Kapitel Sieben
Yaras Schädel hämmerte wie eine Maschine, die kurz davor war, auseinanderzubrechen. Sie fror trotz der Decken seit Stunden und hatte bereits vier Laken durchgeschwitzt. Ihre Muskeln krampften und sie fühlte sich, als ob eine Elefantenherde über sie hinweg gelaufen war. Zu verdanken hatte sie diesen Zustand Sorokin, deren Männer ihr eine Ladung Metamphetamin verpasst und sie danach auf den Boden hatten fallen lassen, wo sie sich eine Platzwunde an der Stirn zugezogen hatte. Yara war knapp an einer Überdosis vorbei geschrammt und fühlte sich mehr als schlecht. Sie hasste Drogen und hatte Junkies immer als wesensschwache, bemitleidenswerte Kreaturen betrachtet – und Sorokin hatte einen aus ihr gemacht. Diese verdammte Schlampe! Der Konzern hatte die Auseinandersetzung auf eine neue Ebene gehievt, die auch direkte Gewalt nicht mehr ausschloss, um die gesteckten Ziele zu erreichen. Der Angriff würde sie Stunden kosten, und wenn Zak sie nicht in der Tiefgarage gefunden und zu einem Arzt gebracht hätte, wäre sie von den Cops aufgegriffen worden und hätte ihre Karriere an den Nagel hängen können. Trotzdem war das Ganze nicht überstanden: Ihr Termin für den amtlichen Drogentest sollte heute Nachmittag stattfinden und der Arzt, der zusammen mit Zak Leichen für Biophol extrahiert hatte, konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob die Zeit reichen würde, um Yara zu entgiften. Der beschleunigte Entzug machte ihr zu schaffen und sie wünschte sich weit weg, während die Ringe ihre Arbeit verrichteten und ihren Körper durch die Mangel drehten. Einer saß am Oberarm, zwei an den Beugen der Ellbogen. Die medizinischen Einheiten waren über winzige Schläuche mit einem Filter verbunden, der das Methamphetamin aus ihr herausspülte – und das seit Stunden!
Zak schlief in einem Sessel neben dem Bett. Er war die Nacht nicht von ihrer Seite gewichen und hatte den Arzt angetrieben, alles Mögliche zu tun, um ihr zu helfen und sie am Leben zu halten. Die Dosis war für jemanden, der clean war, viel zu hoch und hätte Yara auch töten können. Ein Risiko, das Sorokin ohne zu zögern in Kauf genommen hatte. Yara verdankte ihr Leben ausschließlich Zak, obwohl sie wusste, dass sie seine Hilfe nicht verdient hatte.
Sie verdrängte die aufsteigenden Erinnerungen, wischte sich mit dem Handrücken über die feuchten Augen und streckte die zitternde Hand nach einem Glas Wasser aus, das auf einer Ablage neben ihr stand. Aber ihre Bewegungen waren zu unkoordiniert, als dass sie es hätte nehmen können, weshalb sie fluchend aufgab.
»Warte …« Zak rieb sich die müden Augen, nahm das Glas und setzte es behutsam an ihre Lippen. »Lass dir helfen.«
»Danke …« Ihre Stimme klang heiser.
»Der Entgiftungsprozess entzieht deinem Körper eine Menge Flüssigkeit.« Er tippte auf den achten Infusionsbeutel, der fast leer war.
»Wie … wie lange …«
»Das weiß ich nicht. Deine Anwältin versucht, den Termin für den Drogentest zu verschieben, aber sie hat sich bis jetzt nicht gemeldet.«
Yara konnte die Tränen nicht unterdrücken, die über ihre Wangen liefen und im verschwitzten Laken versickerten. Ihr blieben nur noch drei Tage und sie fühlte sich schwach und unfähig. Die verdammten Drogen hatten ihr Selbstbewusstsein und ihre Selbstsicherheit zerstört – und das im schlechtesten Moment, den sie sich vorstellen konnte.
»Hey …«, versuchte Zak, sie zu beruhigen und strich über ihre Wange. »Alles wird gut, Prinzessin. Mach dir keine Sorgen, okay?«
Yara wollte nicht, aber sie ließ sich von ihm umarmen, presste ihr Gesicht gegen seinen Hals und begann hemmungslos zu weinen. Zak strich über ihren Kopf und ihren zitternden Rücken, bis sie sich wieder beruhigt hatte und den Druck seiner Umarmung erwiderte. Sie blieben eng umschlungen sitzen, bis Dadjic die Tür öffnete und das improvisierte Krankenzimmer betrat. Er hatte einen neuen Infusionsbeutel bei sich.
Yara ließ Zak los und versuchte, sich aufzurichten, aber sie war zu schwach und sank fluchend zurück ins Kissen.
»Sie sollten sich schonen«, bemerkte der Arzt knapp und warf Zak einen skeptischen Blick zu, während er den Beutel wechselte. »Die Zwangsentgiftung verlangt ihrem Körper einiges ab. Wenn Sie Glück haben, werden die Spuren der Drogen in ein paar Stunden nicht mehr nachweisbar sein.«
»In ein paar Stunden?« Yara sah ihn niedergeschlagen an, aber Dadjic zuckte nur entschuldigend mit den Achseln.
»Das hier ist kein Konzernkrankenhaus, Ms. Bukhari. Sie können froh sein, dass ich diese Geräte«, er machte eine ausholende Bewegung mit der Hand, »kurzfristig besorgen konnte. Und ehrlich gesagt hab ich mich diesem Risiko nur ausgesetzt, weil Chief Mokai mich darum gebeten hat.«
»Risiko?«
»Natürlich«, erwiderte er kopfschüttelnd. »Was glauben Sie, wo man diese Art von Equipment auf die Schnelle herbekommt?«
Zak bedeutete Yara mit einer Handbewegung nicht nachzuhaken, worauf sie den Mund verzog und die Arme vor der Brust verschränkte.
»Ich möchte mich trotzdem bei Ihnen bedanken …«
»Machen Sie das bei ihm.« Dadjic zeigte beiläufig auf Zak, während er den Filter überprüfte. »Von mir hätten Sie nichts zu erwarten.«
Yara starrte ihn verwirrt an.
»Sie sind mir zu elitär und leben in einer Welt, die mit meiner nicht viel gemein hat«, beantwortete er ihren fragenden Blick. »Außerdem sind es Menschen in Ihrem Umfeld, die den Nichtprivilegierten für gewöhnlich das Leben zur Hölle machen.«
»Warum helfen Sie mir dann?«
»Weil der Chief mich darum gebeten hat, und weil ich das verdammte Geld brauche. Ich sehe später wieder nach Ihnen.«
Nachdem die Tür zugefallen war, wich Yara betreten Zaks Blick aus.
»Ist schon okay«, winkte er ab. »Mach dir keine Gedanken, er ist im Grunde ganz in Ordnung.« Zak wechselte das Thema. »Ich hab eines der anonymen Konten angegeben, und Claire hat dafür gesorgt, dass uns niemand auf die Spur kommt. Du bist vorerst sicher.«
»Ich muss hier raus. Der Ausschuss …«
»Noch nicht«, unterbrach Zak. »Du musst dich schonen, verstanden? Wenn du nicht wie ein Wrack bei der amtlichen Untersuchung erscheinen willst, musst du dich noch etwas gedulden.«
»Aber der Untersuchungsausschuss wird bald zu Ende sein. Ich muss die Daten …«
»Claire und ich werden die nächsten Stunden auch ohne dich zurechtkommen. Halt dich einfach zurück.«
»Ist das ein Befehl?«
»Natürlich, Ma’am«, erwiderte er schmunzelnd, während er vor Yara salutierte. »Ich befehle Ihnen, sich zu schonen. Abgesehen davon, kannst du ohnehin nicht viel machen. Du kannst deinen Körper ja kaum kontrollieren.«
»Also gut«, gab sie zähneknirschend nach. »Gibt es Neuigkeiten?«
Zak stand auf, streckte sich und lehnte sich gegen die Wand, bevor er antwortete. »Claire konnte dank unserer Bemühungen das Sicherheitssystem des Konzerns überwinden und hat bereits massenhaft Bots auf die Reise geschickt, die nach allem Möglichen suchen, das mit dem Harvest-Programm und dem Untersuchungsausschuss zusammenhängen könnte.«
»Und?«
»Die Videoaufzeichnungen aus den Sicherheitskameras den Vorfall betreffend wurden mit einem hochkomplizierten Verfahren gelöscht. Sie sind nicht wiederherstellbar und damit verloren. Die beiden Überwachungsdrohnen des Konzerns, die deinen Besuch festgehalten haben, befinden sich aktuell im Wartungsmodus. Ob deren Blackboxes ebenfalls bearbeitet wurden, kann Claire im Moment nicht feststellen. Aber sie ist dran.«
Dreck! Im Grund hatten sie nichts, was gegen das Harvest-Programm eingesetzt werden könnte. Yara fühlte sich immer schlechter und hatte große Mühe, sich von den miesen Gedanken nicht weiter runterziehen zu lassen.
»Claire hat einen Begriff erwähnt, der im Zusammenhang mit dem Harvest-Programm aufgetaucht ist: Ceres. Schon mal gehört?«
Yara schüttelte den Kopf, während sie das Scheitern des Untersuchungsausschusses bereits vor ihrem geistigen Auge durchspielte.
»Außerdem existiert ein undurchschaubares Netzwerk aus Firmen, Tochterfirmen und Scheinfirmen, die um das fürs Programm verantwortliche Unternehmen gesponnen wurden. Claire wird etwas Zeit brauchen, um sich einen Überblick zu verschaffen.«
»Sie soll nach einer Verbindung zu Alcatex suchen.«
Zak hob interessiert eine Augenbraue.
»Ein chinesischer Militärkonzern mit extrem schlechtem Image. Verbindungen desselben mit Biophol stehen seit Jahren im Raum, konnten aber bisher nicht bewiesen werden.«
»Verstehe. Ich werde Claire darauf hinweisen.«
»Danke.«
»Gerne.«
»Ich meine … für alles.« Yara sah betreten vor sich aufs Laken. »Ohne dich wär ich verloren.«
»Mach dir deswegen keine Gedanken, okay?«, erwiderte er lächelnd. »Hab ich gern gemacht.«
»Hab ich aber nicht verdient.«
Zak wollte etwas erwidern, als der Signalton seines Handhelds das Gespräch unterbrach und Yara sich wütend auf die Unterlippe biss. Was war denn nur los mit ihr? Sie war kurz davor, Zak von ihrem Verrat zu erzählen. Und das in dieser Situation! Immerhin brauchte sie ihn, um gegen Biophol vorgehen zu können!
Falsche Schlange!, meldete sich eine verärgert klingende Stimme in ihrem Kopf. Du bist nicht besser als all die Konzerner, die die Menschen für ihren Vorteil ausbluten lassen!
Yara schüttelte den vorwurfsvollen Gedanken ab und konzentrierte sich wieder auf Zak, dessen Umarmung nach wie vor in ihren Gefühlen präsent war, und sie würde lügen, wenn sie abstritt, seine Berührungen nicht genossen zu haben.
»Ist etwas vorgefallen?«
»Nein«, winkte er ab. »Ich muss was erledigen, das ist alles. Ich komm zurück, so schnell ich kann. Du solltest dich derweilen erholen, okay? Mach keine Dummheiten.«
»Wie Sie befehlen, mon général «, erwiderte Yara grinsend und wollte ebenfalls salutieren, schrammte mit ihren Fingernägeln stattdessen knapp an ihrem Auge vorbei und ließ sich fluchend ins Kissen sinken.
Zak verzog schmunzelnd den Mund, gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und verließ das Zimmer, während Yara noch minutenlang auf die Tür starrte und versuchte, seine Silhouette in Gedanken auf der zerkratzten Oberfläche erneut zum Leben zu erwecken.
Zak parkte den BMW gegenüber der Trainingshalle, überquerte die Straße und hielt auf eine Gasse zu, in der sich ein unscheinbarer Seiteneingang befand. Abi hatte ihn gebeten, diesen zu benutzen und sich nicht im Trainingsareal blicken zu lassen. Er schien wütend auf Zak zu sein, aber darauf konnte er im Moment keine Rücksicht nehmen – sosehr er den Nordafrikaner auch mochte.
Nachdem Zak Dadjics improvisiertes Krankenzimmer verlassen hatte, war er zu seinem Apartment gefahren, um sich kurz frisch zu machen und den Einsatzanzug gegen Jeans und eine gefütterte Lederjacke zu tauschen. Es hatte über Nacht erneut abgekühlt und der Frost viele Todesopfer in den Downers gefordert. Die Stimmung war schlecht, die Menschen gereizt, denn der kommende Jahrhundertwechsel schien schlimmer auf die Psyche der Bürger zu wirken, als Weihnachten es jemals gekonnt hätte. Viele machten sich anscheinend Hoffnung auf Besserung, die nicht kommen würde. Zak befürchtete, dass die Enttäuschung Hunderttausender das Fass zum Überlaufen bringen würde, weshalb er sich am liebsten zusammen mit Yara abgesetzt und die kommende Woche irgendwo in Ruhe verbracht hätte, um erst zurückzukommen, wenn sich der Ärger gelegt hatte.
Aber das war leider nicht möglich. Brecher hatte Bianca nach wie vor in seiner Gewalt, und Yara würde nicht lockerlassen, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Dazwischen befand sich Zak, der weder wusste, was er wollte, noch definieren konnte, wen er bereit war, für sein Ziel zu opfern. Denn er vermutete, dass er nicht alle würde retten können. Auch wenn ihm dieser Gedanke höllische Angst machte. Nichtsdestotrotz war es an der Zeit, in die Offensive zu gehen.
Der Konzern hatte mit dem Anschlag auf Yara klargemacht, dass er bereit war, bis zum Äußersten zu gehen, um seine Ziele durchzusetzen. Gleichzeitig würde Brecher sich nicht ewig hinhalten lassen. Zak hatte ihn über Yaras Zustand informiert und angegeben, dass die Ermittlungen ruhen würden, bis sie wieder auf den Beinen war – obwohl Claire im Hintergrund das System Biophols bereits auf den Kopf stellte. Wenn die Datenspezialistin einen Fehler machen und auffliegen würde, würden Brecher und der Konzern vielleicht ein Exempel statuieren. Ein Exempel, das Zak tief treffen würde, egal welche der Frauen geopfert wurde – denn er liebte sie beide. Deshalb hatte er Abi kontaktiert und ihm einen Gefallen abgerungen, der Zak vermutlich die Freundschaft mit dem Nordafrikaner kosten würde. Aber er war bereit, diesen Preis zu bezahlen, weil er im Vergleich zu den Alternativen überschaubar war und keine Leben fordern würde. Das hoffte Zak jedenfalls.
Und was war mit Yara? Als er sie gestern in der Tiefgarage gefunden hatte, war ihm fast das Herz stehengeblieben. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn er sie übersehen hätte. Die Cops hätten sie in eines der Konzernkrankenhäuser gebracht, indem das Crystal Meth in ihrem Blut nachgewiesen und sie anschließend suspendiert worden wäre – sofern sie den Transport überlebt hätte. Der unerträgliche Gedanke, sie für immer zu verlieren, schnürte ihm die Kehle zu. Gleichzeitig missfiel ihm der Umstand sie zu verraten jeden Tag mehr, und er hätte alles dafür gegeben, ihr reinen Wein einschenken zu können. Allerdings würde das vielleicht unerwartete Konsequenzen für Bianca nach sich ziehen, denn Yaras Drang, zu den Guten gehören zu wollen, würde auch vor Zak nicht haltmachen und vermutlich Ermittlungen in Gang setzen, die das Leben seiner Schwester gefährden könnten. Ein weiteres Risiko, dass Zak nicht bereit war, einzugehen. Verflucht! Da er im Moment keinen Ausweg aus seinem Dilemma sehen konnte, schüttelte er die dunklen Gedanken ab und wollte sich auf den Weg zum Wagen machen, als er erneut angerufen wurde.
»Ja?«
»Ich bin’s, Chief«, erklang Tillys leise Stimme aus den Lautsprechern des Handhelds. »Ich häng an ihm dran. Sobald ich etwas Verwertbares bezüglich Ihres Problems finde, melde ich mich.«
»Danke. Und gehen Sie kein unnötiges Risiko ein, ja? Die Bastarde schrecken vor nichts zurück.«
»Keine Sorge, Chief. Ich pass auf mich auf. Versprochen.«
Zak kappte die Verbindung und hoffte, dass Claires Routinen die Kanäle zu seinem Handheld sauber hielten. Immerhin wollte er die Häscher des Konzerns nicht auch noch auf Tilly aufmerksam machen.
Danach hatte er sich auf den Weg zu seinem Wagen gemacht und war während der Fahrt zur Trainingshalle fast eingenickt, weil er die Nacht nur wenig geschlafen hatte und die Müdigkeit langsam ihren Tribut forderte.
Der Seiteneingang zum Gym war verschlossen. Zak betätigte eine altmodische Klingel und wurde eine Minute später eingelassen. Abi bedachte ihn mit einem missmutigen Blick, bevor er ihn in einen abgelegenen Raum führte.
»Ich hoffe, du weißt, in welche Situation du mich gebracht hast.«
»Das ist mir klar«, stellte Zak fest. »Ich hätte es nicht gemacht, wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte. Aber mir läuft die Zeit davon.«
»Was soll das bedeuten?«
»Kann ich dir nicht sagen.«
Abi schnaubte verächtlich. Er hatte tiefe Augenringe und schien die vergangene Nacht ebenfalls nur wenig geschlafen zu haben.
»Du weißt, dass ich mich mit diesen Leuten nicht mehr abgeben wollte. Du hast kein Recht, meine Existenz zu zerstören!«
»Es ging nur um die Vermittlung eines Kontakts«, wiegelte Zak ab und hob beschwichtigend die Handflächen. »Das ist alles.«
»Für dich vielleicht«, hielt Abi verärgert dagegen. »Ich schulde den Bastarden ab heute einen Gefallen, verstehst du? Wegen dir!«
»Du solltest ihnen Geld anbieten …«
»Sie wollen kein Geld.« Er sah ihn entgeistert an. »Wie oft muss ich dir noch erklären, dass ein Gefallen in den Downers mehr wert ist, als ein paar Mark. Sie werden irgendwann auf mich zurückkommen, und der Preis, den ich dann bezahlen werde, wird sehr viel höher sein, als du dir vorstellen kannst.«
»Das werden sie nicht. Ich …«
»Du hast keine Ahnung, wie diese Menschen ticken, also spar dir dein Gelaber!« Abi drückte ihm einen Zettel in die Hand. »Und lass dich hier nie wieder sehen!«
Zak verzichtete auf eine Antwort und ließ sich von dem Nordafrikaner zum Seiteneingang drängen, wo er die gepanzerte Tür wütend hinter ihm ins Schloss warf. Danach schlang Zak die Jacke enger um sich und zog den Kopf ein, während der Wind unablässig Schneeflocken in die Gasse peitschte, die wie kleine Nadeln gegen sein Gesicht prallten und ihn die Augen verengen ließen. Er bedauerte, Abis Freundschaft für eine Information geopfert zu haben, aber er hatte einfach nicht genug Zeit, um die Dinge anders zu lösen. Nicht, nachdem der Konzern Yara beseitigen wollte und Bianca jederzeit der Willkür Brechers ausgeliefert war.
Er stieg in den BMW, gab die Adresse auf dem Zettel ins Navi ein und verließ den Sektor. Anschließend nahm er einen Zubringer, der ihn direkt ins Herz der Downers führte.
Eine Stunde später fuhr er durch eine düstere Gasse, an deren Seiten unzählige Körper ruhten, die bereits von einer dünnen Schicht Schnee bedeckt waren. Die Opferzahlen der letzten Nacht waren rapide angestiegen, weshalb die Angestellten des Stadtstaats Mühe hatten, die Erfrorenen zeitnah verschwinden zu lassen. Jeder konnte die Toten sehen, die das Ergebnis einer jahrelangen Misswirtschaft von Politikern waren, die nur auf ihren eigen Vorteil bedacht und jedes Opfer in Kauf nahmen, um ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen.
Normalerweise verschwanden diese Beweise, noch bevor der Morgen graute. Aber nicht heute. Sie waren für jeden zu sehen, und die über die Jahre aufgestaute Wut ließ nicht lange auf sich warten. Horden von jungen Migranten zogen plündernd durch die Straßen, lieferten sich Auseinandersetzungen mit den Cops und besetzten wichtige Knotenpunkte des Sektors, die gerne von Einheiten des SEKs genutzt wurden, um die Menschenströme im Notfall steuern zu können. Gleichzeitig zogen die mysteriösen Prediger durch die Straßen, die die Menschen an leichtzugänglichen Plätzen abfingen und sie gegen die Regierung und die Konzerne aufhetzten. Die Downers waren zu einem verdammten Pulverfass verkommen, das jederzeit hochgehen konnte. Und Zak befand sich mittendrin.
Nach einigen Minuten bog er im Schritttempo in eine schmale Straße ab, die durch bewaffnete Männer vor der wütenden Menge geschützt wurde. Er fuhr bis zu einer Art Markthalle und blieb stehen, als er von einer Gruppe Vermummter aufgehalten wurde. Einer von ihnen klopfte mit dem Lauf einer Kalaschnikow gegen Zaks Fenster, bis er es heruntergleiten ließ.
»Du hast hier nichts verloren. Dreh um und verpiss dich, solange du noch kannst!«
»Ich werde erwartet«, knurrte Zak und hielt dem stechenden Blick des Mannes stand.
»Von wem?«
»Trev Berisha.«
Der Mann wandte sich ab und zog einen Handheld aus der Tasche, um sich rückzuversichern. Einige Sekunden später legte er seine Hände aufs Dach des BMW und beugte sich grinsend zu Zak.
»Steig aus. Ich bring dich zu deinem 11-Uhr-Termin, Missy.«
»Was ist mit meinem Wagen?«
»Wir passen solange auf ihn auf. Solltest du lebend zurückkommen, kannst du ihn wiederhaben.«
Die Kerle begannen dreckig zu lachen, während Zak ausstieg, absperrte und den Schlüssel in seiner Hosentasche versenkte. Der Mann ließ ihn gewähren und befahl zwei Jugendlichen, den BMW im Auge zu behalten. Danach nahm er Zak mit seinen Begleitern in die Mitte und führte ihn zum Eingang der Markthalle, die gut besucht war.
Der Schwarzmarkt schien hervorragend organisiert zu sein. Die Anzahl und die Bandbreite der angebotenen Produkte sprengte sogar die Vorräte der gut bestückten Märkte in den besseren Vierteln, was auf einflussreiche Verbindungen des Betreibers in die höchsten Instanzen schließen ließ. Sogar die Überwachungsdrohnen der Cops schienen einen Bogen um dieses Areal zu machen und die Anwesenden sich selbst zu überlassen.
Innerhalb des Marktes hielten sich bewaffnete Sicherheitsleute auf, während die finanzstarken Kunden durch die künstlich angelegten Gänge schlenderten und die ausgelegten Waren begutachteten. Die Klientel gehörte zu den einflussreicheren Menschen der Downers, die sich durch eine hohe Gewaltbereitschaft und eine dazu passende ausgeprägte Skrupellosigkeit auszeichneten. Hehler, Dealer, Zuhälter und andere kriminelle Elemente gaben sich die Türklinke in die Hand, als ob es das Selbstverständlichste wäre. Zak war sich nicht mehr sicher, ob er seinen Gastgeber wirklich kennenlernen wollte, aber jetzt war es zu spät, um einen Rückzieher zu machen.
Die Männer brachten ihn zu einer Tür, hinter der sich eine Treppe befand, die ins Untergeschoss führte. Sie durchsuchten ihn nach Waffen, passierten anschließend vier Wachen und betraten einen luxuriös eingerichteten Empfangsraum, wo Zak von einer jungen Chinesin erwartet wurde, die ein schwarzes knappes Kleid trug und sich als Shenmi vorstellte. Anscheinend war sie eine weitere Trophäe des Mannes, der hier das Sagen hatte.
An der Wand hingen präparierte Köpfe von allen möglichen Raubtieren, dazwischen indirekte Lichtspiele, die an Fackeln erinnerten. Der Boden war mit einem dunkelroten Teppich ausgelegt worden, der die Geräusche von Zaks Schritten komplett verschluckte. Das Ganze wirkte wie der Sandkasten eines Spätpubertierenden, der seinen angehäuften Luxus ohne Bedenken zur Schau stellte.
Shenmi öffnete eine große doppelflügelige Tür und bedeutete ihm vorzugehen. Dahinter lag ein ebenfalls exklusiv ausgestattetes Büro mit einem wuchtigen handgeschnitzten Schreibtisch im Zentrum, hinter dem ein hagerer Mann saß. Er trug eine getönte Brille, einen teuren dunklen Anzug und besaß goldene Ringe, die seine dürren Finger verschönerten. Shenmi bot Zak an, auf einem Sessel vor dem Tisch Platz zu nehmen und zog sich zurück.
»Wir haben den Aufenthaltsort Ihres Zielsubjektes ermittelt«, begann Berisha mit schleichender Stimme.
»Wohin soll ich den Betrag überweisen?«
»Welchen Betrag? Unser gemeinsamer Kontakt hat sich bereiterklärt, mir einen entsprechenden Gefallen zu offerieren, und ich werde darauf zurückkommen, wenn es sich anbietet.« Der Albaner verzog den Mund zu einem breiten Lächeln und präsentierte zwei goldene Zahnreihen, die perfekt aufeinanderpassten. »Allerdings sichern wir uns immer in alle Richtungen ab.« Er räusperte sich. »Darf ich fragen, weshalb Ihnen daran liegt, Colin Brannagh ausfindig zu machen? Er scheint ein gefragter Mann zu sein, und ich habe einen Deal mit den lokalen Behörden am Laufen, den ich ungern für Sie aufs Spiel setzen würde.«
»Ich hab eine Frage an ihn.«
»Das ist alles?«
Zak nickte.
»Ich kann ein Treffen arrangieren«, stellte Berisha erleichtert fest, während er die Knöchel seiner Finger knacken ließ. »Allerdings haben wir uns noch nicht über Ihren Preis unterhalten.«
»Ich dachte, die Frage der Bezahlung ist geklärt.«
»Ist sie nicht. Sie sind ein Cop, richtig?«
»Ich wurde suspendiert«, erwiderte Zak schneller als beabsichtigt. »Außerdem läuft ein Disziplinarverfahren gegen mich. «
»Das laut unseren Informationen demnächst abgeschmettert wird«, entgegnete Berisha ruhig. »Die Beantwortung Ihrer Frage liegt hinter einer gut gesicherten Tür verborgen, Mister Mokai. Der geschuldete Gefallen eines Kriminalbeamten könnte diese ohne Probleme öffnen. Was zu klären bleibt, ist die Höhe Ihrer Motivation, sie öffnen zu wollen.«
Zak ließ sich nichts anmerken, aber der Gedanke, einem Kerl wie Berisha einen Gefallen zu schulden, jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Auf der anderen Seite ging es um Bianca und Yara. Der Druck auf beide würde demnächst massiv zunehmen, genauso wie auf Zak, der sich zwischen ihnen befand und nur verlieren konnte, wenn es hart auf hart kam.
»Also?« Berisha starrte ihn unverblümt an. »Wie lautet Ihre Antwort?«
Zak wollte sich vorlehnen und die Frage des Mannes beantworten, als er eine Klinge an seinem Hals spürte. Shenmi hatte das Katana blitzschnell und fast lautlos gezogen. Vermutlich hatte sie einen Angriff Zaks auf ihren Boss vermutet und entsprechend reagiert. Zak hob vorsichtshalber die Hände, während er Berishas Blick standhielt und sich zu keiner Gefühlsreaktion hinreißen ließ.
»Einverstanden.«
»Gute Entscheidung, Mister Mokai«, lobte der Kerl ihn. »Ich werde das Treffen für heute Nachmittag ansetzen und Ihnen die Koordinaten kurz vorher zukommen lassen. Shenmi wird Sie begleiten. Ich würde Sie also bitten, keine Dummheiten zu machen, ja?« Er nahm die Brille ab und musterte ihn mit seinen unnatürlich matten Augen, die absolut tot wirkten. »Andernfalls werde ich mich auch um Ms. Bukhari kümmern müssen …«
Yara lag auf dem durchgeschwitzten Laken und starrte wie gebannt aufs Display des medizinischen Geräts, das den prozentualen Anteil der synthetischen Droge in ihrem Blut anzeigte. 0,3 Prozent. Gottverdammt! Wie lange konnte es schon dauern, um diesen lächerlich winzigen Teil aus ihrem Körper zu bekommen? Es war bereits zwölf Uhr mittags und das schlechte Gewissen wegen der aufgezwungenen Auszeit ließ ihr keine Ruhe mehr. Sie fühlte sich mittlerweile wie erschlagen, aber wenigstens hatten das Frösteln und das Zittern aufgehört. Ihre Muskeln schienen ihr wieder zu gehorchen und ihr Drang, Sorokin den Schädel einschlagen zu müssen, war zurück. Sie befand sich eindeutig auf dem Weg der Besserung, sah aber aus, als ob sie erst kürzlich aus einem Crackhaus geworfen worden war.
Da Zak nicht zurückgekommen war, um sie abzulenken, blieb ihr nichts anderes übrig, als auf das verdammte Display zu starren und die Sekunden zu zählen. Eine nach der anderen. Minute für Minute, Stunde um Stunde. Ihr Termin für den Drogentest war für 14 Uhr angesetzt worden und so, wie es aussah, würde sie diesen ohne Probleme wahrnehmen können. Dadjic hatte sein Versprechen gehalten, obwohl er für Yara anscheinend nicht viel übrighatte. Sie erinnerte sich an seine verletzenden Worte, die abfälligen Blicke und den Tonfall, der ihr eindeutig klargemacht hatte, dass dieser Mann nicht allzu viel von ihr und ihrer Familie hielt – und irgendwie ärgerte sie dieser Umstand. Immerhin konnte sie nichts für den Erfolg und den Einfluss ihres Vaters. Vielleicht hatte der Kerl einfach generell ein Problem mit Muslimen und ließ seinen Unmut an ihr aus ?
»Ah …«, erklang Guterres Lachen in ihrem Kopf, »… die Rassismuskarte …«
Yara verzog den Mund und verwarf die Annahme, der Mann könnte sie wegen ihres Glaubens nicht leiden. Stattdessen dachte sie weiter über sich nach, bis sie sich eingestehen musste, dass sie natürlich ein privilegiertes Leben genossen hatte. Ein Leben, das mit dem eines Downers kein bisschen zu vergleichen war. Sie hatte noch nie gehungert oder sich allzu viele Gedanken um das Bestreiten ihres Lebensunterhalts sowie den etwaigen Verkauf eines ihrer Organe machen müssen. Sie hatte einfach gelebt und ihre Ziele verfolgt, ohne weiter darüber nachzudenken oder sich ständig mit anderen zu vergleichen. Vermutlich eine Art Schutzmechanismus, der es ihr ermöglicht hatte, ihren Wohlstand ohne schlechtes Gewissen wie selbstverständlich hinzunehmen. Kurz darauf wurde ihr klar, dass sie sich während ihrer Beziehung niemals Gedanken um Zaks Vergangenheit und dessen Lebensumstände gemacht hatte. Sie wusste nicht, wie er aufgewachsen war, wo seine Schwester lebte und ob sie Yara mochte oder nicht. Nicht, dass das jetzt noch einen Unterschied machen würde, aber die Tatsache, dass sie sich anscheinend nicht für Zaks Umfeld interessiert hatte, ließ sie klein und schwach erscheinen. Und sie wollte nicht klein und schwach sein, denn ihre Mutter hatte sie zu einer verdammten Löwin erzogen!
Sie fluchte und wollte den Blick vom Display losreißen, als ihr Handheld vibrierte. Sie streckte die Hand nach dem dünnen Gerät aus, zog es unbeholfen von der Ablage und legte es neben sich aufs Bett, wo sie den Anruf entgegennahm.
»Sonderermittlerin Yara Bukhari? «
»Ich bin’s«, erklang Claires sexy Stimme. »Wie geht es dir?«
»Ich denke, ich werde den Drogentest überstehen.«
»Gott sei dank«, stellte die Datenspezialistin erleichtert fest. »Ich dachte schon, du bist erledigt.«
»Gott hatte damit nichts zu tun. Ich hab es allein Zak zu verdanken, dass ich nicht suspendiert wurde …«
Claire schnaubte verächtlich. »Dass du noch am Leben bist, Yara! Der verdammte Konzern macht ernst! Bist du sicher, dass du weiter gegen Biophol vorgehen willst?«
»Ja, bin ich!«, erwiderte sie entschlossen. »Es geht um eine gute Sache! Das ist es mir wert.«
»Deine verfluchte Moral wird dich noch mal ins Grab bringen«, hielt Claire dagegen. »Außerdem gibt es nicht nur Schwarz oder Weiß. Und ich werde den Tag feiern, an dem du gezwungen sein wirst, dich mit einer Menge Grau zu befassen.«
»Wie auch immer«, beendete Yara die Diskussion. »Hast du Neuigkeiten?«
»Nicht wirklich«, dämpfte Claire ihre Hoffnung. »Ich konnte eine Spur der Überwachungsdrohnen, die deinen Besuch auf dem Konzerngelände festgehalten haben, aus einem Back-up-Server extrahieren. Allerdings war es mir bis jetzt nicht möglich, deren aktuellen Aufenthaltsort zu identifizieren. Aber ich bin dran.«
»Gut. Was bedeutet ›Ceres‹?« Yara erinnerte sich an den Begriff, den ihr Zak heute Vormittag mitgeteilt hatte.
»Ich konnte bisher keine weiteren Informationen dazu finden, aber meine Routinen suchen noch. Die Datenberge innerhalb des Konzernsystems sind unglaublich riesig. Ohne konkrete Anhaltspunkte zu haben, wird es schwierig, schnell Ergebnisse zu erzielen. Sie haben ein internationales Geflecht aus Firmen wie einen Schutzwall um die wichtigen Unternehmen errichtet, und es wird etwas dauern, um die Spreu vom Weizen zu trennen.«
»Verstehe«, erwiderte Yara niedergeschlagen. »Bitte halt mich auf dem Laufenden und lass mich wissen, wenn du etwas herausgefunden hast.«
»Natürlich. Gibt es sonst etwas, das ich für dich tun kann?«
»Finde so viel über Anna Sorokin heraus, wie du kannst.«
»Geht es um Rache?«
»Nein«, log Yara. »Ist nur eine Vorsichtsmaßnahme.«
»Hoffentlich«, erwiderte Claire. »Rache steht dir nicht. Oh, bevor ich es vergesse: Jemand von der Forstbehörde wollte dich erreichen. Ich hab ihn abgewimmelt. Willst du die Nummer haben?«
»Schick sie mir bitte auf den Handheld. Und, Claire?«
»Ja?«
»Finde die Adresse von Bianca Mokai für mich heraus. Ich würde ihr gerne einen Besuch abstatten.«
»Geht klar …«
Plötzlich begann das medizinische Gerät zu fiepen und Yara atmete erleichtert auf.
»Was war das?«
»Meine Ausgeherlaubnis«, antwortete sie lächelnd. »Die Zwangspause ist vorbei …«