Yara presste ihren Körper seit Stunden gegen Zaks und klammerte sich wie eine Reanimationseinheit an ihn, während er in einem Fiebertraum gefangen war und unzusammenhängende Wörter murmelte. Er zitterte am ganzen Leib, und seine Haut fühlte sich verdammt kalt an. Gleichzeitig war seine Körpertemperatur auf über vierzig Grad geklettert, was auf schweres Fieber hindeutete. Seine Lippen waren blau, und das sporadisch auftretende Klappern seiner Zähne kündete von den Wellen des Schüttelfrosts, die ihn nach wie vor quälten. Anfangs hatte Yara Mühe, sich nicht von ihm abschütteln zu lassen. Aber sie hatte nicht nachgegeben und sich wie ein Klammeräffchen an ihn geklammert, bis sein Widerstand langsam brach und sie nicht mehr damit rechnen musste, jederzeit abgeworfen zu werden. Ihre Muskeln brannten buchstäblich, als sie sich etwas entspannte und erleichtert aufatmete. Es war 5 Uhr morgens und der Horizont schimmerte in einem widerlichen Grün. Yara hasste dieses Phänomen, das nur um diese Zeit des Tages auftrat. Normalerweise schloss sie die Rollos oder wandte ihren Blick ab. Aber nicht heute.
Stattdessen strich sie Zak über den Nacken und presste sich ein letztes Mal eng an ihn. Der Kampf um seine Gesundheit hatte fast die ganze Nacht gedauert, aber das war es wert gewesen. Immerhin hatte er Yara vor nicht allzu langer Zeit das Leben gerettet, und wenn sie ehrlich war, hatte sie ihn seit ihrer Trennung mehr als vermisst – obwohl sie diese aktiv angestoßen hatte. Aber Fehler wurden gemacht, um ausgebügelt zu werden, und Yara würde sich nicht davor drücken, Zak ihre Fehlentscheidung von damals einzugestehen. Denn sie bereute diesen Fehltritt wie nichts anderes in ihrem Leben. Allerdings hatte sie vor, auf den richtigen Zeitpunkt zu warten.
Die Erinnerungen an ihre glückliche Zeit mit Zak beschworen auch Gefühle gegenüber ihrem Vater herauf, die erst vor Kurzem einen Tiefpunkt erreicht hatten, der vielleicht nie mehr überwunden werden konnte. Yara erinnerte sich an die Panik, die sie ergriffen hatte und die schlechten Gedanken, die sie heimgesucht hatten, nachdem ihr Vater ihr eröffnet hatte, sie verheiraten zu wollen. Yara war wie in Trance durch die Menschen gewankt und hatte sich ziellos hin und her schieben lassen, bis ihr Wille ihre Apathie durchbrochen und sie im letzten Moment gerettet hatte. Danach hatte sie beschlossen, sich ihrem Vater zu widersetzen, hatte sich in die Sanitäranlagen geflüchtet und Claire um Hilfe gebeten.
»Du hörst dich nicht gut an …«
»Das tut nichts zur Sache. Bring mich einfach hier raus, ja?«
»Natürlich, Yara«, erwiderte die Datenspezialistin. »Dein Wachhund steht noch immer vor der Tür der Sanitäranlage. Ich werde ihn weglocken müssen.«
»Wie willst du …«
»Keine Sorge. Ich hab ein Programm, das Stimmen
analysieren und reproduzieren kann, und es gibt genug öffentliche Auftritte Amins, um es zu füttern. Abbas wird den Unterschied nicht bemerken.«
»Mach bitte schnell.«
»Schon erledigt. Amin hält sich noch im Auditorium auf. Ich werde Abbas anweisen, sich bei ihm zu melden, okay?«
»Einverstanden …«
»Erledigt.«
»Und?«
»Er macht sich auf den Weg. Du solltest jetzt gehen.«
Yara verließ die Sanitäranlagen und ging zügig zurück zum Auditorium. Sie löste ihre Jacke aus der Garderobe und erreichte den Bereich zwischen Versammlungsraum und Landeplattform ohne Zwischenfälle. Dies lag neben Claires Beistand auch an dem verhassten Nikab, der ihr nach wie vor die Luft abschnürte. Yara fiel unter den vielen verhüllten arabischen Frauen nicht weiter auf und konnte sich relativ frei bewegen, bis sie ihr Ziel erreichte. Die Datenspezialistin trug derweilen einen genehmigten Transport ins System der Security-Einheiten ein, ließ die Drohne vorbereiten und sorgte für einen unspektakulären Abgang Yaras, die sich den verfluchten Nikab erst vom Kopf riss, nachdem der Pilot abgehoben hatte.
Die Lichter des Bukhari-Towers verschwanden mit zunehmendem Abstand im Dunst des Sturms, der den Transporter auf dem Weg zurück hin und her schleuderte. Und mit jedem Meter, den sie sich von dem dominanten Bauwerk entfernte, verabschiedete sie sich auch ein Stück weit von ihrem alten Leben und dem Einfluss ihres Vaters, dessen Verhalten ihr endgültig die Augen geöffnet hatte. Als sie abwesend die Schneeflocken beobachtete, die
unablässig gegen die Seitenscheiben der Drohne gepeitscht wurden, begann ihr Handheld zu vibrieren.
»Dein Verschwinden wurde bemerkt«, erklang Claires sexy Stimme. »Dein Vater hat mehrere Mitarbeiter entsendet, um dich zurückzubringen. Du solltest erst mal untertauchen …«
Auch das noch!
Wo zur Hölle sollte sie sich denn verstecken? Sie lebte in einem Apartment ihres Vaters, bezog ihre Einkünfte über ein Konto Amins und arbeitete für die Al Khana-Front, deren Mitglieder bestens mit ihrem alten Herrn und ihrem Arbeitgeber vernetzt waren. Yara konnte nicht einfach verschwinden!
»… falls du einen Platz brauchst, um dich neu orientieren zu können, kann ich dir eines meiner sicheren Apartments anbieten, okay?«
»Was?« Claires Stimme hatte Yara aus ihren Gedanken gescheucht und sie brauchte einen Moment, um sich wieder aufs Jetzt konzentrieren zu können.
»Ich hab mehrere über ganz Deutschland verteilt, weil ich von Natur aus ein vorsichtiges Mädchen bin.« Sie schien zu kichern. »Ich lass dich in der Nähe des Wohnblocks absetzen, okay? Dann überlegen wir uns, wie wir dich ungesehen ins Apartment bekommen.«
»Danke, Claire«, erwiderte Yara, während sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. »Wo ist Zak?«
»Er scheint sich in Sektor-33 aufzuhalten.«
»Was hat er vor? Ich kann mich nicht erinnern, dass etwas mit unserem Fall in Zusammenhang mit diesem Sektor steht.«
»Er wollte etwas überprüfen …«
»Was soll das bedeuten?«
»Er hat mir nicht mehr darüber erzählt, Yara. Tut mir leid.« Claire schien nach den richtigen Worten zu suchen. »
Er wird einen Grund haben, okay? Wir müssen uns erst mal um dich kümmern. Und …« Sie stockte mitten im Satz.
»Was ist?«
»Es scheint Probleme zu geben.«
»Was heißt das?« Yara horchte gewarnt auf.
»Zak steckt in Schwierigkeiten. Er braucht unsere Hilfe!«
»Könntest du bitte etwas konkreter werden?«
»Nicht jetzt … gib mir einen Moment.« Claires Finger schienen rasend schnell über die Tastaturen der Displays zu gleiten. »Dreck! Jemand blockiert meine Routinen!«
»Was bedeutet das?«
»Wow, ich bin beeindruckt. Der Widerstand dieses Systems ist wirklich außergewöhnlich.«
»Welches System? Claire!«
»Keine Zeit, sorry. Ich muss … so ein Müll!«
»Claire!«
Die Datenspezialistin schien in echter Bedrängnis zu sein. Yara konnte sich nicht daran erinnern, sie jemals so erlebt zu haben. Claire hatte immer erhaben und über allem stehend gewirkt, aber anscheinend gab es auch für sie ein entsprechendes Äquivalent, das sie im Moment in echte Schwierigkeiten brachte.
»Gleich … nur noch ein paar Sekunden. Ich …« Claire schien wie eine Wahnsinnige in die Tasten zu hauen, bis die Geräusche verstummten und sie sich erleichtert in den Sessel sinken ließ. »Das war knapp …«
»Würdest du mich endlich aufklären?«
»Zak hat eine geheime Anlage infiltriert«, erwiderte Claire beiläufig. »Er scheint aufgeflogen zu sein.«
»Wo ist er?« Yaras Hals schnürte sich zu. »Ist er verletzt?
«
»Das kann ich nicht sagen. Er reagiert weder auf meine Kontaktversuche noch auf meine Routinen. Es scheint, als ob das System der Anlage ihn vollständig vor mir isoliert hat.«
»Das System?«
»Ich weiß nicht, wie ich es anders formulieren könnte«, erklärte Claire. »Ja, verdammt, das System …«
Yara ließ sich vom Piloten auf einem der öffentlichen Landeplätze absetzen, verließ die Plattform und fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss des zweihundert Stockwerke umfassenden Komplexes. Anschließend nahm sie sich ein Taxi und ließ sich in einen der Randbereiche des Sektors bringen. Claires sicheres Apartment befand sich in einem kleinen unscheinbaren Wohnblock, der in einem ruhigen Viertel errichtet worden war. Die Gegend wirkte gepflegt und sauber, die Straßenbeleuchtung funktionierte einwandfrei und die Sicherheit schien in die Hände renommierter Unternehmen gelegt worden zu sein. Yara hatte auf dem Weg hierher Einsatzfahrzeuge von mindestens drei verschiedenen Anbietern entdeckt, die auf Straßen, Plätzen und Parkanlagen patrouillierten und ein Gefühl von Bedrohung erst gar nicht aufkommen ließen. Zumindest bei den Bürgern, die hier lebten. Yara dagegen schien sich kaum noch beruhigen zu können. Laut Claire war Zak in Schwierigkeiten. Sie hatte ihn in Sektor-33 verloren. Seitdem war er spurlos verschwunden. Und das machte Yara mehr Angst, als sie sich anfangs hatte eingestehen wollen.
Claire lotste sie zum Wohnblock, öffnete die Zentralverriegelung für sie und ermöglichte es ihr, mit dem Aufzug in den vierundvierzigsten Stock zu fahren. Anschließend entriegelte sie die Tür zum Apartment und deaktivierte die Alarmanlage. Sie kopierte Yaras biometrische
Daten mit einem Scanner, transferierte sie ins System und legitimierte sie für die Wohnung, den Block und dessen Tiefgarage. Danach legte Yara das Kleid ab und tauschte es gegen neuwertige Jeans, einen Hoodie und eine schwarze Jacke aus Kunstleder. Der Kleiderschrank war außerordentlich gut befüllt. Allerdings hing auch Männerkleidung darin, was Yara stutzig werden ließ.
»Du hast einen guten Geschmack.«
»Was meinst du?«
»Die Klamotten. Lebst du alleine hier oder …«
»Mach dich nicht lächerlich«, winkte Claire ab. »Das ist nicht mein
Apartment, okay? Die Eigentümer halten sich laut dem wirklich hervorragend gewarteten System des Wohnblocks für eine Woche außer Landes auf. Vermutlich wollen sie den Jahreswechsel in Sicherheit verbringen.«
»Oh …«
»Mach dir keine Gedanken. Niemand wird herausfinden, dass ich dich hier einquartiert habe. Abgesehen davon bist du sicher – und darum ging es doch, oder?«
Yara verzichtete auf eine Antwort und setzte sich ächzend aufs Bett. Sie fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, anderen etwas weggenommen zu haben, weil dieser Tatbestand gegen ihren inneren Drang stand, zu den Guten gehören zu wollen. Claire schien dagegen keine Probleme mit dem Einbruch zu haben. Vermutlich weil das ihrem Lebensstil sehr viel näher kam, als Yara bereit war, zu akzeptieren.
»Was jetzt?«
»Wir warten, bis ich Zaks Aufenthaltsort bestimmen kann. Dann wirst du ihn holen.«
»Was ist mit dir? Willst du mir nicht helfen?«
»Ich bin eine Datenspezialistin, Yara«, wich sie lapidar aus. »Ich wär dir im Feld nur im Weg. Außerdem bin ich
mir sicher, dass du diese Aufgabe hervorragend alleine regeln wirst. Und bis es so weit ist, solltest du dich etwas ausruhen, ja? Du bist seit Stunden auf den Beinen.«
Yara warf einen Blick zum riesigen Display im Wohnzimmer und stellte erschrocken fest, dass es bereits 22 Uhr war. Wenn Zak irgendwo da draußen im Schnee lag, würde er jämmerlich erfrieren. Allein die Vorstellung machte es ihr unmöglich, einschlafen zu können, weshalb sie mit offenen Augen auf der komfortablen Matratze lag und die Decke anstarrte – bis Claire sich nach einer Stunde bemerkbar machte.
»Sein Signal ist wieder aufgetaucht!«
»Wie hast du ihn gefunden?«
»Gar nicht«, erwiderte Claire nachdenklich. »Es ist einfach wieder aufgetaucht. Ich weiß nicht, warum.« Sie atmete niedergeschlagen aus. »Du solltest dich beeilen. Laut den übermittelten Koordinaten hält er sich in einem heruntergekommenen Gewerbegebiet auf.«
Yara ließ sich nicht zweimal bitten, transferierte den Code für einen Range Rover, der auf das Apartment registriert war, in den Speicher ihrer ID und nahm vorsichtshalber zwei Decken mit, bevor sie mit dem Aufzug in die Tiefgarage fuhr. Danach aktivierte sie den schwarzen Wagen, der vollgeladen auf einem Ladefeld stand. Yara stieg ein, warf die Decken auf die Rückbank und startete den Motor. Anschließend verließ sie die Garage und raste zu den Koordinaten. Ihre Aufregung machte es ihr schwer, sich auf Geschwindigkeitsbeschränkungen zu konzentrieren, was zu Übertretungen führte, die allesamt dem Strafkonto der Unbekannten, denen der Wagen gehörte, gutgeschrieben wurden. Aber das war ihr im Moment egal. Zak lag vielleicht im Sterben, und sie würde einen Teufel
tun, und sich an bescheuerte Geschwindigkeitsbegrenzungen halten!
Die Böen zerrten an dem relativ hohen Fahrzeug und drückten Yara zweimal gegen Schneeverwehungen am Rand der Schnellstraße, die sie direkt zum Zielsektor brachte. Kurz vor den Vororten bog sie nach links ab, raste über eine eisglatte Brücke und fuhr in das Gewerbegebiet ein, von dem Claire gesprochen hatte. Es bestand aus alten Hallen, aufgegebenen Bürogebäuden sowie Werkstätten und einer nicht mehr funktionierenden Wasseraufbereitungsanlage. Yara fuhr mit dem Wagen direkt in die breite Abwasserrinne und hielt unbeirrt auf die Koordinaten zu, bis sie ein graues Bündel entdeckte, das mitten im Kanal lag. Sie bremste ab, stürzte aus dem Range Rover und lief zu der Silhouette, die bereits von einer dünnen Schicht Schnee bedeckt war. Yara fluchte, ließ sich neben dem Körper auf die Knie fallen und drehte ihn um.
»Zak!« Sie packte ihn am Kragen und begann ihn zu schütteln. »Zak! Wach auf, verdammt!«
»Er ist vermutlich unterkühlt«, erklang Claires Stimme aus dem Knopf in Yaras Ohr. »Du musst ihn in den Wagen schaffen. Wickle ihn in die Decken, dreh die Heizung auf und bringe ihn zum Apartment!«
Yara presste ihm die Hand gegen den Hals und zog sie erschrocken zurück. Er war eiskalt! Kurz darauf startete sie einen neuen Versuch und atmete erleichtert auf, als sie einen schwachen Puls spürte.
»Er lebt …«
»Du solltest dich beeilen, Yara.« Claire schien besorgt zu sein. »Opfer schwerer Unterkühlung …«
»Spar dir deine Belehrungen!«, fauchte Yara, packte Zak am Kragen und schleifte ihn knurrend zum Wagen. Ihn auf
die Rückbank zu bekommen, stellte sich schwieriger heraus, als angenommen. Yara hievte ihn halb auf das Polster des Sitzes, fixierte ihn mit dem Abschleppseil und ging zur gegenüberliegenden Tür, um ihn mit einem zweiten Seil ins Innere zu ziehen. Anschließend schloss sie die Türen, stieg ein und hetzte zurück zum Apartment. Auf dem Weg in die Tiefgarage aktivierte sie den Handheld.
»Wie zur Hölle soll ich ihn unbemerkt in die Wohnung schaffen?«
»Mach dir deswegen keine Sorgen«, erwiderte Claire distanziert. »Stell den Wagen ab und warte …«
Yara tat wie ihr geheißen und stellte den Motor ab. Kurz darauf schälten sich zwei Silhouetten aus den Schatten. Die Männer nickten ihr zu, hievten Zak aus dem Wagen und nahmen ihn in die Mitte. Danach brachten sie ihn zum Aufzug und fuhren mit Yara nach oben. Sie halfen ihr, Zak von den völlig durchnässten Kleidungsstücken und dem Kampfpanzer zu befreien, legten ihn aufs Bett und verschwanden so schnell, wie sie erschienen waren. Yara hatte keine Zeit, um sich über den seltsamen Auftritt Gedanken zu machen, wunderte sich allerdings, dass Claire anscheinend auch Zugriff auf Ressourcen im realen Leben zu haben schien. Sie packte Zak zusammen mit zwei Wärmekissen unter eine Decke und behielt seine Temperatur im Auge, die nur langsam stieg. Als er zu zittern begann, legte sie sich kurzerhand zu ihm und presste sich gegen seinen eiskalten Körper, um die halbe Nacht mit ihm zu ringen, ihn zu sich zu ziehen und ihm keinen Zentimeter nachzugeben.
Das Morgengrauen wurde durch schwere Sturmböen angekündigt, die lautstark über die Fenster des Apartments fauchten. Das Schneetreiben war dicht, die Temperaturen konstant -8°C. Als Yaras Augen erschöpft zufallen
wollten, erklang eine gespielt niedergeschlagen wirkende Stimme aus den Lautsprechern des Displays im Schlafzimmer, die zu einer Nachrichtensprecherin des Medienzentrums gehörte – der größten Medienanstalt Richthofens. Die Besitzer des Apartments schienen vergessen zu haben, die morgendliche Weckroutine zu deaktivieren.
»… hat auch diese Nacht unzählige Todesopfer gefordert, die im Laufe des Tages von Streifen und Sanitätern geborgen und abtransportiert werden. Experten gehen von hunderten Toten aus, die die Nacht nicht überstanden haben. Professor Josef Haverland, Vorsitzender der Freien Patrioten Richthofens und Begründer des Harvest-Programms, hat ausgedehnte Hilfsmaßnahmen und finanzielle Unterstützung für die Hinterbliebenen der bedauernswerten Opfer angekündigt. Bitte melden Sie sich in ihrem lokalen Parteibüro, um diese in Anspruch zu nehmen. Der Blizzard wird sein volles Potential in wenigen Stunden erreichen. Bleiben Sie in Ihren Wohnungen und vermeiden Sie Plätze mit Menschenansammlungen …«
Hörte sich eher nach potentiellen Aufständen an, vor denen die Regierung ihre loyalen Bürger indirekt warnte. Yara schnaubte verächtlich und wechselte mit den gestohlenen Berechtigungscodes den Sender.
»… schlägt der unerwartete Tod Javier Carlos’ noch immer hohe Wellen. Der bekannte Influencer aus den Downers hatte fast eine Million Follower hinter sich, die gestern Abend seinen Account zum Erliegen brachten. Die Polizei geht nach wie vor nicht von einem Gewaltverbrechen aus, und der Bürgermeister …«
Sie wechselte den Sender erneut.
»… bleiben Sie in Ihren Unterkünften und warten Sie, bi
s das Zentrum des Blizzards Richthofen passiert hat. Wir werden Sie informieren, sobald …«
Yara beendete das Programm und streckte sich. Sie fühlte sich wie erschlagen. Als ihr Blick auf Zak fiel, seufzte sie und rieb sich die Augen. Wenigstens schien sich ihr Einsatz gelohnt zu haben. Die Fiebersenker wirkten langsam und die Folgen der Unterkühlung waren anscheinend überwunden. Er lag ruhig unter den Laken und machte endlich einen entspannten Eindruck, den sie sich stundenlang so sehr gewünscht hatte. Denn das Zittern, Krampfen und Murmeln hatten ihr Angst gemacht.
Als sie aufstand, um sich einen Kaffee aus der modern eingerichteten Küche zu holen, erklang Claires Stimme, die trotz einer gewissen Aufgeregtheit eindeutig bewies, dass die Datenspezialistin ebenfalls unter akutem Schlafmangel zu leiden schien. Sie hörte sich todmüde an, aber ihnen blieben nur noch wenige Stunden, bis der Untersuchungsausschuss ein letztes Mal zusammenkommen würde, um über das Schicksal des Harvest-Programms zu entscheiden. Yara hatte schon zu viel Zeit mit sich selbst vertrödelt, um diese Stunden ungenutzt verstreichen zu lassen, und Claire schien ebenfalls nicht klein beigeben zu wollen.
»Du wirst nicht glauben, was ich mithilfe des Trojaners herausgefunden habe«, begann sie unverblümt, während Yara sich den Kaffee von einem teuren Vollautomaten zubereiten ließ.
»Langsam …«
»Was ist? Ich dachte, wir haben keine Zeit?«
»Dafür muss Zeit sein«, erwiderte Yara und führte die Tasse zu ihren Lippen, um vorsichtig einen ersten Schluck zu wagen. Die dunkle Flüssigkeit war verdammt heiß, schmeckte allerdings hervorragend. »Ich wollte mich für
mein Verhalten entschuldigen. Ich hätte dich nicht anschreien dürfen.«
»Entschuldigung angenommen. Darf ich jetzt …«
»Falls du dich fragst, wie es ihm geht …«
»Ich weiß, wie es ihm geht, verdammt noch mal!«, platzte Claire dazwischen. »Ich hatte ihn die ganze Nacht auf dem Schirm, um seine Vitalwerte zu überwachen.«
»Oh …«
»Nichts zu danken«, fuhr sie amüsiert fort. »Dürfte ich dir nun von meinen nicht ganz unwichtigen Erkenntnissen berichten? Bitte?«
»Ich bin ganz Ohr. Schieß los …«
»Die Anlage, die Zak infiltriert hat, stellt das Zentrum eines Netzwerks aus Einrichtungen dar, die über ganz Richthofen verteilt wurden. In jedem Sektor befindet sich ein Komplex, in dem hunderte von Bioneers gelagert werden. Die Strukturen sind über unterirdische Hochgeschwindigkeitsleitungen miteinander verbunden und verfügen über autarke Blockkraftwerke, die vollständig von der Energieversorgung Richthofens entkoppelt sind. Das Ganze wirkt wie ein Gemeinschaftsprojekt der Regierung und des Konzerns. Das Projekt muss von ganz oben her abgesegnet worden sein. Dort wurden Milliarden investiert – ohne dass die Medien etwas davon erfahren haben!«
»Und?« Yara konnte Claires Enthusiasmus weder nachvollziehen noch eine Verbindung zu ihrem Ziel erkennen, das Harvest-Programm zu stoppen.
»Wie und?«
»Was hat das mit unserem Fall zu tun? Gibt es nachweisbare Verbindungen zwischen dem Mord, dem Konzern und der Regierung?«
»Nein …«, erwiderte Claire geknickt. »Aber meine Routinen suchen noch. Die Firewall der Einrichtung hat si
ch als äußerst hartnäckig herausgestellt. Eine ähnliche Adaptions- und Reaktionsfähigkeit hab ich bisher noch nie erlebt. Und ich hab wirklich gut gesicherte Systeme infiltriert, Yara. Systeme, die als unüberwindbar galten.«
»Aber das hilft uns im Moment nicht weiter.«
»Ich weiß. Ich fand nur, dass du davon wissen solltest. Immerhin geht es um fast hunderttausend Bioneers, und diese haben meiner Meinung nach sehr wohl etwas mit der Regierung und dem Konzern zu tun. Sie müssen etwas damit zu tun haben, verdammt!«
Einhunderttausend?
Yara konnte kaum glauben, dass es Biophol in nur sechs Monaten gelungen sein soll, so viele Subjekte für das Harvest-Programm extrahieren zu können. Es schien, als würde der Konzern zu hundert Prozent davon ausgehen, dass der Untersuchungsausschuss das Projekt genehmigen würde. Ansonsten würden die Verantwortlichen nicht bereitwillig Milliarden in das Programm pumpen.
»Ich sehe deinen Punkt, aber wir brauchen Beweise, okay?« Yara wollte Claires Anstrengungen nicht kleinreden, aber in Anbetracht der wenigen Stunden, die ihr noch blieben, brauchte sie langsam Ergebnisse. »Wie laufen deine Bemühungen, die verschwundene Drohne aufzuspüren?«
»Negativ«, antwortete sie kleinlaut. »Das verdammte Ding scheint wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Normalerweise lassen sich immer einzelne Bauteile aufspüren und zurückverfolgen, sofern diese in Umlauf gebracht werden, aber bisher konnte ich nicht die geringste Spur finden. Ich hab alle öffentlichen Überwachungsscanner angezapft, doch es gibt keinen einzigen Eintrag, der zu dem verdammten Ding führen würde. Tut mir leid.
«
Yara verzichtete auf eine Bemerkung und kaute nervös auf ihrer Unterlippe. Wenn sie nicht irgendeinen Beweis fand, der den Verdacht erhärtete, der Mord an den Jugendlichen könnte mit einem Bioneer des Harvest-Programms in Verbindung stehen, würde der Vorsitzende des Ausschusses diese Möglichkeit ausschließen. Dann blieb nur noch eine Chance, das Programm zu stoppen. Aber so weit Yara informiert war, hatte die zuständige Anwältin Probleme, den von den Cops in Gewahrsam genommenen Bioneer zu konfiszieren. Der Konzern versuchte alles, um eine DNA-Analyse zu verhindern, und solange niemand beweisen konnte, dass es sich bei dem Rückkehrer um den ehemaligen Eigentümer der Wohnung handelte, würde auch dieser Fall zu nichts führen. So ein verfluchter …
»Meine Routinen versuchen nach wie vor, eine Verbindung von Alcatex zu Biophol herzustellen …« Claires Stimme drängte sich zwischen Yara und die unschönen Gedanken und zwang sie zurück ins Jetzt. »… allerdings konnte ich bisher nur ein Unternehmen identifizieren, das dafür infrage käme. Eine wenig kapitalstarke Briefkastenfirma, die vor sechs Monaten in Panama gegründet wurde. Wenn du willst, kann ich meine Ressourcen darauf ansetzen.«
»Wie lautet der Name der Firma?«
»Einen Moment, bitte.« Claires Finger schienen über die virtuelle Tastatur eines Displays zu huschen, bis sie sich wieder an Yara wandte. »Tekknotron …«
Zak schreckte aus einem Albtraum hoch. Eine weiblich klingende Stimme schien sich buchstäblich in seinem Schädel festgefressen zu haben und rief ständig seinen
Namen. Wie ein langsam verhallendes Echo, das einfach nicht verschwinden wollte. Zak interpretierte diesen immer wiederkehrenden Ruf als eine Reflexion seines Unterbewusstseins, hervorgerufen durch die Sorge um Bianca und Yara. Er brauchte ganze fünf Minuten, bis er sich aufrichten und das Gesicht in den Händen vergraben konnte. Was zur Hölle war geschehen? In seinen zerschredderten Erinnerungen der letzten Stunden tauchte vornehmlich Yara auf, die nicht von seiner Seite gewichen war. Sie musste ihn hierher gebracht und ihm geholfen haben. Vermutlich mit Claires Hilfe, da Zak dieses Apartment nicht kannte. Aber was hatte sich davor abgespielt? Er zermarterte sich das Hirn und versuchte, sich zu zwingen, den verdammten Vorhang zu lüften, als sein Handheld vibrierte. Yara hatte ihn auf die Ablage neben dem Bett gelegt. Dessen Laken war durchgeschwitzt, genauso wie das Kissen und die Bettdecke. Zak schien wirklich angeschlagen gewesen zu sein. Aber warum? Er ignorierte das drängende Summen und schlug mit der flachen Hand gegen seine Schläfe.
»Erinner dich, verdammt!«, befahl er knurrend. »Mach schon!«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis er sich wieder in seinem Kopf zurechtfand und ausreichend Abstand zu den Ereignissen fand, um aus einer Art Makroperspektive die vergangenen Stunden rekonstruieren zu können. Der Deal mit Berisha, seine Flucht vor Brechers Schergen, als er sich in seinem Apartment entschloss, die Koordinaten aufzusuchen, die Brannagh ihm überlassen hatte und wie er Tilly um Hilfe bat. Danach hatten sie die Anlage unter dem Bunker infiltriert, er hatte den Trojaner ins System geschleust und war während der Auseinandersetzung … ja, was? Sein Schädel kribbelte an den unterschiedlichsten St
ellen. Die Muster schienen sich mit jeder Welle zu verändern und erinnerten ihn an ein Echo aus der vergangenen Nacht, das sich einfach nicht konkretisieren ließ. Irgendwann gab er auf und versuchte so weit zurückzufinden, wie er konnte. Nach dem Kampf war er über einen Durchbruch ins alte Abwassersystem des Stadtteils entkommen. Sie hatten Zak verfolgt, ihn aber am Ende in dem Gewirr aus Tunneln, Gängen und Kanälen verloren. Zak hatte jämmerlich gefroren, während er sich durch die Adern des vermodernden Kanalnetzes unter der Stadt gekämpft hatte. Seine Kleidung war durchnässt, sein Körper unterkühlt. Zak erinnerte sich, wie er das Kanalsystem schlussendlich verlassen und in den Schnee gestolpert war, um einige Meter später zusammenzubrechen und wie ein Toter liegenzubleiben. Die Kälte hätte ihm den Rest gegeben, wenn Yara ihn nicht gefunden und gerettet hätte.
Das Summen des Handhelds wollte einfach nicht aufhören, weshalb er zitternd die Hand danach ausstreckte und dessen Display aktivierte. Es handelte sich um ein verschlüsseltes SOS-Signal – das von Tilly abgesetzt worden war! Zak stockte der Atem. Er war davon ausgegangen, dass sich die Konzernbrigadistin hatte retten können. Den Koordinaten zufolge hielt sie sich in der Nähe von Sektor-33 auf. Sie schien nicht weit gekommen zu sein, woraus Zak schloss, dass sie vermutlich verletzt war. Vielleicht hatten die Bastarde sie angeschossen! Zak stand fluchend auf und musste sich an der Wand abstützen, um nicht umzukippen. Er fühlte sich benommen und müde, aber er ignorierte seinen angeschlagenen Zustand und schleppte sich zum ausladenden Wandschrank, um eine Jeans, ein Shirt und einen Hoodie anzulegen. Er wusste nicht, wem die Sachen gehörten, aber das war ihm
im Moment vollkommen egal. Anschließend schluckte er eine Handvoll von den fiebersenkenden Pillen, die Yara zusammen mit einem Glas Wasser demonstrativ auf der Ablage platziert hatte und zog eine gefütterte Lederjacke an, die jemand an der Garderobe abgelegt hatte. Zak dachte nicht daran, Claire oder Yara über seinen nächsten Schritt zu informieren, denn er fühlte sich schon schuldig genug, Tilly in die Sache mit hineingezogen zu haben. Eine weitere Schippe Schuld auf seinen Schultern konnte er beim besten Willen nicht ertragen, weshalb er beschloss, alleine loszuziehen.
Zak kopierte die Berechtigungscodes des Apartments in seine ID, öffnete die Tür und hetzte zum Aufzug, der ihn wenige Sekunden später in die Tiefgarage entließ. Er wusste dank des aktuell gehaltenen Systems bereits, dass der auf das Apartment registrierte Range Rover das Gebäude verlassen hatte, weshalb er durch die geparkten Fahrzeuge ging und sich aufmerksam umsah. Anschließend griff er auf einen seiner Datenspeicher in der Cloud zu und lud ein Programm, das er während seiner Dienstzeit von einem Autoknacker akquiriert hatte in den Speicher des Handhelds. Cops hatten üblicherweise ganze Sammlungen von Routinen dieser Art, die sie sich im Laufe der Jahre angeeignet hatten, um sie gegen Verbrecher einzusetzen, weil sich damit oft bürokratische Wege abkürzen und wertvolle Zeit gewinnen ließ – vor allem in Notsituationen. Manchmal nutzten sie diese illegalen Helferlein allerdings auch zu ihrem eigenen Vorteil.
Zak ging zu einem wuchtigen Hummer, hielt den Scanner des Handhelds über dessen Schloss und aktivierte die Routine, die das Sicherheitssystem überwand und die Berechtigungscodes des Wagens in die Zahlenreihen änderte, die das Programm generiert hatte. Kurz darauf
öffnete Zak die Tür und stieg in den Hummer, der einem kleinen Panzer glich. Zumindest im Gegensatz zu Zaks altem BMW. Einige Sekunden später verließ er die Tiefgarage und folgte Tillys Notsignal, das nach wie vor gesendet wurde.
Es war 11 Uhr morgens. Der Blizzard tobte wie nie zuvor, rüttelte an dem schweren Fahrzeug und wirbelte Schnee auf, den er in dichten Wolken vor sich hertrieb. Das drängende Pfeifen der Böen brachte Zaks Nacken zum Kribbeln, während er den Wagen relativ sicher durch die verschneiten Straßen manövrierte. Einige Fahrer schienen den Eissturm unterschätzt zu haben. Deren Fahrzeuge steckten in Schneeverwehungen am Rand des Asphalts fest, wo die Schneeräumer die weißen Massen zu hohen Barrieren aufgeschichtet hatten. In den Außenbezirken waren nicht viele Menschen zu sehen. Anscheinend befolgte ein Großteil der Bürger den Anweisungen der regierungstreuen Sender und blieben in ihren vier Wänden. Die Nachrichtensprecher und Moderatoren drängten buchstäblich darauf, dass sich die Bevölkerung am besten bis über den Jahrhundertwechsel nicht auf den sonst gut besuchten öffentlichen Plätzen sehen ließen. Nur zu ihrer eigenen Sicherheit, verstand sich. Aber Zak glaubte nicht an den Erfolg dieser Kampagne. Denn der Wechsel von einem Jahrhundert ins nächste folgte einer Dynamik, die, befeuert durch die Folgen des Blizzards und der seit Langem aufgestauten Animositäten gegenüber den Regierenden, ganz Richthofen erfassen konnte. Schon in der Nähe des Zentrums wurden Zaks Befürchtungen bestätigt. Dort hatte sich bereits eine Rotte zusammengefunden, die sich von einem Prediger aufhetzen ließ, während im Hintergrund erste Panzerwagen Stellung bezogen. Zak ignorierte die Szene, fuhr in einen vierspurigen
Kreisverkehr und nahm die dritte Ausfahrt, die ihn in ein mit unzähligen Geschäften ausgestattetes Areal brachte. Die Menschen erledigten ihre letzten Einkäufe, hetzten gestresst über die schwer zu begehenden Straßen und stürmten einen Shop nach dem anderen. Ein gutes Viertel, um unterzutauchen. Vor allem, wenn man von Brechers Schergen verfolgt wurde. Tilly fühlte sich zwischen all den Menschen vermutlich sicherer als in einem abgelegeneren Versteck. Aus dem Umstand, es anscheinend bis hierher geschafft zu haben, schloss Zak, dass sie nicht schwer verletzt sein konnte und atmete erleichtert auf, während er dem rot blinkenden Punkt auf dem Display des Hummers folgte. Er parkte den Wagen in einer Lücke am Straßenrand, stieg aus und betrat eine gut besuchte Passage, die sich wie ein gläserner Wurm durch das Gebäude fraß. Zak drängte sich an den Menschen vorbei, stieg in einen Aufzug und fuhr in eine der unteren Ebenen, die von Pubs, Restaurants und Spielhallen dominiert wurde. Tillys Signal führte ihn zu einer analogen Bowlinghalle. Die Kugeln waren echt, die Bahnen ebenfalls. Genauso wie die Pins, die unter dem Gejohle der Spieler einiges auszuhalten hatten. Den Transparenten zufolge fand ein Wettbewerb statt, der sich über drei Tage hinzog. Deshalb war die Stimmung hier unten so viel anders als oben, wo sich eine nicht zu verachtende Anspannung breitgemacht hatte, die sich bald entladen würde. Die Menschen in der Halle waren so mit sich selbst beschäftigt, dass sie vom Brodeln an der Oberfläche nicht viel mitbekamen – und Zak beneidete sie darum.
Es Roch nach Schweiß, Alkohol und einem Gemisch aus Parfums, die an einen giftigen Cocktail erinnerten. Zak ließ seinen Blick über die Menschen schweifen, konnte Tilly aber nirgends entdecken. Er verfeinerte den
Scanbereich und stellte fest, dass sie sich hinter den Bahnen im Technikbereich aufhalten musste, womit er nicht gerechnet hatte. Vielleicht war sie doch schwerer verletzt als von ihm angenommen. Er verlor keine Zeit, bahnte sich einen Weg durch die vorwiegend angetrunkenen Gäste und hielt auf einen schmalen Steg an der Seitenwand zu, die vom Servicepersonal benutzt wurde, um gelegentlich verhakte Pins zu entwirren. Er ging bis zu einer Tür, die in den Technikbereich führte und betrat diesen, nachdem er sich ein letztes Mal umgesehen und sich vergewissert hatte, dass ihm niemand folgte. Hinter den Bahnen waren die Geräusche der Gäste nur noch gedämpft zu hören. Dafür drängte sich eine völlig andere Soundkulisse in den Vordergrund, getragen durch die Mechanik der Bowlingmaschinen: laufende Keilriemen, das Klirren von Ketten, das Aufeinanderschlagen von metallenen Bestandteilen.
Zak konnte keinen Techniker entdecken. Dafür befand sich auf der gegenüberliegenden Seite eine weitere Tür, die tiefer in den Komplex zu führen schien. Er überbrückte die Distanz unter dem gedämpften Gelächter der Gäste und wollte sie öffnen, als ein Schatten aus einer Nische trat. Der Mann war vermummt, trug einen Kampfpanzer und war mit einer Maschinenpistole bewaffnet. Keine Abzeichen, keine Hinweise. Er bedeutete Zak mit einem Nicken die Tür zu öffnen und folgte ihm in einen düsteren Korridor. Zak ließ sich nichts anmerken, aber seine Hoffnung, Tilly unversehrt zu finden, schwand mit jedem Meter, den er zurücklegte. Am Ende des Ganges wartete ein weiterer Söldner, der stumm vortrat und ihn zu einem massiven schallgeschützten Schott führte. Dahinter befand sich eine komplett andere Welt. Die neue Wand aus Geräuschen beinhaltete das Kreischen kleiner
Knochensägen, das Schneiden von Haut und das Extrahieren von Organen und anderen weichen Materialien, die sich auf dem Schwarzmarkt zu Geld machen ließen. Zak passierte Waben, die mit von der Decke hängenden Planen abgetrennt waren. An manchen der halbtransparenten Raumtrenner waren Blutspritzer zu sehen. Dahinter agierten verschwommene Schemen, die ebenso undefinierbare Körper bearbeiteten. Die improvisierten OP-Waben erstrahlten im gleißend hellen Licht der Strahler, deren Echos den düsteren Gang erhellten. Zaks Magen zog sich zusammen, als er bis zum Ende der Halle geführt wurde, wo Brecher ihn bereits erwartete. Er stand vor einer weiteren Wabe und sah Zak ernst an, während er demonstrativ Tillys Handheld begutachtete. Hinter ihm in den Schatten stand Trev Berisha, der Zak einen warnenden Blick zuwarf. Von Shenmi war nichts zu sehen.
»Mister Mokai«, begann Brecher amüsiert. »Das Gerät gehört Ihrer Komplizin, aber ich fürchte, sie wird keine Verwendung mehr dafür haben.«
»Wo ist sie?«
»Ganz in der Nähe«, erwiderte Brecher grinsend und hob mahnend die Hand, als Zak einen Schritt auf ihn zumachen wollte. »Wir hatten von Anfang an einen schlechten Start, finden Sie nicht? Sie haben trotz meines Druckmittels Ihr Ding durchgezogen und mich wie einen Idioten dastehen lassen, aber die Umstände haben sich geändert und die schützende Hand, die über Yara Bukhari und damit auch über Sie gehalten wurde, existiert nicht mehr.«
Zak hob skeptisch eine Augenbraue, während er sich beiläufig umsah. Da er weder eine Waffe noch entsprechendes Back-up zur Verfügung hatte, konnte er nichts weiter machen, als stumm dazustehen und Levi Brecher
den Monolog zu Ende führen zu lassen. Auch wenn er ihm am liebsten den Schädel zertrümmert hätte. Als Brecher Zaks Blick bemerkte, der zu Berisha gesprungen war, verzog er den Mund zu einem Grinsen.
»Meine Organisation und die damit zusammenhängenden Operationen waren zu heikel, um sie aus einem der gängigen Schattenhaushalte zu finanzieren. Deshalb musste ich auf eher fragwürdige Partner zurückgreifen, um an die benötigten Mittel zu kommen. Streunende Hunde aus der Gosse, deren Reviere und Ressourcen meine Ziele unterstützten« Er nickte Berisha verächtlich grinsend zu, während dieser ihn mit seinem stechenden Blick buchstäblich durchbohrte. »Das Harvest-Programm ist bereits zu weit fortgeschritten, als dass es beendet werden könnte. Es wurde zu viel Geld investiert, zu viele Regeln gebrochen und zu viele Risiken eingegangen, als dass man jetzt noch einen Rückzieher machen könnte. Sie haben das Steuerzentrum mit eigenen Augen gesehen.« Er begann zu lachen. »Scheiße, sie waren dem Ding so nah wie noch niemand vor Ihnen und haben es überlebt …«
Zak ignorierte die Andeutung, die wohl etwas mit dem Vorfall von letzter Nacht zu tun hatte, und lenkte das Thema wieder auf Brechers Aktivitäten.
»Was haben Sie getan?« Zak deutete auf die Waben, hinter denen nach wie vor gearbeitet wurde.
»Ich finanziere meine Operation mit illegal beschafften Organen, wobei Trev hier«, er klopfte dem Hehler spöttisch gegen den Oberarm, »eine wirklich große Hilfe ist, weil er über das nötige Netz und die Kontakte verfügt, diese auch zu angemessenen Preisen loszuwerden.« Berisha wich betreten Zaks Blick aus, während Brecher fortfuhr. »Er ist einer der ersten Ripper, müssen Sie wissen, und hat schon flüchtige Organträger gejagt, als Sie
noch nicht mal Ihren Namen buchstabieren konnten. Ein Bluthund, wie er im Buche steht – und genauso unterwürfig.«
Der Albaner funkelte Brecher wütend an, während Zak sich an die Geschichten von skrupellosen Chirurgen erinnerte, die den Menschen verpfändete Organe herausgeschnitten hatten, nachdem diese ihren Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachgekommen waren. Dieser Geschäftszweig
wurde in den Fünfzigern etabliert, nach dem die Zusammensetzung der Atmosphäre geändert wurde und die Organe der Menschen eines speziellen Gentyps angegriffen wurden. Da dieser Typ weit verbreitet war, stieg die Nachfrage nach entsprechendem Ersatz und Krediten, um diesen finanzieren zu können. Die Banken und Pfandleiher traten die gefährdeten Hypotheken oder Schuldscheine relativ günstig an diese Ärzte
ab, um den Bestand ihrer offenen Forderungen zu senken. Die Chirurgen wiederum arbeiteten mit Kriminellen zusammen, die die Flüchtigen für sie verfolgten. Einige wenige davon übernahmen diesen Part selbst. Sie jagten die Opfer und schnitten ihnen die Organe in der Gosse heraus, wenn es sein musste, ohne sich weiter um die Sterbenden zu kümmern, um deren Organe später gewinnbringend zu verkaufen. Dieser spezielle Typ von Chirurg wurde Ripper genannt – und Trev Berisha schien einer von den Bastarden zu sein. Anscheinend hatte er aus seiner Tätigkeit über die Jahrzehnte ein lukratives Geschäft gemacht, dessen Verbindungen Levi Brecher nutzte, um die Ziele seiner Auftraggeber umzusetzen.
»Wo glauben Sie, wo all die Freiwilligen für das Harvest-Programm herkommen, Mokai?« Er begann erneut zu lachen. »Ich arbeite erfolgsorientiert, und die Wahl meiner Mittel passe ich für gewöhnlich der
Dringlichkeit des Projektes an. In diesem Fall geht es um viel Kapital, Einfluss und die Aufrechterhaltung von Macht.«
»Sie arbeiten für die Regierung?« Zak starrte Brecher ungläubig an.
»Diese Menschen sind zu einflussreich, als dass ihr Wille ignoriert werden könnte, und daran wird auch ein Untersuchungsausschuss nichts ändern, verstehen Sie? Dieses Programm wird heute Abend offiziell abgesegnet werden und in ein paar Jahren nicht mehr wegzudenken sein. Die Downers werden befriedet, während die Uppers die Kontrolle zurückbekommen. Eine Win-win-Situation für alle Beteiligten.«
»Yara wird nicht aufgeben.«
»Ich weiß«, erwiderte Brecher knapp. »Aber wie ich bereits festgestellt habe, wird dieses Problem demnächst gelöst werden.«
Zak verzichtete auf einen Kommentar und machte einen Satz nach vorne, um Brecher den Kiefer zu zertrümmern, aber bevor er den Bastard erreichen konnte, traf ihn ein wuchtiger Schlag an der Schläfe, der ihn benommen in die Knie gehen ließ. Anschließend registrierte er aus den Augenwinkeln, wie Shenmi ihm einen triumphierenden Blick zuwarf und sich zu Berisha gesellte. Das Miststück musste die ganze Zeit hinter ihm gestanden haben.
Brecher bedachte ihn mit einem tadelnden Blick, bevor er seinen Häschern zunickte. Die Kerle rissen Zak auf die Beine und schleiften ihn durch die Plane in die Wabe. Im Inneren befanden sich medizinische Geräte und eine Vielzahl an entsprechenden Hilfsmitteln, die in der Transplantationspraxis tägliche Anwendung fanden: Narkose-, Desinfektions- und Beruhigungsmittel, Knochensägen, Skalpelle, eine virtuelle OP-Einheit und Cryobehälter. Auf dem modernen Tisch im Zentrum lag
Tilly. Der vermummte Chirurg hatte ihre Arme auf schwenkbaren Lehnen fixiert und sie in einen Dämmerzustand versetzt. Als sie Zak erkannte, riss sie die Augen auf und begann ihn anzuflehen.
»Bitte Chief … helfen Sie mir. Ich … Ich will nicht sterben. Bitte …«
Sie hörte sich schwach und benommen an. Eine Folge der Betäubungsmittel, die ihr der Drecksack im weißen Overall verabreicht haben musste.
»Lassen Sie sie gehen«, bat Zak an Brecher gewandt, aber der Kerl starrte ihn nur kopfschüttelnd an, während er zu Tilly ging und ihr beruhigend über die Stirn strich.
»Ihre Organe wurden bereits verkauft, Mokai.« Er legte einen Schirm mit einer Menge Daten auf das Display der Wabe. »Und die Kunden warten auf ihre rechtmäßig erstandenen Produkte.« Er zeigte auf die leeren Cryobehälter, die auf einer Ablage darauf warteten, befüllt zu werden. »Abgesehen davon hat sich Ms. Tilly dazu bereiterklärt, im Falle ihres Ablebens dem Harvest-Programm zugeführt zu werden, richtig, Schätzchen?«
»Nein … d… das stimmt nich… ich … ich …«
»Aber ich habe die von Ihnen unterschriebenen Unterlagen hier«, erwiderte Brecher grinsend und legte einen weiteren Schirm aufs Display. »Und jetzt ist es an der Zeit, Ihren daraus entstandenen Pflichten nachzukommen, wie es sich für eine anständige Bürgerin Richthofens gehört.«
»Nein …«, sie begann panisch an den Gurten zu zerren, »… bitte, Chief, helfen … helfen Sie mir …«
Brecher stellte den OP-Tisch per Tastendruck fast vertikal auf und und befestigte eine Halterung an Tillys Kopf, die diesen fixierte. Anschließend schob er einen Stutzen durch das Kopfende des Tischs, dessen Gummiring sich an Tillys Hinterkopf schmiegte
.
»Da Sie sich kurzfristig entschlossen haben, dem Harvest-Programm zugeführt zu werden, liegt es zu meiner Freude an mir,
Ihnen den verdammten Chip in den Schädel zu jagen.« Er nahm eine Injektionspistole von einer Ablage, deren Ende exakt in die Vorrichtung am Kopfende des Tisches passte und mit einem lauten Klicken einrastete. »Das Problem bei diesem neuartigen und flexiblen Vorgang ist, dass noch lebende Subjekte die Einführung des Harvest-Chips meist nicht ohne schwere Schäden überstehen. Da nur rudimentäre Funktionen des Gehirns benötigt werden, stellt dieser Umstand aber kein Problem dar, Ms. Tilly.« Er aktivierte die Pistole. »Sie sollten sich jetzt von ihrem Freund verabschieden …«
»Warten Sie!« Zak wollte sich losreißen, aber die Männer schlugen ihm in die Rippen und zwangen ihn, dabei zuzusehen, wie Brecher Tilly den Chip in den Kopf jagte. Ihr Schädel ruckte nach vorne, als ob jemand mit einem Hammer darauf geschlagen hätte. Danach schoss eine Fontäne Blut aus Mund und Nase, die den weißen Einwegoverall verfärbte, während Ihre Lider flatterten und sie zu röcheln begann. Eine Sekunde später irrte ihr leerer Blick durch den Raum, als ob sie hoffte, irgendwo Halt zu finden. Aber da war nichts mehr, das ihr Bewusstsein festhalten konnte.
»Sie hat es tatsächlich überlebt«, stellte Brecher grinsend fest und strich ihr zärtlich über die blutige Wange. »Ihr Pech. Ich hab unserem Anästhesisten heute nur die Hälfte der üblichen Betäubungsmittel zugestanden, es wird also ein harter letzter Ritt werden. Und das hat sie nur Ihnen zu verdanken, Mokai.«
»Was? Nein!« Zak war außer sich. »Du verdammter Bastard! Dafür werde ich dich …«
Der Schlag auf seinen Kopf war dumpf, die Wirkung
vernichtend. Die Umgebung verschwamm vor seinen Augen, weiße Blitze erschwerten ihm die Sicht, als der Chirurg Tillys Overall herunterriss und mit einem Skalpell entlang ihres Brustbeins schnitt. Anschließend setzte er einen Knochenspreizer an und brach ihn mit einem Ruck auf, während ihr Körper zu krampfen begann.
»Sehen Sie genau hin, Mokai!«, erklang Brechers Stimme an Zaks Ohr, nachdem er seinen Kopf in Position gebracht hatte. »Denn dasselbe blüht ihrer verfluchten Schwester, wenn Sie sich nicht zusammenreißen und ein braver Junge sind, verstanden?«
Zak wollte die Augen schließen, aber Levi Brecher zwang ihn, mit anzusehen, wie der Chirurg Tillys Organe entfernte und sie in die Cryobehälter packte, bis nicht mehr viel von ihr übrig war. Mit jedem Stück, das entnommen wurde, sank Zaks Widerstand, und die Sorge um Bianca wuchs ins Unermessliche. Seine Atmung wurde flacher, sein Puls schneller und seine Sicht verschwommener. Die Panik legte sich wie ein Schraubstock um seinen Verstand, der nur noch entkommen und sich in irgendeinem Loch verkriechen wollte, während der Chirurg Tillys Körper bis auf das letzte verwertbare Stück ausweidete.
Brecher wartete, bis der Mann sich schwer atmend die blutbesudelten Handschuhe auszog und die Wabe verließ, um sich eine Zigarette anzuzünden. Danach beugte er sich zu Zak, zwang seinen Kopf zur Seite und flüsterte ihm etwas ins Ohr, das Zak die Tränen in die Augen trieb und ihm das Gefühl vermittelte, sterben zu müssen.