben sie wie angewurzelt stehen und sahen hilfesuchend zu Sorokin, die nur mit den Achseln zuckte und die aufgeregten Blicke überging.
»Nach Ihnen …«, sagte die Konzernfrau beiläufig, während sie Yaras Drohne skeptisch begutachtete und ihr anschließend zum Hauptgebäude des Pumpwerks folgte. Bevor sie den Eingang erreichten, stellte sie sich ein letztes Mal in Yaras Weg und wandte sich an die Konzernmitarbeiter.
»Ihre Arbeit ist zu Ende! Gehen Sie zu Ihren Quartieren und warten Sie auf weitere Anordnungen …«
»Niemand verlässt diesen Tatort ohne meine ausdrückliche Genehmigung!«, unterbrach Yara sie grob. »Ich bin Sonderermittlerin Bukhari! Ich habe die Ermächtigung, Sie festzuhalten und zu befragen, so lange ich will! Meine Drohne hat Sie anhand Ihrer implantierten IDs identifiziert und wird mich informieren, sobald Sie sich unerlaubt von diesem Tatort entfernen! Stellen Sie Ihre Tätigkeiten sofort ein und verhalten Sie sich ruhig, bis ich auf Sie zurückkomme!«
Die Konzerner senkten betreten die Köpfe und begannen miteinander zu tuscheln, als Yara sich an Sorokin vorbeizwängen wollte. Aber die Managerin machte keine Anstalten, den Weg freizumachen. Stattdessen verschränkte sie die Arme vor der Brust und funkelte Yara wütend an.
»Irgendwann wird Ihnen Ihr Sonderstatus entzogen. Spätestens wenn der Untersuchungsausschuss beendet ist.«
»Soll das eine Drohung sein, Ms. Sorokin?«
»Nur eine Feststellung, Ms. Bukhari«, erwiderte sie lächelnd. »Ich kann Ihnen nicht verbieten, weiterzugehen. Aber ich versichere Ihnen, dass Biophol sich Ihr forsches Auftreten nicht gefallen lassen wird.« Ihr Lächeln verwandelte sich in ein diabolisches Grinsen. »Niemand ist unantastbar.«
»Das Risiko werde ich eingehen«, hielt Yara dagegen und schob Sorokin entschlossen zur Seite. Sie ging zum Eingang des Pumpwerks, stieg die Stufen hinauf und blieb fassungslos stehen.