Kapitel Sechs
Zak fuhr langsamer als sonst, während Yara sich ächzend und fluchend hinter ihm umzog. Hin und wieder erhaschte er im Rückspiegel einen Blick auf ihren schlanken Körper, der ihn an viele gute Stunden erinnerte, die er zusammen mit ihr verbracht hatte. Allerdings gehörten diese süßen Erinnerungen nun zu seiner Vergangenheit. So bitter diese Einsicht auch war. Er hatte sich lange dagegen gesträubt, aber am Ende war ihm nichts anderes übriggeblieben, als diese Tatsache zu akzeptieren. Nicht mehr und nicht weniger.
Als sie fertig war, legte sie einen Arm um seine Kopfstütze und zog sich nach vorne, bis er ihren Duft wahrnehmen konnte. Frisch aber dezent, wie immer.
»Ich bin froh, dass du es dir anders überlegt hast«, begann sie schließlich. »Du bist der Einzige, dem ich im Moment vertrauen kann, verstehst du?«
Zak nickte in den Rückspiegel.
»Ich hoffe, dass uns unsere gemeinsame Vergangenheit nicht im Weg stehen wird …«
»Das wird sie nicht. «
»… und ich will, dass wir beide während der nächsten Tage mit offenen Karten spielen, einverstanden? Es steht einfach zu viel auf dem Spiel.«
»Natürlich. Ich weiß, was du meinst.«
»Danke, Zak.«
Er begegnete ihrem Blick im Rückspiegel und versuchte zu lächeln, aber sie schien seine Geste gar nicht wahrzunehmen. Stattdessen starrte sie an ihm vorbei ins Nichts, bis sie wieder zu sich kam und sich auf ihn konzentrierte.
»Was hast du herausgefunden? Haben die Ökos die Jugendlichen auf das Konzerngelände geschickt?«
»Das konnte ich leider nicht in Erfahrung bringen«, erwiderte er geknickt, während er in ein Geschäftsviertel des Sektors abbog. »Der Kerl ist entkommen.«
Sie verzog das Gesicht. »Mist. Wenn wir die Ökoterroristen mit dem Fall in Verbindung bringen könnten, wäre der Untersuchungsausschuss vielleicht in der Lage, das Harvest-Programm zu stoppen. Zumindest vorübergehend.«
»Wie ist es bei dir gelaufen?«
»Was?«
»Dein Gespräch mit der Anwältin.«
»Oh … nichts Besonderes. Ich hab ihre Fragen beantwortet und bin gegangen. Sieht gut für dich aus.«
»Danke.«
»Ich freu mich wirklich für dich.«
Bevor Zak etwas erwidern konnte, wechselte sie das Thema.
»Wie geht es Bianca? Hast du ihr schon erzählt, dass du wieder als Ermittler tätig sein wirst?«
Zak musste sich zwingen, das Lächeln aufrechtzuerhalten. »Nein. Ich will auf den richtigen Moment warten, weißt du? Sie wohnt zur Zeit bei einer Freundin, um sich etwas zu erholen. Hatte ein paar stressige Wochen.«
»Verstehe.«
Yara verzichtete zum Glück darauf, nachzuhaken, und verband stattdessen ihren Handheld mit dem Chip in ihrem Handgelenk.
»Ich transferiere eine Kopie des Trojaners in deine ID, okay?«
»Was ist mit unseren Identitäten?«
»Claire hat eine Verschleierungsroutine programmiert, die unsere IDs den Anforderungen entsprechend verfälscht.« Sie aktivierte den Prozess und verzog den Mund eine Sekunde später zu einem Schmunzeln. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mister Troja.«
»Ernsthaft?« Zak sah sie kopfschüttelnd an.
»Was soll ich sagen. Claire hat einen schrägen Humor.«
»Gibt es sonst etwas, das ich über sie wissen muss?«
»Ist eine lange Geschichte«, winkte Yara ab. »Nur so viel: Sie ist eine der Besten und ich bin verdammt froh, sie an Bord zu haben.«
Zak parkte vor einem Gebäude, in dem sich nur eine Firma befand. »Bist du bereit?«
»Bin ich.«
»Dann los. Lass uns den Laden infiltrieren.«
»Okay«, erwiderte sie und öffnete die Tür. »Hab dich vermisst.«
Zak ließ sich nichts anmerken, obwohl sein Herz nach ihrer beiläufigen Bemerkung einen Sprung gemacht hatte, stellte den Motor ab und stieg aus. Anschließend folgte er Yara zum Eingang des Sales Departments. Sie trug eine abgetragene Jeans und einen Pulli, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Darüber eine verschlissene Jacke und einen alten Schal, der im Wind hin und her hüpfte und die Schneeflocken buchstäblich anzuziehen schien. Damit passte sie perfekt zu seinem Erscheinungsbild, das ebenfalls in Richtung ›abgenutzt‹ ging.
Der Eingangsbereich wurde von Sicherheitskräften bewacht, die Zak und Yara scannten, nachdem sie das Areal durch die Glasfront betreten hatten. Ihre IDs waren in Ordnung, die falschen Profile wasserdicht. Claire schien wirklich außerordentlich gut zu sein.
Nach den Barrieren erstreckte sich eine riesige Empfangshalle, die mit zwanzig Terminals besetzt war. Zak fühlte sich an die Atmosphäre in einem Flughafen erinnert. Überall hingen Werbedisplays, die die Vorteile des Harvest-Programms anpriesen und glückliche Familien zeigten, die nach Unterzeichnung des Vertrags den Sprung in ein besseres Leben geschafft hatten.
Hübsche Hostessen versorgten die Interessenten mit Getränken und Knabbereien, während beruhigende Musik im Hintergrund lief und die Wartenden, die genauso abgerissen wirkten wie Zak und Yara, zügig abgefertigt wurden. Nach wenigen Minuten erschien ihre Bearbeitungsnummer auf einem riesigen Display, das in einigem Abstand vor den Terminals installiert worden war. Die dort arbeitenden Case-Managerinnen nahmen potenzielle Kunden in Empfang und überprüften deren Daten, um den verantwortlichen Sales-Managern einen ersten Eindruck des organischen Materials zu vermitteln. Oder anders ausgedrückt: Die vorwiegend aufreizenden Frauen checkten im Vorfeld ab, ob die angebotenen Körper brauchbar waren.
Zak und Yaras Case-Managerin hätte auch als Hostess arbeiten können: Sie war jung, außerordentlich hübsch und wortgewandt. Beste Voraussetzungen, um schon bald in die Riege der Verkaufsmanager aufzusteigen – sofern sie genug Umsatz an Land zog.
»Vielen Dank für Ihr Interesse an unserem Unternehmen und dem Harvest-Programm, Mister Troja«, begann sie ohne Umschweife, während sie auf das Display ihres Terminals starrte. »Ich sehe, Sie haben die erforderlichen Basisdaten bereits mitgebracht. Ihre medizinischen Unterlagen sind so weit in Ordnung und es freut mich, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie für unser Programm infrage kommen. Die erste Hürde wäre somit genommen.« Sie setzte ein nichtssagendes Lächeln auf und brachte einen anderen Tab in den Vordergrund, der eine Flut an Informationen präsentierte. »Wenn Sie damit einverstanden sind, würde ich Sie an einen unserer Sales-Manager weiter empfehlen. Mister Zypras wird Sie über den Ablauf informieren und eine Vorabanalyse Ihres organischen Materials sowie Ihrer Skelettstruktur veranlassen.« Sie hob präventiv die Hände, weil sie mit Widerstand zu rechnen schien. »Diese Analysen sind selbstverständlich vollkommen kostenlos für Sie, und Sie können den Prozess jederzeit abbrechen. Allerdings«, sie hob mahnend den Zeigefinger, »möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass es im Moment ein zeitlich beschränktes Eröffnungsangebot gibt, das Ihre Kreditsumme um einen stolzen Bonus von fünfzehntausend Mark erhöhen würde – wenn Sie noch heute unterzeichnen.« Sie hob erneut die Handflächen. »Was natürlich allein Ihnen überlassen bleibt.«
Zak versuchte, möglichst interessiert auszusehen und bedankte sich überschwänglich bei der Managerin, während Yara einen eher desinteressierten Eindruck machte. Nachdem die Frau sie in einen ruhigeren Wartebereich begleitet hatte, beugte er sich zu Yara und begann leise zu flüstern .
»Du siehst nicht gerade begeistert für jemanden aus, der im Begriff ist, sein Leben zum Positiven zu verändern. Ist alles in Ordnung?«
»Tut mir leid. Ich … Ich war abgelenkt. Kommt nicht wieder vor.« Sie straffte die Schultern und schenkte ihm ein Lächeln, das sein Herz erwärmte – obwohl er sich nicht sicher sein konnte, das es echt war.
Eine Minute später glitt die Glastür mit dem Logo des Harvest-Programms zur Seite und eine Office-Managerin betrat den äußerst annehmlich eingerichteten Raum.
»Mister Zypras wäre jetzt bereit für Sie. Wenn Sie mir bitte folgen würden.«
Die Frau wandte sich um und ging durch die Tür. Zak und Yara folgten ihr, bis sie ein großzügiges Büro betraten, in dem ein untersetzter dunkelhäutiger Mann auf sie wartete. Er steckte in einem maßgeschneiderten Anzug, wirkte aufgeweckt und beobachtete jede Reaktion seiner potenziellen Kunden, die sich möglichst beeindruckt gaben. Bevor sie sich setzen konnten, sprang er auf und stürmte lächelnd zu ihnen.
»Hallo und herzlich willkommen. Ich bin Rene. Zak richtig?«
Zak nickte, während der Kerl ihm die Hand schüttelte. Danach wandte er sich an Yara.
»Yara?«
»Ja.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen. Sie sind arabischer Abstammung, richtig?«
»Ja, meine Eltern …«
»Das ist nicht ungewöhnlich. Über achtzig Prozent unserer Kunden haben Migrationshintergrund. Meine eigenen Wurzeln liegen in Nordafrika, müssen Sie wissen.«
»Aber Sie scheinen es geschafft zu haben«, erwiderte Zak und machte eine ausholende Bewegung mit dem Arm, während er sich demonstrativ umsah.
»Ah …«, wiegelte er ab. »Lassen Sie sich von dem ganzen Klimbim nicht beeindrucken. Das ist Konzernpolitik, nichts weiter. Ich bin in einem der Barrios in Richthofen aufgewachsen und damit ein waschechter Downer. Ich hab meine Chance ergriffen – und das können Sie auch! Genauso wie die anderen achthunderttausend Kunden, die uns seit Eröffnung der Testphase ihr Vertrauen geschenkt haben.«
Zak hob interessiert eine Augenbraue. Achthunderttausend? Damit hätte er beim besten Willen nicht gerechnet. Anscheinend kam das Programm bei den armen Menschen besser an, als gehofft.
»Sie brauchen nur einen finanziellen Schub, verstehen Sie? Sie müssen raus aus …«, Zypras warf einen kurzen Blick auf das Display seines Computers, auf dem Zaks und Yaras gefälschte Akten präsentiert wurden, »… Sektor-22. Wenn Sie es in ein besseres Viertel geschafft haben, tun sich manche Türen von ganz alleine auf. Unser Umfeld prägt uns mehr als uns bewusst ist, verstehen Sie? Downers produzieren Downers, so hart sich das auch anhören mag. Sie müssen diesen Kreislauf durchbrechen.« Er registrierte Zaks skeptischen Blick. »Natürlich erfordert das eine gewisse Anstrengung, aber ohne über ausreichend finanzielle Mittel zu verfügen, helfen auch die besten Absichten nur wenig. In Ihrem Fall halten sich die aufgelaufenen Schulden glücklicherweise im Rahmen, Zak …«
»Meine Eltern waren sparsame Menschen.«
»… lächerliche sechshunderttausend Mark. Wenn Sie beide einen Harvest-Vertrag unterschreiben …«
»Vorerst geht es nur um meinen Mann«, warf Yara ein. »Er hat die besseren körperlichen Voraussetzungen. «
Zypras setzte ein charmantes Lächeln auf. »Sie sollten ihre biologischen Qualitäten nicht unter den Scheffel stellen, Yara. Ihre Skelettstruktur scheint gut genug zu sein, und sie haben erst eines Ihrer Organe verpfändet. Ihr Mann war nicht so sparsam.« Er sah Zak gespielt tadelnd an und begann zu lachen. »Aber wer bin ich, das zu verurteilen«, ruderte er schnell zurück, nachdem Zak ihn mit einem missbilligenden Blick bedacht hatte. »Wir alle haben Päckchen aus unserer Vergangenheit zu tragen, nicht wahr?«
Yara legte ihre Hand auf Zaks und sah ihn mit glänzenden Augen an, während ihre Worte an den schleimigen Kerl gerichtet waren. »Das ist allerdings wahr, Mister Zypras. Haben Sie mich gescannt?«
»Rene«, korrigierte er sie lächelnd. »Ich dachte, wir wären bereits über die Förmlichkeiten hinaus. Und ja, mit betreten dieses Outlets haben Sie zugestimmt, einen Standardscan Ihres Körpers anfertigen zu lassen. Nichts Außergewöhnliches, aber detailreich genug, um Kunden wie Sie auf das in Ihnen schlummernde Potenzial aufmerksam zu machen.« Er zeigte mit den Händen auf ihren Körper und verzog den Mund zu einem diebischen Grinsen. »Denken Sie wenigstens darüber nach, ja? Die Eröffnungsangebote werden nicht ewig vorhalten.«
Yara verzichtete auf einen Kommentar und hielt ihren Blick wie gebannt auf Zak gerichtet.
Der Sales-Manager startete derweilen ein Werbevideo, das die Vorzüge des Harvest-Programms darlegte, und lehnte sich grinsend in seinem teuren Sessel zurück, ohne Zak und Yara aus den Augen zu lassen. Nach drei Minuten deaktivierte er das Video, beugte sich vor und stützte sein Kinn auf den feisten Händen ab .
»Schön zu sehen, dass es Menschen gibt, die nach all den Jahren noch zusammenhalten.«
Zak und Yara starrten ihn verwirrt an.
»Sie sind seit sechs Jahren verheiratet, nicht wahr?«, er setzte einen ernsten Blick auf. »Sechs Jahre in den Downers können einen Menschen mehr prägen, als ein Einsatz an der libyschen Front, und ich bin froh, dass ich es bin, der ihr Leben entscheidend verändern wird. Von Ihren medizinischen Befunden ausgehend, kann ich Ihnen versprechen, dass die Kreditsumme im Fall eines Vertragsabschlusses weit über neunhunderttausend Mark liegen wird – das würde Ihre aufgelaufenen Schulden tilgen und Ihnen ein finanzielles Polster lassen, um Ihr Leben komplett zu verändern. Zum Positiven.« Er ließ seine feisten Finger knacken, bevor er fortfuhr. »Um die endgültige Summe zuzüglich aller möglichen Boni besser abschätzen zu können, würde ich Ihnen anbieten, eine prä-prozessuale Analyse Ihres Körpers durchführen zu lassen, die dessen wahrscheinliche Betriebsdauer nach Ihrem Ableben ziemlich genau eingrenzen wird.«
»Einverstanden«, erwiderte Zak knapp. Er wollte das Theater endlich hinter sich bringen. »Was muss ich tun?«
»Meine Assistentin wird Sie in den Laborbereich begleiten. Dort werden Ihre verfügbaren Organe geschätzt, um deren üblichen Marktwert zu ermitteln. Anschließend wird die Güte Ihrer Skelettstruktur analysiert, da diese die Betriebsdauer maßgeblich beeinflusst. Zusätzlich werden Ihr Gehirn und Ihr Neokortex auf etwaige Schäden untersucht, weil der Harvest-Chip über diese Bereiche die Steuerung Ihres Körpers übernehmen wird. Das alles sollte nicht länger als fünfundvierzig Minuten in Anspruch nehmen. Ich werde derweilen Ihre Frau unterhalten.« Er warf Zak einen grinsenden Blick zu. »Wenn Sie nichts dagegen haben.«
Zak verzichtete auf einen Kommentar, stand auf und küsste Yara auf die Wange. »Bis nachher, Amira …«
Yaras Augen wurden schlagartig feucht, und Zak hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen, aber der Kosename war wie von selbst über seine Lippen gekommen, als seine Gedanken bereits an der bevorstehenden Infiltration hingen. Meine Prinzessin. Zak konnte sich nicht daran erinnern, wie oft er Yara während ihrer gemeinsamen Zeit so genannt hatte. Damals war sie tatsächlich seine Prinzessin gewesen – das stand außer Frage. Ihr in dieser Situation einen so emotional aufgeladenen Begriff vor den Latz zu knallen, war allerdings mehr als fahrlässig. Immerhin operierten sie unter dem Radar und setzten ihre Karrieren aufs Spiel.
Zak wich ihrem fragenden Blick aus und wartete, bis die Assistentin ihn abholte und zum Aufzug führte, der ihn eine Etage tiefer in den Laborbereich brachte. Dort wurde er von einer Biotechnikerin in Empfang genommen, die einen antibakteriellen Anzug trug. Zusätzlich schützte sie sich mit einem medizinischen Mundschutz vor möglichen Krankheiten, die bei einem der Sicherheitsscans vielleicht übersehen worden waren.
»Also gut, Mister … Troja.« Sie schenkte ihm einen amüsierten Blick, während sie ihm ein Skalpell vor die Nase hielt. »Bringen wir es hinter uns, okay? Sie sind mein letzter Fall vor der Mittagspause – und ich hab höllischen Hunger.«
Amira … das Wort hallte unentwegt in Yaras Schädel nach, aber nur, weil Zak es war, der es verwendet und damit erneut in ihrer gemeinsamen Vergangenheit herumgestochert hatte. Sie saß auf dem Sessel und beobachtete Zypras, der zusätzliches Marketingmaterial vorbereitete, während er auf seine Office-Managerin wartete. Zak war von einer Assistentin vor zehn Minuten zu einem Aufzug geführt worden. Seitdem war Yara damit beschäftigt, den tölpelhaften Avancen Zypras’ auszuweichen und über Zaks Bemerkung nachzudenken. Der Moment war verdammt schlecht, um längst verflogene Emotionen aufzuwärmen, aber der Kosename hatte Gefühle in ihr erweckt, die sie schon vergessen geglaubt hatte. Ausgerechnet jetzt! Als die Erinnerungen an glücklichere Zeiten sich in einem Anflug von Bedauern und Reue auflösten, erklang plötzlich eine Stimme in ihrem Ohr, wo der unscheinbare Knopf ruhte, den sie nach Zaks Abgang unbemerkt aus Ihrer Tasche geholt und platziert hatte.
»Hab euch auf dem Schirm …«
»Wo ist er?«, flüsterte Yara, nachdem sich abgewandt hatte und so tat, als würde sie sich räuspern.
»Unten.«
Eine Minute später kam die Managerin zurück und stellte frischen Kaffee und Gebäck auf den Tisch. Sie vergewisserte sich, dass Zypras keinen weiteren Wunsch hatte und ging zurück in den Empfangsraum der Büroeinheit.
»Bitte bedienen Sie sich.« Der untersetzte Mann deutete auf die Donuts und aktivierte das Display. »Sie werden Ihre Entscheidung auf keinen Fall bereuen. Das Harvest-Programm wurde entwickelt, um gestrauchelten Menschen eine zweite Chance zu bieten. Sie sollten weder Bedauern empfinden noch die Kreditsumme als Almosen ansehen. «
»Überwachen Sie meine neuronale Aktivität?« Yara hätte sich gerne noch im selben Moment die Zunge für diesen Fehler abgeschnitten, während Zypras sie mit einem äußerst skeptischen Blick bedachte. »Ich … ich hab in einem Bericht gelesen, dass das der neuste Trend bei Verkaufsgesprächen ist.« Bei Allah, das macht es nicht besser. »Ich meine … ich finde den Ansatz interessant.«
»Aber Yara«, begann der Kerl tadelnd. »Ich will Ihnen nichts verkaufen. Ich biete Ihnen eine Chance, verstehen Sie? Eine Chance, um Ihrer Umgebung und Ihrem alten Leben ein für alle Mal Adieu zu sagen. Eine Chance, die Sie sich verdient haben. Es geht doch nur um den Körper Ihres Mannes. Wozu braucht er ihn denn, wenn er tot ist?« Er hob beschwichtigend die Hände. »Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Ich wünsche ihm auf keinen Fall ein frühes Ableben.« Er sah erschrocken in eine der Sicherheitskameras, die das Gespräch aufzeichneten und räusperte sich verlegen. Anschließend konzentrierte er sich wieder auf Yara. »Ich will Ihnen nur klarmachen, dass es sich hier um ein einmaliges Angebot handelt. Genießen Sie das Leben in vollen Zügen. Jetzt und hier. Und kümmern Sie sich um Ihre Schulden, wenn Sie tot sind.« Er legte eine Infografik auf das Display, die einen stilisierten transparenten Menschen abbildete. »Unsere Körper sind perfekte Arbeitsmaschinen. Aber sobald unsere Gehirne abgestorben sind, sind sie nur noch organischer Müll. Was für eine Verschwendung an Ressourcen, nicht wahr? Das Harvest-Programm will dieser Vergeudung Einhalt gebieten und gleichzeitig das Leben unserer Kunden massiv verbessern. Und zwar dann, wenn Sie es noch leben können!« Er schien zu warten, um die Worte ausreichend wirken zu lassen. »Es hört sich schlimmer an, als es in Wahrheit ist. Falls Sie einen Vertrag unterzeichen würden, würde Ihr Körper nach Ihrem Tod in unser Kontingent übergehen und seinen Dienst an der Gemeinschaft verrichten. Einfache Arbeiten, die zur Instandhaltung der Kraftwerke und Anlagen unter der Stadt erledigt werden müssen. Tätigkeiten in gesundheitsgefährdenden Umgebungen, die normale Arbeiter krankmachen. Gott, Sie würden Leben retten!«
Und gleichzeitig die mickrigen Einkommen der Downers drücken, um noch mehr in das verdammte Programm zu treiben, dachte Yara, während sie Zypras schüchtern anlächelte. »So hab ich das nie gesehen …«
»Das tun die Wenigsten«, stellte er nüchtern fest. »Aber ich bin froh, Ihnen die Augen geöffnet zu haben. Ihr Mann hat die richtige Entscheidung getroffen. Für mich ist er ein echter Held, verstehen Sie?«
Yara hatte Mühe, nicht die Augen zu verdrehen, als sich Claire erneut meldete. »Verschwinde!«
»Was?« Sie räusperte sich und tat so, als ob sie husten musste.
»Bitte?« Zypras sah sie verständnislos an.
»Entschuldigung, ich hab mich verschluckt. Gibt es ein Problem?«
»Ja, verflucht«, fauchte Claire. »Du bist aufgeflogen. Mach, dass du da wegkommst!«
»Ein Problem?« Zypras wirkte verwirrt. »Wie kommen Sie darauf?«
»Nein, nein«, beschwichtigte Yara. »Sie haben mich falsch verstanden. Ich hab ein Problem …« Sie hustete demonstrativ und hielt sich die Hand vor den Mund. »Das Gebäck … ich muss etwas … etwas davon in den falschen Hals bekommen haben.« Sie zeigte auf den Blätterteig, der nach wie vor unberührt in der Schale aus Kristallglas lag. »Gibt e s hier eine Toilette? Ich … oh Gott. Ich glaub, ich muss mich übergeben.«
»Was?« Zypras sprang alarmiert auf. »Nein. Ich meine, ja, natürlich! Elise! Bringen Sie Mrs. Troja zu unseren Sanitäranlagen!«
»Keine Zeit!«, krächzte Yara und täuschte ein unappetitliches Würgen vor. »Welche Richtung?«
Der Kerl deutete in einen Korridor, der sich rechts von seinem Büro befand. »Elise wird …«
Yara verzichtete auf eine Antwort, rannte ihn fast um und machte sich auf den Weg in den Gang, während sie den Kragen ihrer Jacke festhielt, um nicht zu viele Störgeräusche zu produzieren, die über das winzige Mikrofon übertragen wurden.
»Wie ist das passiert?«
»Zypras hat dein Gesicht gescannt und die Datei dem System einverleibt. Eine Routine der Firewall hat dich entdeckt und den Sicherheitschef alarmiert. Sie sind schon auf dem Weg!«
»Was ist mit Zak?«
»Ich manipuliere die Daten und versuche, ihm mehr Zeit zu verschaffen. Aber zuerst müssen wir dich aus der Schusslinie bringen und deine Spuren verwischen, okay?«
»Wie?«
»Du wirst mir vertrauen müssen …«
Claire führte Yara zur Toilettenanlage, lotste sie zu einer Kabine, die für Rollstuhlfahrer gestaltet worden war und wies sie an, eine Verkleidung aus Plastik von der Wand zu schrauben, hinter der sich ein fünfzig mal siebzig Zentimeter großer Wartungsschacht befand. Yara folgte ihm, bog in einen weiteren Schacht ab und ließ sich von Claire durch ein Gewirr aus Tunneln führen, bis sie vollends die Orientierung verloren hatte. Plötzlich wurde das Signal schwächer.
»Ich kann dich kaum noch verstehen!«
»Störsender … sie wollen m...ch ka...tstellen.«
Yara fluchte und erhöhte das Tempo. Wenn sie in diesem Wirrwarr die Verbindung zu Claire verlor, wäre sie erledigt. Sie blieb fluchend an herabhängenden Kabeln hängen, kletterte einen engen Schacht nach oben und verbrachte drei Minuten kriechend, während derer sie befürchtete, jeden Moment steckenzubleiben. Sie atmete schwer, setzte eine Hand vor die andere und zog sich durch das enge Verbindungsstück, bis sie sich durch eine Klappe zwängte und in einem Schacht des Entlüftungssystems landete. Ihre Bemühungen, durch das Rohr zu krabbeln, hallten hörbar durch das Geflecht aus Tunneln, und es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis der Lärm jemandem auffallen würde. Yara biss die Zähne zusammen und tastete sich über den glatten Untergrund, während Claires Stimme nur noch aus einem einzigen Stottern und Krächzen bestand. Verflucht! Ausgerechnet jetzt!
Yara erhöhte das Tempo und kroch stur vorwärts, als ihre Umgebung immer dunkler wurde. Irgendwann stieß sie mit dem Kopf gegen eine Art Wand. Sie unterdrückte ihren Reflex zu fluchen und tastete sich über das Entlüftungsgitter, bis sie den Mechanismus fand, um es zu öffnen. Danach wollte sie ihren Weg fortsetzen, griff ins Leere – und stürzte schreiend in die Dunkelheit.
Zak saß in einem Stuhl, der ihn an unzählige Zahnarztbesuche erinnerte. Seine Unterarme lagen entspannt auf zwei Lehnen, während der MRT-Ring zum zweiten Mal über ihn hinweg glitt, um auch die letzte Information aus seiner Skelettstruktur zu extrahieren. Die Biotechnikerin, Karen, überwachte die Untersuchung und starrte zufrieden auf das Display ihrer Konsole, wo Zaks Scans nebeneinander abgebildet wurden.
»Sie weisen eine hohe Knochendichte auf«, stellte sie anerkennend fest. »Unser System hat eine Verlängerung der Betriebsdauer Ihres Körpers von fast hundert Jahren errechnet.«
»Verlängerung?«
»Nachdem Sie gestorben sind …«
»Ah, verstehe.« Er verzog den Mund zu einem Schmunzeln. »Was zur Hölle bedeutet das?«
Sie erwiderte sein Lächeln, bevor sie antwortete. »Dass das Angebot des Konzerns alleine aufgrund Ihrer hervorragenden Skelettstruktur bei ungefähr fünfhunderttausend Mark liegen dürfte.«
»Steht das fest?«
»Erfahrungswerte«, erwiderte sie amüsiert. »Ihre Knochen sind nicht die ersten, die ich bewundern darf.«
»Haben Sie auch darüber nachgedacht, einen Vertrag zu unterzeichnen?«
Karen zögerte, bevor sie leise antwortete. »Ja. Aber ich hab es mir anders überlegt, nachdem ich gesehen hab, wie mit den Körpern verfahren wird.« Sie sah verlegen zu Boden. »Ich … ich hätte das nicht sagen dürfen. Bitte erwähnen Sie meine Aussage nicht, wenn Sie …«
»Machen Sie sich keine Sorgen.« Zak kannte den Prozess des Harvest-Programms nur vom Ort des Todes bis zur Abgabestelle vor dem Labor. Was danach mit den Leichen geschah, wusste er nur vom Hörensagen.
»Hört sich nicht gut an.«
»Das ist es auch nicht«, bestätigte die Technikerin. » Aber sagen Sie wirklich niemandem, dass ich darüber geredet habe … bitte. Ich brauche diesen Job. Mein Mann leidet unter einer voranschreitenden Niereninsuffizienz und die Medikamente sind verdammt teuer.«
»Das Lupus-Syndrom?«
Sie nickte.
»Das tut mir leid.«
Sie hob entschuldigend die Schultern. »Er konnte sich in jungen Jahren keine Antigene leisten. Jetzt müssen wir mit den Konsequenzen leben.«
Zak wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Stattdessen wartete er, bis der MRT-Ring zurück in die Verankerung glitt und Karen ihn unter einen Scanner schob.
»Wir brauchen noch das Wertgutachten über Ihre verfügbaren Organe«, sie vergewisserte sich mit einem Blick auf Zaks gefälschte Akte, »in Ihrem Fall das Herz, der rechte Lungenflügel und die Leber. Wenn sie in Ordnung sind, gibt das noch einmal zweihundertfünfzigtausend Mark. Das sind selbstverständlich Einkaufspreise, Mister Troja. Falls Sie einen Vertrag unterzeichnen, treten Sie die Rechte an ihren Organen an den Konzern ab, der sie gewinnbringend weiterverkauft.«
»Wäre es dann nicht besser, ich würde sie selbst verkaufen?«
»Und sie gegen billige synthetische Implantate tauschen?« Karen sah ihn tadelnd an. »Das Harvest-Programm ermöglicht es Ihnen, Ihre Organe bis zum Tod zu behalten. Sie würden erst nach Ihrem Ableben veräußert werden. Das Risiko liegt hier eindeutig auf der Seite des Konzerns.« Sie lächelte ihn schüchtern an.
»Verstehe. Wie lange wird die Schätzung dauern?«
»Die Untersuchung wird vielleicht zehn Minuten in Anspruch nehmen. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich währenddessen in der Umkleidekabine mein Sandwich esse?«
»Nein, natürlich nicht. Gehen Sie nur. Ich werde nicht weglaufen.«
»Danke.«
Zak wartete, bis Karen hinter einer schmalen Türe verschwunden war, holte den Knopf aus der Tasche seiner Jeans und steckte ihn sich ins Ohr. Anschließend aktivierte er die Verbindung über den Handheld, bis Claires sexy Stimme in seinem Ohr erklang. Allerdings wirkte sie dieses Mal etwas gestresst.
»Wo warst du denn?«
»Hat länger gedauert, als angenommen«, erwiderte er knapp. »Gibt es ein Problem?«
»Du musst dich beeilen.«
»Das war keine Antwort auf meine Frage.«
»Geh zurück in den Korridor, nimm die erste Abzweigung links, bis du einen Kontrollraum erreichst und warte, bis ich dessen Sicherheitssystem überwunden hab. Danach werde ich dich anleiten, um den Trojaner zu platzieren.«
Zak verzichtete auf ein weiteres Nachhaken und folgte Claires Anweisungen, bis er den Raum erreichte und sich in eine Nische des Ganges zurückzog.
»Verdammt …« Sie schien wirklich gestresst zu sein.
»Was ist?«
»Ging nicht um dich.«
Bevor er etwas erwidern konnte, fluchte sie erneut.
»Und jetzt?«
»In dem Raum befindet sich ein Sicherheitsbeamter, der keine Anstalten macht, ihn zu verlassen.«
»Warum sollte er?«
»Ich hab ihn ausrufen lassen.«
»Wo ist er genau? «
»Links hinter der Tür befindet sich eine Art Pult. Er steht vor einem Display.«
»Öffnen!«
»Aber …«
»Aufmachen!«
Das Klicken war kaum zu hören. Zak ging direkt zur Tür, öffnete sie, so schnell er konnte, und hielt auf den Kerl zu, der sich scheinbar eine Pornoseite ansah.
»Verpiss dich, Müller. Ich brauch noch ein paar …«
Zak schlang dem Mann den Unterarm um den Hals, verankerte die Hand in der Ellbogenbeuge des anderen Arms und zog zu. Gleichzeitig presste er seine Stirn gegen dessen Rücken, um sein Gesicht vor Fingerstichen zu schützen. Der Kerl strampelte wie ein Ochse, bis sein Körper immer schlaffer wurde und er mit heruntergelassener Hose auf den Boden sackte. Zak fesselte seine Hände mit Plastikschellen und wandte sich der Konsole zu.
»Lösch die Bilder der Sicherheitskameras und sag mir, was ich tun soll.«
»Schon erledigt, ich hab einen Loop erzeugt. Es wird keine weiteren Aufnahmen von dir geben. Geh zur Konsole und logge dich aus.«
Zak folgte den Anweisungen.
»Jetzt meldest du dich mit folgenden Daten an. Benutzername: DVader666. Passwort: Order-66.«
Zak gab die Logindaten über die virtuelle Tastatur des Displays ein und wartete, bis er vom System als Doktor Cujo Severin identifiziert wurde. Anschließend wurde ein abschließender Retina-Scan verlangt, den Claire über eine vorbereitete Routine simulierte.
»Nimm den Scanner der Konsole und halt ihn über dein linkes Handgelenk. «
Zak gehorchte und wartete, bis das Gerät den Scanvorgang mit einem Signalton abschloss.
»Das war’s«, bestätigte Claire seine Vermutung. »Und jetzt mach, dass du da rauskommst!«
»Kein Problem. Ich nehme an, du hast die Ergebnisse meines Organ-Scans bereits vorbereitet?«
»Das können wir uns sparen«, erwiderte sie knapp. »Yara ist aufgeflogen.«
»Und jetzt?«
»Du musst einen anderen Weg nach draußen finden. Die Tiefgarage befindet sich nur eine Etage tiefer. We... du es bis do...hin schaffst, kann ich … Tore öffn...«
»Claire?«
Keine Reaktion.
Dreck! Zak sah sich um, bis sein Blick auf den bewusstlosen Sicherheitsmitarbeiter fiel. Fünf Minuten später stürmte er in dessen Uniform auf den Gang und begann nach einer Art Leitsystem Ausschau zu halten, das ihm den Weg durch das Gebäude erleichtern würde. Nachdem er es gefunden hatte, öffnete sich eine doppelflügelige Tür und drei Sicherheitsbeamte hetzten in den Gang. Zak zog sich den Schirm des Caps tiefer ins Gesicht, bevor die ersten beiden Männer ihn passierten. Danach fiel sein Blick auf das Namensschild des Nachzüglers und er legte einen Zahn zu, um Müller abzufangen.
»Hey, Koller, wo zur Hölle willst du …«
Zak schlug ihm den Ellbogen ins Gesicht und riss ihn mit sich durch eine unverschlossene Tür. Anschließend hämmerte er ihm zweimal mit der Faust gegen die Schläfe und ließ Müller auf den Boden gleiten, während er aufmerksam die Geräusche auf dem Gang verfolgte. Die Schritte der beiden anderen Männer entfernten sich, bis eine Stimme zu hören war, die Zak kannte. Die Biotechnikerin wirkte aufgeregt. Kurz darauf näherten sich die Kerle erneut. Zak schob Müllers blutige Lippen zur Seite und stellte fluchend fest, dass er ihm zwei Zähne ausgeschlagen hatte, die vermutlich vor dem Raum auf dem Boden lagen. Seine Chancen, unentdeckt zu bleiben, standen vielleicht fünfzig zu fünfzig. Er nahm Müller einen Teleskopschlagstock ab und presste sich mit dem Rücken gegen die Wand neben der Tür. Danach wartete er und konzentrierte sich einzig und allein auf die Sicherheitsmitarbeiter. Die Stille schien ihn erdrücken zu wollen, und es dauerte nicht lange, bis es in seinen Ohren rauschte, während die Männer schnell näherkamen. Kurz vor der Tür verlangsamten sich ihre Schritte. Dann blieben sie stehen – und der Türgriff begann sich langsam zu drehen.
Yara rang nach Atem und tastete vorsichtig um sich. Sie lag auf einer harten Platte. Ihre Seite war geprellt. Die Schmerzen trieben ihr die Tränen in die Augen, während sie versuchte, sich zu orientieren. Sie ertastete genietetes Blech, Stahlträger und Stahlkabel, roch Schmiermittel und alten Staub. Ungefähr drei Meter über ihr drang ein schwacher Schimmer aus einer Öffnung der Wand. Von dort musste sie abgestürzt sein. Noch sehr viel weiter darüber befand sich eine rötliche Lichtquelle, die das obere Ende des Schachts zu markieren schien.
Sie rollte sich ächzend auf die Seite und wollte aufstehen, als sich die Plattform in Bewegung setzte und zügig nach oben schwebte. Das verdammte Licht kam immer näher und Yara befürchtete, wie eine Fliege an der Decke zerquetscht zu werden, als sie schützend die Hände vors Gesicht riss und der Fahrstuhl hielt. Die Betondecke befand sich vielleicht dreißig Zentimeter über ihr. Als die Kabine wieder nach unten glitt, atmete sie erleichtert aus. Anschließend setzte sie sich auf und beleuchtete mit dem Display ihres Handhelds den Untergrund, bis sie einen Hebel fand, um die Klappe zu öffnen, die in den Innenraum der Kabine führte. Sie wartete, bis der Aufzug erneut hielt und mehrere Sekunden in derselben Position verharrte, bevor sie die Zähne zusammenbiss und die Luke mit einem Ruck öffnete. Niemand war hier. Sie ließ sich stöhnend in die Kabine hinab und musste sich mit den Händen auf dem Boden abstützen, um nicht nach vorne zu kippen. Danach stand sie mithilfe eines Haltegriffs auf, aktivierte das Display und gab das zweite Untergeschoss als Ziel ein.
Einige Sekunden später lehnte sie sich gegen die Wand des Aufzugs und atmete tief durch, während sie hoffte, dass Zak erfolgreich gewesen war. Wenn er den Trojaner wie geplant platziert hatte, würde Claire bereits in Biophols System eingedrungen sein und begonnen haben, nach den verschwundenen Daten zu suchen. Yara kannte niemanden, der talentierter als Claire war, was Daten und die Beschaffung derselben betraf. Sie hatte die Frau – falls es sich um eine handelte – vor zwei Jahren bei einem Job kennengelernt und ihr einen Cyberstalker vom Hals geschafft, nachdem sie seinen Standort lokalisiert hatte. Seitdem hatten sie mehrfach zusammengearbeitet und Yara wusste, was sie an Claire – und vor allem an deren Fähigkeiten im virtuellen Raum – hatte.
Als die digitale Anzeige das zweite Untergeschoss anzeigte, richtete sie sich auf und wartete, bis der Aufzug stoppte und die Türen sich öffneten. Anschließend taumelte sie überrascht zurück .
»Ms. Bukhari!« Sorokin nickte ihren vermummten Begleitern zu, die die Kabine mit vorgehaltenen Waffen betraten und Yara in Schach hielten. »Was für eine angenehme Überraschung. Ich hatte schon befürchtet, wir hätten uns verpasst.«
Zak hämmerte dem ersten Kerl das Endstück des Schlagstocks auf die Nase, blockte einen Angriff des zweiten Mannes und zog ihn am Kragen in den Raum. Der Sicherheitsmitarbeiter krachte gegen einen Schreibtisch und riss unzählige Reagenzgläser mit sich, bevor er auf dem Boden aufschlug. Zak zog dem ersten Mann den Schlagstock über den Schädel und trat ihm in die Rippen. Danach widmete er sich dem anderen, der sich stark blutend an einem Regal nach oben zog. In seinen Händen steckten unzählige Splitter der zerbrochenen Gläser, die überall auf dem Boden zerstreut lagen.
Zak lief zu ihm, trat in seine Kniekehle und schlug ihm das Endstück des Schlagstocks gegen den Schädel, bis er bewusstlos zusammenbrach. Anschließend ließ er die Waffe fallen und durchsuchte die Kerle. Er fand eine getönte Schutzbrille und einen schwarzen Mundschutz, der die Sicherheitsmitarbeiter vor den Bakterien möglicher Angreifer schützen sollte, setzte beides auf und ging zur Tür. Nachdem er den Gang betreten hatte, entdeckte er die Biotechnikerin, die ihn fragend anstarrte.
»Alles okay«, sagte er mit verstellter Stimme. »Wir haben alles unter Kontrolle.«
Anschließend wandte er sich um und folgte den Wegmarken in Richtung der Aufzüge. Er passierte aufgeregt klingende Wachmänner, die ihn keines Blickes würdigten, wich Menschen in Laborkitteln aus und bog schließlich in einen Korridor ab, der ihn zu seinem Ziel brachte.
Kurz bevor er den Aufzug erreichte, glitten dessen Türen auf und fünf Personen betraten den Gang. Die Männer trugen Anti-Riot-Kampfanzüge, die aus Kunststoffplatten, Splitterwesten und reißfesten synthetischen Textilien bestanden. Die Visiere ihrer Helme waren abgedunkelt und reichten bis über die Nasen. Die Typen wirkten wie Paramilitärs und Zak hatte keine Lust, ihnen in die Quere zu kommen. Angeführt wurde die Gruppe von einer adrett wirkenden Managerin, deren dunkelviolett schimmernden Haare sich ihren eleganten Bewegungen anpassten und wie die Mähne einer Löwin durch die Luft wirbelten. Sie bedachte Zak mit einem verächtlichen Blick und hätte ihn fast gerammt, wenn er nicht ausgewichen wäre.
»Verständigen Sie die lokalen Behörden und sorgen Sie dafür, dass das Miststück gefunden wird!«
Einer der Kerle nickte, drängte Zak zur Seite und zog ein militärisches Komm-Gerät aus einer Halterung am Gürtel.
»Verstanden, Ma’am …«
Zak wich zwei weiteren Männern aus und schaffte es in die Kabine, bevor sich deren Türen schließen konnten. Danach aktivierte er das Display des Fahrstuhls und ließ sich zur Tiefgarage bringen.
Während der kurzen Fahrt kreisten seine Gedanken ausschließlich um Yara und ob sie es geschafft hatte, ungesehen aus dem Gebäude zu entkommen. Wenn sie erwischt wurde, könnte das ihren Status als Sonderermittlerin gefährden. Da die Zeitspanne bis zum Ende des Untersuchungsausschusses relativ gering war, und die Anwälte des Konzerns einen Besichtigungstermin so lange hinausgezögert hätten, bis es zu spät sein würde, war sie das Risiko eingegangen, die Anlage auf eigene Faust zu infiltrieren. Zak hatte diesen Job alleine übernehmen wollen, aber Yara war der Meinung gewesen, dass zwei Chancen besser als eine waren und hatte sich am Ende durchgesetzt. Claire – von der es anscheinend bis auf die sexy Stimme weder visuelles Material noch eine gültige Adresse gab – hatte ihr in den Kopf gesetzt, einen Trojaner installieren zu müssen, um die Sicherheitssysteme Biophols überwinden und dadurch eine Menge Zeit sparen zu können. Jetzt musste Claire liefern.
Nachdem die Türen aufgeglitten waren, verließ Zak die Kabine und wollte zum BMW gehen, als er aus den Augenwinkeln einen Schatten bemerkte.
Jemand schien in einer Ecke der Tiefgarage zu liegen. Zak sah sich unauffällig um und näherte sich der Gestalt vorsichtig an. Während er Meter um Meter zurücklegte, zog sich sein Hals zusammen und sein Magen verkrampfte, bis er sich fluchend neben Yara auf die Knie sinken ließ und fassungslos in ihr blutüberströmtes Gesicht starrte.